Die «Drögeler» sind zurück. Lange Zeit waren Drogenkonsumierende aus dem Bild vieler Städte verschwunden. Sie waren aber nur nicht mehr sichtbar: Konsumiert wurde meist in Fixerräumen. Das machte die Drogensucht nicht nur unsichtbarer, sondern vor allem auch kontrollierbarer. Die Behörden hatten, so schien es, das Problem im Griff.
In Luzern sitzen hinter einer hässlichen Fussgängerbrücke an diesem sonnigen Tag zehn Drogensüchtige auf Bänkli direkt am Fluss. Sie lachen. Und stopfen wie selbstverständlich eine Pfeife. Rauchen. Sie wirken müde, die Kleider abgewetzt, «hesch mer en Franke?», fragt einer. Eine Familie mit Kinderwagen schiebt sich entspannt an der Gruppe vorbei.
Auf den Bänkli wird Crack geraucht. Kaum dampft es aus der Glaspfeife, weicht der Stress aus den Gesichtern der Süchtigen. Die Droge basiert auf Kokain und wird mit Backpulver gemischt. Sie führt zu heftigen, aber kurzen Räuschen. Kaum zurück aus der Parallelwelt erwacht die Sucht wieder und die Suche nach dem nächsten Kick geht weiter.
Crack ist eine günstige Droge. Das hängt mit einer regelrechten Kokainschwemme zusammen. Seit geraumer Zeit kommt gerade aus Kolumbien viel Koks nach Europa. Es gibt ein Überangebot, das hat Auswirkungen auf die Preise. Gleichzeitig wird das Heroin immer knapper. Die Taliban setzen das Verbot des Anbaus in Afghanistan durch.
Das führt dazu, dass sich der Drogenmarkt rasant und drastisch verändert hat. Die Drogenpolitik dagegen ist immer noch auf den «klassischen» Fixer ausgelegt. Eine kontrollierte Abgabe von Kokain gibt es derzeit nicht. Mehrere Städte sind interessiert. Der Nutzen ist unter Fachleuten allerdings umstritten: Anders als bei einer Heroinabgabe ist es bei Kokain ungleich schwieriger, eine Sättigung zu erreichen. Wer Crack konsumiert, braucht deutlich öfter und mehr Stoff, um seine Sucht zu befriedigen. Auch sind die schädlichen Effekte bei Kokain deutlich höher auf die Konsumenten und Konsumentinnen als bei medizinischem Heroin.
In den Konsumräumen sei Crack derzeit die meistkonsumierte Droge, sagen mehrere Fachleute. Allerdings treibt der Beschaffungsstress die Süchtigen vermehrt in die Öffentlichkeit. Auch beim Augenschein in Luzern sind die Dealer in unmittelbarer Nähe der Konsumenten. Offensichtlich ist es ein Trio: Zwei überwachen die beiden Zugänge zum kleinen Park, einer, wohl jener mit dem Stoff, ist deutlich näher bei den Süchtigen.
Auch beim Bund ist die Crackproblematik mittlerweile angekommen. Zwei Mal wurde nach Bern zu einem «runden Tisch» eingeladen. Dabei wurde konstatiert: «Der Crack-Konsum hat in der Schweiz schnell zugenommen», «es fehlt teilweise an bedarfsgerechten Einrichtungen für suchtkranke Menschen» und «die Substanzen werden vermehrt im öffentlichen Raum konsumiert». Konkretes drang wenig an die Öffentlichkeit. Wichtig sei es, «rasch Kontakt- und Anlaufstellen aufzubauen» und den Betroffenen «psychosoziale Unterstützung» anzubieten.
«Es ist schade, dass es immer eine Krise braucht, bis man Lösungen findet», sagt Philip Bruggmann, Co-Chefarzt des Zentrums für Suchtmedizin Arud, gegenüber watson. Damit meint er unter anderem die kontrollierte Abgabe von Kokain. Hier hätten Fachleute schon früher Studien verlangt, Bewegung in die Sache komme aber erst jetzt.
Auch darum warnen Experten mitten in der Crackwelle bereits vor der nächsten Drogen, die bald in der Schweiz Fuss fassen können: Fentanyl und andere synthetische Opioide. Von einer «einmaligen historischen Möglichkeit, einen Trend auf dem Drogenmarkt zu antizipieren und nicht nur darauf zu reagieren», schreibt der Leiter des Drogeninformationszentrum Zürich (DIZ) Dominique Schori in einer Präsentation. Die Vorreiterrolle übernimmt dabei die Stadt Zürich, die bereits jetzt einen Massnahmenplan ausarbeitet.
Derzeit werden synthetische Opioide in der Schweiz nur sehr selten registriert. In Amerika dagegen sterben jährlich rund 100'000 Menschen an diesen Substanzen. Diese sind bis zu 50 Mal stärker als Heroin und können bei falscher Dosierung rasch zum Tod führen. Eigentlich ist Fentanyl ein Schmerzmittel, das palliativ bei Krebspatienten eingesetzt wird. Der Konsum führt zu versteiften Muskeln und die Abhängigen verrenken sich teils sehr merkwürdig - darum hat Fentanyl den Beinamen «Zombie-Droge» bekommen.
Ob Fentanyl und Co. tatsächlich auch in Europa verbreiter auftreten werde, ist unklar. In Amerika ist der Schmerzmittelkonsum viel weiter verbreitet als hier. Allerdings macht den Expertinnen und Experten vor allem das Wegbrechen des Heroins Bauchweh. Synthetische Opioide sind in der Herstellung deutlich einfacher und günstiger als Heroin.
Sollte es tatsächlich, wie befürchtet, Ende Jahr zu einer «Heroin-Mangellage» kommen, könnte der Massnahmenplan aus Zürich bald schon aus der Schublade geholt werden. Oder wie es in der Präsentation des DIZ heisst: Drogenmärkte sind «krisenresistent» und «anpassungsfähig». So schnell werden die Drögeler wohl nicht aus der Öffentlichkeit verschwinden.
Nicht nur. Auch in der Notfallmedizin. So bekam ich zwei Dosen reingejagt, als mich die Ambulanz mit einem Knochenbruch mitnehmen musste.