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Die Landschaft im Oberaargau inspirierte Cuno Amiet und Jeremias Gotthelf

Die Schönheit des Oberaargaus hat Cuno Amiet und Albert Bitzius inspiriert.
Die Schönheit des Oberaargaus hat Cuno Amiet und Albert Bitzius inspiriert.bild: marcel bieri

Die Landschaft, die einen grossen Maler und einen berühmten Dichter inspiriert hat

Cuno Amiet (1868 bis 1961) gehört zu den grössten helvetischen Malern und Albert Bitzius (1797 bis 1854) hat Weltliteratur geschrieben. Beide sind von der gleichen Landschaft und den gleichen Menschen inspiriert worden. Es ist Zeit, einen Irrtum der Literatur-Weltgeschichte endlich aufzuklären.
30.03.2020, 09:2430.03.2020, 11:10
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Jeder Mensch hat einen mythischen Ort. Wenigstens einen. Das kann ein Marktplatz im Süden sein, über dem in der Mittagshitze die Lift flirrt. Eine Kapelle, in deren kühler Stille der eigene Schritt schier unheimlich hallt. Oder ein Baum, eine Linde, eine Eiche mit einer Bank darunter.

An manchen dieser Orte kann man immer wieder zurückkehren, um Atem zu schöpfen, um sich verzaubern zu lassen. Manche sind nur noch in der Erinnerung erreichbar. Weil sie weit weg liegen und wir dahin nicht mehr zurückkehren können.

Es sind Orte der Inspiration. Wo es möglich ist, Grenzen zu überschreiten und Zugang zu anderen Wirklichkeiten zu finden. Wo er ahnt: «Es git no Sache änedra.»

Ich will nun nicht von meinen magischen Orten erzählen, von denen ich viele gesehen habe. In fernen Landen, in mongolischer Steppe, in der Sibirischen Taiga, an Afrikanischen Wassern, in tibetischen Klöstern und auf fernen Inseln. Denn es gibt einen magischen Ort im Oberaargau. In den Buchsibergen.

Cuno Amiet vom Oberaargau verzaubert

Ich bin per Zufall darauf gekommen. Im «Jahrbuch des Oberaargaus» aus dem Jahre 1960 erzählt der berühmte Maler Cuno Amiet, warum er sich ausgerechnet auf der Oschwand niedergelassen hat.

ARCHIVE --- CUNO AMIET, VOR 150 JAHREN AM 28. MAERZ 1868 IN SOLOTHURN GEBOREN, WAR EIN SCHWEIZER MALER, ZEICHNER, GRAPHIKER UND BILDHAUER UND GILT ALS WEGBEREITER DER MODERNEN MALEREI IN DER SCHWEIZ.  ...
Cuno Amiet war ein bekannter Schweizer Künstler.Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV

«Es war im Jahre 1898. Als Aenni (die jüngste Wirtstochter von Hellsau) und ich heiraten wollten, mussten wir doch wissen, wo uns niederlassen. Eines Tages im Frühjahr, da machte ich mich auf den Weg, um einen schönen Flecken Erde ausfindig zu machen.

Ich reiste nach Zürich, dann an den Vierwaldstättersee, über den Brünig ins Berner Oberland und weiter und weiter. Es war überall schön, sehr schön. So kamen wir nach Lauenen. Im Dorf war das Doktorhaus frei. Es war schön und bemalt.

Die Berglandschaft gefiel mir und auch das Haus. Ich mietete es. Aber es war wie verhext und regnete von nun an tagelang. Das Wildhorn war nie sichtbar, das Spitzhorn ständig in Wolken und durch den Talkessel von Lauenen trieben Wolken und Nebel ohne Ende.

Ich hielt es nicht mehr aus, gab das Haus wieder auf und kehrte deprimiert nach Hellsau zurück. Eines Tages, es war Anfang Juni, da lud mich mein zukünftiger Schwager, Tierarzt Dr. Morgenthaler aus Herzogenbuchsee, ein, mit ihm zu kommen. Er musste nach Wäckerschwend, um Säuli zu putzen (= kastrieren – die Red.).

Zu Fuss ging es über Seeberg, durch die Regenhalde der Oschwand zu. Oben über den Wäldern lag herrlicher Sonnenschein. Da dehnten sich weite Hügel und Wälder, standen allenthalben währschafte Höfe und in der Höhe war der Blick frei weit ins Land hinaus und zu den Bergen. Ich besann mich nicht lange und erklärte: ‹Do möcht i sy! Do wett i blybe!›»

Also: Nicht in Zürich, nicht am Vierwaldstättersee, nicht am Lauenensee, den später die Mundartrocker von Span noch besingen sollten, wollte der grosse Künstler bleiben. Sondern im Oberaargau. In den Buchsibergen. Auf der Oschwand. Und dort hat er dann über 60 Jahre lang gelebt und gearbeitet.

Dieser Bericht faszinierte mich. Der Oberaargau und die Buchsiberge sind mir wohl vertraut. Ich versuchte herauszufinden, wo dieser magische Ort wohl sein mag, der diesen grossen Künstler verzaubert hat. Wo er über das weite Land geschaut hat.

Panorama bis zum Jura

Und zufälligerweise habe ich die Stelle gefunden. Bänz Fiechter, der legendäre Wirt der früheren Kultbeiz «Wäckerschwend» hat den Ort ganz beiläufig einmal erwähnt, als ich in seinem Gasthaus einen Kaffee trank.

Er erzählte mir, seine Mutter habe den Cuno Amiet gut gekannt, der sei oft hier eingekehrt und deshalb kenne er die Stelle. Sie ist ganz einfach zu finden. Von der Wäckerschwend verläuft die geteerte Strasse dem Hang entlang Richtung Oschwand. Dann öffnet sich auf einmal der Blick nach links, durch eine Lücke im Wald hinaus über das weite, hüglige Land bis hinüber zum Jura.

Wahrlich, ein magischer Ort. Ich war dort schon oft achtlos vorbeigefahren. Aber als ich jetzt, im Wissen um die Besonderheit des Platzes, dort anhielt, erfasste mich der Zauber dieses wunderschönen Flecken Heimat.

Ich in den letzten Tagen eines goldenen Herbstes mit dem Fotografen Marcel Bieri an eben diesen Ort gefahren und er hat den Zauber im Bild festgehalten. Im Herbst ist die Magie am intensivsten. Wenn die Luft nach Abschied reicht, die Erde nach Verfall. Aber noch einmal leuchten die Farben auf und doch erahnen wir, dass bald die Zeit der frühen Dunkelheit, der langen Nächte, die Zeit der Geister und Gespenster kommt.

Der magische Ort im Oberaargau im Herbst.
Der magische Ort im Oberaargau im Herbst.bild: marcel bieri

Die Magie dieses Ortes mag auch daran liegen, dass hier die raue Welt des Emmentals (das meine Freundin treffend «Wolfsland» nennt) übergeht in eine offene Landschaft nach Westen. Der Blick geht hinüber bis zum Jura, dort wo schon welsch gesprochen wird, die Sprache, die anders als das Berndeutsch des Oberaargaus keine Knochen hat.

Maler aus Leidenschaft

Es hat mich sehr interessiert, wer denn dieser Cuno Amiet eigentlich war. Nicht das, was ich im Lexikon erfahren konnte. Auf der Spurensuche bin ich auf eine eindrückliche Beschreibung einer persönlichen Begegnung gestossen. Werner Schaub aus Herzogenbuchsee, damals Schulinspektor, hat seinen Besuch beim grossen Meister wundervoll in Worte gefasst. Hier in etwas gekürzter Fassung seine Schilderung:

«Es war an einem strahlenden Augustmorgen, an einem jener Sonnentage, die im Jahre 1960 so selten waren. Erwartungsvoll traten wir durch das schmiedeiserne Gartentor. Vom Wohnhaus her leuchteten Büsche mit ziegelroten Hortensien, während zur Linken Oleander und Rhododendren längs des Bauernhauses das grosse Atelierfenster nach dem gepflegten Kiesweg hin abschirmten, der im Schatten hochragender Bäume zu dem inneren Garten führt.

Das also ist das Heim des Künstlers. Recht feierlich war uns zumute, und andächtig schritten meine Begleiter, die längst den Maler aus Bildern und Büchern kannten, ihn aber noch nie gesehen hatten, durch die Anlagen, glaubten hier ein bekanntes Sujet zu erkennen und dort einen lauschigen Winkel und liessen sich nichts entgehen, damit dieses Erlebnis nicht mehr erlösche.

Aus der Tiefe des Gartens zündeten Blumen in allen Farben, jene Blumen, deren Anmut und Schönheit Cuno Amiet uns in so vielen Bildern geschenkt hat. Dann tat sich hinter der Boccia-Anlage die Breite der Hofstatt auf mit Sommerklee und hochragenden Dolden des Wiesenkerbels, ganz so wie auf jenem prachtvollen Selbstbildnis aus dem Jahre 1936, wo der Maler mit breitrandigem Strohhut, in sportlichem Hemd und Flügelkrawatte voller Schaffenslust vor seiner Staffelei keck mitten in der reifen Sommerwiese sitzt.

ARCHIVE --- CUNO AMIET, VOR 150 JAHREN AM 28. MAERZ 1868 IN SOLOTHURN GEBOREN, WAR EIN SCHWEIZER MALER, ZEICHNER, GRAPHIKER UND BILDHAUER UND GILT ALS WEGBEREITER DER MODERNEN MALEREI IN DER SCHWEIZ.  ...
Cuno Amiet malt in seinem Studio.Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV

Das also war Heimat und Arbeitsstätte des Malers. Vom hochragenden Haus mit dem roten Dach wies ein artiges Dienstmädchen aus Oesterreich uns zum Bauernhaus nebenan, von dessen Türe Frau Thalmann uns bereits herzlichen Willkomm zuwinkte.

Durch eine sonnige Laube traten wir in das Atelier. Herr Amiet kam uns freudig entgegen, als wären wir allesamt längst alte Bekannte. Meine Freunde wunderten sich nicht wenig über diesen herzlichen Empfang, die zwanglose Unterhaltung und die gemütvolle Atmosphäre, welche einen hier von Anfang an umfing.

Da stand er vor uns, der 92-jährige Maler mit freundlichem Lächeln und von einer inneren und äusseren Jugendlichkeit, dass man nicht zu glauben vermöchte, es wären schon neun volle Jahrzehnte durch sein Leben gegangen.

ARCHIVE --- CUNO AMIET, VOR 150 JAHREN AM 28. MAERZ 1868 IN SOLOTHURN GEBOREN, WAR EIN SCHWEIZER MALER, ZEICHNER, GRAPHIKER UND BILDHAUER UND GILT ALS WEGBEREITER DER MODERNEN MALEREI IN DER SCHWEIZ.  ...
Auch im Alter malte Cuno Amiet noch.Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV

Eine Weile hing sein Blick an uns, als wollte er fragen: «Nun, gefällt es Euch hier?» Unsere Augen aber eilten durch die Farbenpracht der vielen Bilder, durchmassen die wohlige Weite des Raumes, ruhten ehrfurchtsvoll auf dem Meister, der all das auf die Leinwand gezaubert, verweilten bei jenem warmen Grün, wurden gefangen von dem flammenden Rot, dem leuchtenden Gelb und konnten nicht satt sich sehen.

Und mitten in diesem Jubel der Farben und Bilder stand bescheiden, leicht vornübergeneigt und tief im Rücken die Arme verschränkt der Maler, der über all diese Farben, Linien und Flächen Gebieter ist und gelassen die neuen Besucher dem ersten Staunen überliess. Ein ahnungsloser Besucher hat die Frage an ihn gerichtet, ob er immer noch male. Prompt erhielt er die Antwort: «Jo, mit grosser Freud. Und de, i cha nüt anders.» Wir wissen, dass er noch täglich mehrere Stunden vor seiner geliebten Staffelei zubringt.

Dass auf den Höhen der Oschwand und der Buchsiberge ein senkrechter und freundlicher, ein gütiger und eigenwilliger Menschenschlag zuhause ist, das hat der Maler schon im Juni 1898 erfahren dürfen und seither oft bestätigt gefunden. Es ist ein schöner Flecken Erde, auf dem er seine Residenz aufgebaut hat. Man muss es gesehen haben.

Dankbar für das schöne Erlebnis dieser Stunde im gastlichen Künstlerheim und erfüllt von der Farbenpracht der vielen Gemälde, verliessen wir das Atelier unseres grossen Mitbürgers und Landsmannes auf der Oschwand und sind stolz darauf, dass. Cuno Amiet in unserer Landschaft Wohnsitz genommen und mit seinem Werk deren Schönheit und Reichtum verkündet hat»

A woman looks at the painting 'Autumnal trees' (1911) by Cuno Amiet during the press preview of the exhibition 'There is only one program: Freedom!' in the art collection of the to ...
Eine Frau besichtigt ein Bild von Cuno Amiet.Bild: AP/AP

Diese Landschaft hat nicht nur Cuno Amiet inspiriert. Der Dichterfürst Albert Bitzius (Jeremias Gotthelf) gilt ja als emmentalischer Volksdichter und Lützelflüh vermarktet emsig den Ruhm, das «Gotthelf-Dorf» zu sein. Dabei gebührt diese Ehre eigentlich Herzogenbuchsee. Albert Bitzius ist durch die gleiche Landschaft, die gleichen Menschen inspiriert worden wie Cuno Amiet.

Immer wieder kommt es vor, dass wir uns bei Herkunft und Vergangenheit von berühmten Persönlichkeiten irren. Der bekannteste Deutsche Kanzler war kein Deutscher. Sondern ein fahnenflüchtiger Österreicher. Der Komponist Ludwig van Beethoven war kein Österreicher, sondern ein Deutscher. Der Autopionier Louis Chevrolet ist kein Amerikaner. Sondern Schweizer.

Auch Jeremias Gotthelf inspirierte sich im Oberaargau

Und die meisten Figuren aus den Erzählungen des Weltdichters Albert Bitzius (Jeremias Gotthelf) sind nicht Emmentaler. Sondern Oberaargauer. Jeremias Gotthelf beschreibt in seinen Geschichten nicht den Alltag der Emmentaler. Sondern jenen der Oberaargauer.

Albert Bitzius sagte, seine Jahre in Herzogenbuchsee (1824 bis 1829) seien die glücklichsten seines Lebens gewesen. Als er schon zehn Jahre in Lützelflüh tätig war, schrieb er in Gedenken an seine Buchsi-Zeit seinem Freund Joseph Burkhalter im Fluhacker: «Ich denke gar oft an dieses Bänkli vor Eurem Haus und möchte gar zu gerne zuweilen darauf sitzen. Ich bin hier in Lützelflüh im ganzen genommen sehr einsam. Obschon ich lieber sitze als vor 15 Jahren und ziemlich daran gewöhnt bin, so liebte ich doch das freie Leben bei Euch noch mehr.»

Im Oberaargau fühlte sich Albert Bitzius ausgesprochen wohl.
Im Oberaargau fühlte sich Albert Bitzius ausgesprochen wohl. bild: marcel bieri

Diese Freiheit hatte der junge Bitzius in Herzogenbuchsee, in den Buchsibergen, im Oberaargau. Ungehemmt von väterlicher Ermahnung und Familiensorgen genoss er die Zeit im Oberaargau in vollen Zügen.

Seine Zeit in Buchsi gehörte zu seinen Lehr- und Wanderjahren und während dieser Lebensspanne bildeten und verfestigten sich die wesentlichen Züge seiner Kämpfernatur. Sein Leben fällt ja in die unruhigste Zeit unserer neueren Geschichte. Kampf und Ringen füllten all seine Jahre und er war eine der streitbarsten und umstrittensten Persönlichkeiten seiner Zeit.

Er war nicht beliebt und Weltgeltung erlangte sein literarischen Schaffens erst lange nach seinem Ableben. Als er am 18. Oktober 1854 starb, brachte die damals wichtigste Zeitung im Bernbiet (der Bund) eine kleine einspaltige Meldung.

Richtig populär ist Gotthelf bei uns erst durch die Radio-Hörspiele von Ernst Balzli und die Filme von Franz Schnyder in den 1950er und 1960er Jahren geworden – also fast ein Jahrhundert nach seinem Tod. Bei Walter Muschg lesen wir 1954: «Dieser Aussenseiter ist fraglos nicht nur der grösste, sondern der einzige Erzähler ersten Ranges in der deutschen Literatur, der einzige, der sich mit Dickens, Balzac oder Dostojewskij vergleichen lässt. Trotzdem ist er vielen hervorragenden Kennern unbekannt.»

Jeremias Gotthelf
So sah Jeremias Gotthelf aus.bild: Burgerbibliothek Bern

Albert Bitzius war ein wortgewaltiger Kritiker, ein unentwegter Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit, und was er einmal als Recht ansah, da blieb er unbeirrbar und hartköpfig dabei und hieb in Wort und Schrift rücksichtslos drein, ohne an seine eigene Gefährdung und Karriere zu denken.

Eine unruhige Zeit

Wahrscheinlich wirkte er auf die Zeitgenossen wie eine gottesfürchtige Mischung als Niklaus Meienberg, Frank A. Meyer und Roger Köppel. Es war eine Zeit der heftigen politischen Auseinandersetzungen. Die «gnädigen Herren», die Bern jahrhundertelang regiert hatten und nur Gott verpflichtet waren, mussten einer jungen, sich erst herausbildenden Demokratie Platz machen.

Die Richtungskämpfe wurden unerbittlich geführt, radikal wurde um Fortschritt und Bewahrung des Alten gerungen. Nur so konnte 1848 der Bundesstaat Schweiz entstehen, wie wir ihn heute kennen.

Mit halbem Einsatz und Kompromissen wäre dies gegen so viele Widerstände nicht möglich gewesen, und ein teilweise wüstes, gewalttätiges Treiben endete erst mit dem Sonderbundskrieg im Jahre 1847 und der Gründung unseres Bundesstaates 1948. Mittendrin in dieser aufgewühlten Zeit finden wir die Kraftnatur Jeremias Gotthelf in Herzogenbuchsee.

Lange in der Kirchgemeinde beschäftigt

Er kommt 1829 als Vikar (Pfarrhelfer) zum kränklichen Ortspfarrer Bernhard Hemmann (er wirkte von 1811 bis 1847) nach Herzogenbuchsee. Dabei hat er bei allen Amtsgeschäften weitgehend freie Hand und schaltet und waltet fast durchwegs selbständig.

Die Kirchgemeinde zählte damals in den noch heute dazu gehörenden Gemeinde bereits über 5000 Einwohner. Da gab es bei der Weitläufigkeit dieses Gebietes für den jungen Seelsorger reichlich Arbeit. Gerade diese Arbeit in der weiten Landschaft des Oberaargaus ist dem jungen Bitzius hoch willkommen. Steht er doch in unmittelbarem Kontakt mit Land und Leuten und so manche seiner späteren Romanfiguren stammen aus dieser Zeit.

Über 80 Angehörige von mehreren Feuerwehren waren am Dienstagmorgen ausgerückt, um den Brand im Turm der reformierten Kirche in Herzogenbuchsee BE zu löschen.
Vor wenigen Monaten brannte die Kirche von Herzogenbuchsee.Bild: KEYSTONE

Am 23. Mai 1824 hält der junge Vikar in Herzogenbuchsee seine Antrittspredigt. Wir zitieren daraus. «Euch zu Jesus zu führen, soll mein Bestreben sein, denn seine Diener sind wir und sollen sein Wort verkündigen, bis dass er kommt und seine Rechte verteidigen wird. Dies werde ich auch tun, niemand fürchtend als Gott, gleichgültig, ob es wohl oder übel geht, die Wahrheit an geheiligter Stätte offenbaren ohne Ansehen der Person, mutig dem Unrecht die Stirn bieten, die Unschuld schützen, der Gewalt entgegentreten, dem Schwachen ein Helfer sein.»

Er redet nicht nur so, er handelt auch so – sein ganzes Leben lang. Und da ist Krach programmiert. Meistens sind seine Predigten, so wird überliefert, am Samstag noch nicht beisammen. Dann steht er am Sonntag früh auf und macht «einen Kehr» über Niederönz, Oberönz und Bettenhausen und kehrt mit der Predigt im Kopf zurück.

Kritik zu äussern gewagt

Interessant sind die sogenannten Visitationsberichte aus dieser Zeit. Der Pfarrer hatte aufgrund der bernischen Kirchenordnung jedes Jahr der bernischen Regierung einen Bericht über die Zustände in seiner Gemeinde zu liefern. Alle fünf Berichte des Vikars sind erhalten geblieben.

Der Geistliche hatte nach einem vorgegebenen Schema über den sittlich-religiösen Stand der Gemeinde, über die Schulen, die Kirchenfreundlichkeit und den Lebenswandel der Beamten zu berichten. Was er damals über Herzogenbuchsee zu melden hatte, ist doch recht interessant. Wir zitieren.

«Gottesdienstlichkeit und Sitten. Eine bedeutende Anzahl von Gemeindemitgliedern kommt gar nicht zur Kirche. Von den anderen kommen die einen nur, wenn sie ein neues Kleid erhalten, andere, wenn besondere Verrichtungen sie sowieso in den Hauptort treiben, die dritten, weil es der Brauch ist, dem lieben Gott einige Male im Jahre die Ehre eines Besuches zu gönnen, und um die Bekanntschaft, die vielleicht in Zeiten der Not einmal nützlich werden könnte, nicht ganz erkalten zu lassen, und der kleinste Teil mag aus religiösem Bedürfnis zur Kirche kommen. In den Sitten mag hier wohl keine besondere Eigentümlichkeit gefunden werden, als dass sich fast alle Jahre einer und vorzüglich aus Herzogenbuchsee zu Tode trinkt.»

Auf die Buchsi-Jahre gehen auch die ersten literarischen Versuche zurück, die man als Manuskripte im Nachlass gefunden hat. Freilich dachte Gotthelf damals bei weitem nicht daran, ein Geschichtenerzähler zu werden, und er publizierte noch nicht.

Es liegt in seiner streitbaren Natur, dass er schon während seiner Zeit als Pfarrhelfer in Buchsi hier und dort dermassen zusammenstiess, dass Scherben zurückblieben. Zum Verhängnis wird ihm der Streit mit Oberamtmann Rudolf Emanuel von Effinger, der von 1821 bis 1831 als Vertreter der bernischen Regierung im Schloss Wangen residierte.

Nach Streit zum Weggang gezwungen

Die Auseinandersetzung führte dazu, dass die Regierung diesen Streit nicht mehr länger duldete und Albert Bitzius am 3. Mai 1829 aus Herzogenbuchsee abberief. Der Streit drehte sich um die Art und Weise, wie die Schulen geführt werden sollten.

Die Entlassung traf Gotthelf wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Er schrieb dazu in Briefen unter anderem. «Es ist lächerlich, wie die Herren in Trab sich setzen, wenn ein armer Teufel zu hudeln ist. Wo ich Freude hatte an meiner Arbeit, muss ich weg und auf eine Art, welche das Schmerzliche des Scheidens noch vermehrt.»

So muss er fort, für kurze Zeit nach Bern zum Dienst in der Heiliggeistkirche und schliesslich für den Rest seines Lebens nach Lützelflüh. In seinem Herzen und seiner Seele nimmt er die Erinnerungen und Bilder aus dem Oberaargau, aus Herzogenbuchsee, aus den Buchsibergen mit, die er dann im Emmental zu Werken der Weltliteratur verarbeiten wird.

Der Westzugang des Gotthelfzentrums, dem 1655 erbauten Pfarrhaus, am Montag, 4. Juli 2016, in Luetzelflueh. Im Pfarrhaus wohnte und wirkte Jeremias Gotthelf von 1831 bis zu seinem Tod im Jahre 1854. I ...
Im Pfarrhaus von Lützelflüh verbrachte Jeremias Gotthelf über 20 Jahre.Bild: KEYSTONE

Die grossen Gestalten seiner Erzählungen sind Oberaargauer. Nicht Emmentaler. Wie oft wird er später wehenden Herzens zurückdenken an die «Patriarchalischen Höfe» der Landschaft rund um Herzogenbuchsee, besonders auch derer der Buchsiberge mit ihrer «sprichwörtlichen Gastfreundschaft» und den leutseligen Menschen, der Wanderungen durch dunkle Wälder zu den hellen Seen (die es im Emmental nicht gibt) und all der Freunde, die er da zurückgelassen hat.

Und ob er später will oder nicht, so geben bei der Niederschrift seiner Werke die weiten Landschaften «in den Dörfern draussen» den äusseren Rahmen. So tragen seine Erzählungen «Der Besuch», «Die Käserei in der Vehfreude», «Oberamtmann und Amtsrichter» deutlich das Gesicht des Oberaargaus.

Im «Geldstag» und im «Schulmeister» sind Figuren aus dem Oberaargau eingewoben. Angeblich sollen das «Erdbeeri-Mareili» und das «Dürluft-Eisi» tatsächlich gelebt haben, jenes im Mutzbachgraben-Hüsli, dieses im Weiler Schalun oberhalb von Thörigen, und die dortige Käserei soll als Vorbild für die «Käserei in der Vehfreude» gedient haben. Andere sagen, es sei die Käserei von Wangen gewesen.

Auch mehrere Erzählungen spielen im Oberaargau. Gemäss der Berner Volkszeitung vom 29. Oktober 1904 sind es der «Schulmeister», «Anne Böbi Jowäger», «Uli der Knecht» und „«Uli der Pächter». Das Blatt kommt zur Schlussfolgerung: «…dass Jeremias Gotthelf eigentlich ebensowohl als oberaargauischer wie als emmentalischer Volksdichter gelten muss.» Na also!

Auch ein begnadeter Jäger

Albert Bitzius ist während seiner Zeit in Herzogenbuchsee nicht nur engagierter Vikar. Er schätzt auch weltliche Vergnügen, namentlich die Jagd. Darüber gibt es eine Anekdote. Bitzius ist mit einigen Bauern in der Gegend des Aeschisees auf Jagd. Schussbereit hält er die Flinte in der Hand, als die Hunde abbrechen und die Fährte verlieren. Da ein schöner Tag ist, geht der Vikar ein paar Minuten zur Erfrischung zum nahen See hinüber und lehnt die Flinte unterdessen an einen Baum.

Die Jagdkollegen nützte die Gelegenheit zu einem Streich. Sie schrauben den Feuerstein weg und heften ein Stück Käserinde an seine Stelle. Da setzt das Gekläff der Hunde wieder ein, der Vikar eilt herbei und bald ist er am Waldrand wieder in Stellung. Er merkt aber, dass an seiner Flinte etwas gegangen ist, entfernt unbeachtet die Käserinde und schraubt einen Ersatzstein auf.

Da bricht auch schon der Hase aus dem Dickicht. Der Schuss kracht und Bitzius stösst fröhlich ins Horn. Bevor er zu den anderen Jägern geht, setzt er rasch die Käserinde wieder auf. Diese sehen, dass sie immer noch aufgesteckt ist und schauen einander verdutzt an.

«Ei, Bitzi hat einen Käserauft als Zündstein aufgesetzt!» hänseln sie ihn, immer noch nicht begreifend, wie der hatte schiessen können. Darauf hat der Vikar gewartet und entgegnet: «Jawohl, meine Herren, das ist ein Rauft, von dem harten Käse, den die Bauern ihren Knechten vorsetzen, und damit kann man so gut Feuer schlagen wie auf dem besten Feuerstein.»

Pfarrer, Kämpfer um soziale Gerechtigkeit, um die Verbesserung der Schulen, Rebell, Jäger. Um das Bild der Buchsi-Zeit des weltberühmten Dichters abzurunden, müssen wir auch noch von der so jung verstorbenen Pfarrerstochter Marie Sophie Hemmann berichten. Sie war die Tochter von Gotthelfs Chef. Sie galt als sehr empfindsam und war von zarter, oft kränklicher Natur.

Als der junge Bitzius ins Pfarrhaus kam, soll sich das Mädchen gar bald in den wackeren, rebellischen Vikar verliebt haben, ohne dass dieser, so wird beteuert, diese Liebe erwidert habe. Die Tochter litt so sehr darunter, dass sie zunehmend kränklicher wurde und 1822 starb.

Es war die Zeit, als Gotthelf sich mit Henriette Zeender verlobte. Das Bedauern über den frühen Tod der liebenswürdigen Pfarrerstochter war allgemein. Die Pfarrersfamilie und mit ihr viele andere hielten Bitzius lange Zeit für nicht ganz unschuldig am frühen Tod des Mädchens.

Literaturhinweis: «Jeremias Gotthelf in Herzogenbuchsee – eine Darstellung seiner Vikarzeit in Herzogenbuchsee» von Werner Staub und Rolf Nydegger. Diverse Ausgaben des «Jahrbuch des Oberaargaus»

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