Herr Schoch, die Schweiz liefert der Ukraine keine Waffen, andererseits hat sich Bern bereits im Februar 2022 den Sanktionen der EU gegen Russland angeschlossen und sich durch die Bürgenstock-Konferenz in Moskau unbeliebt gemacht. Heisst neutral sein heutzutage vor allem, sich widersprüchlich zu verhalten?
Bruno Schoch: Ob es das grundsätzlich heisst, weiss ich nicht. Aber die Schweiz verhält sich in der Tat widersprüchlich. Schon im Kalten Krieg hatte sie eine schwierige Balance zu halten: Man hielt an der Neutralität fest, war aber de facto Teil des Westens. Im Zweiten Weltkrieg war die Schweiz neutral, hat aber den Achsenmächten sehr viel mehr geliefert als den Alliierten. Man sagte damals scherzhaft, «wir arbeiten sechs Tage für die Achse und am Sonntag beten wir für die Alliierten». Die hergebrachte Neutralitätspolitik ist spätestens seit der Wende von 1989/90 kein plausibles sicherheitspolitisches Konzept mehr, denn seither ist die Schweiz von Demokratien umgeben.
Warum hat die Schweiz an der Neutralität festgehalten?
Aus innenpolitischen Überlegungen: Die Neutralität ist ausgesprochen populär. Das hat mit der glücklich verlaufenen Geschichte der Schweiz zu tun. Sie war in beiden Weltkriegen nicht unmittelbar involviert, aber es geht noch weiter zurück, bis in den Dreissigjährigen Krieg, von dem sie – von Graubünden abgesehen – ebenfalls nicht berührt war. In der Nachkriegszeit hat man die Neutralität mythologisiert und idealisiert. Der Historiker Edgar Bonjour kritisierte, sie sei «zu einem nationalen Mythos von fast religiöser Weihe» überhöht worden. Der Diplomat Jakob Kellenberger sagte, aus einem sicherheitspolitischen Konzept sei ein blosses «Identitäts- und Wohlfühlkonzept» geworden.
Hat die Neutralität eine Bedeutung für den Zusammenhalt der Willensnation Schweiz? Anders als ihre Nachbarn schöpft diese ihre Identität nicht aus einer gemeinsamen Sprache und Kultur, sondern womöglich auch aus ihren politischen Besonderheiten.
Ich weiss nicht, ob es die Neutralität braucht, um der Schweiz eine Identität zu geben, aber die Neutralität hatte jedenfalls oft die Funktion, das Land zusammenzuhalten – deutsche und welsche, kleine und grosse, katholische und protestantische Kantone. Das war vor allem angesichts des deutsch-französischen Gegensatzes wichtig, etwa im Ersten Weltkrieg. Anders als im Zweiten Weltkrieg stand die Schweiz damals vor einer ungeheuren Zerreissprobe.
Schweden und Finnland sind mittlerweile der Nato beigetreten, befinden sich durch ihre Nähe zu Russland aber auch in einer anderen Lage. Was bedeutet der Nato-Beitritt dieser Länder für die Schweiz?
Man kann diese Länder nicht mit der Schweiz gleichsetzen, aber ich finde, zumindest eine breite Diskussion hätte ihr Beitritt auch bei uns auslösen müssen. Sicherheitspolitisch ist die Schweiz ein Trittbrettfahrer der Nato. Sie profitiert, ohne dafür zu bezahlen. Aber das löst ja nicht die Frage, wie viel Sicherheit der Alleingang heutzutage noch verbürgt. Ich erinnere daran, dass Donald Trump als Präsident der USA den Artikel 5 der Nato in Frage gestellt hat, der die Mitgliedsstaaten im Angriffsfall zu gegenseitigem Beistand verpflichtet. Da stellt sich die Frage, was ein Ausscheren der USA erst für den Trittbrettfahrer bedeuten würde.
Heisst das, wer sich aus allem heraushält, lebt nicht unbedingt sicherer? Der Journalist Roger de Weck sagte kürzlich, wenn Russland eine Atombombe über Europa abwerfen wolle, könnte es dies zunächst über dem Nicht-Nato-Mitglied Schweiz tun – in der Hoffnung, dass dann kein Gegenschlag der Nato erfolgen würde.
Der Angriffskrieg Russlands zwingt dazu, auch über die nukleare Abschreckung nachzudenken. In den Reden Putins und Medwedews heisst es immer häufiger, Russland führe nicht nur Krieg gegen die angeblich faschistische Ukraine, sondern auch gegen den kollektiven Westen, der die Ukraine instrumentalisiere, um Russland zu zerstören. Daher verstärkt die Nato die atomare Abschreckung, und da die Schweiz kein Mitglied ist, ist sie logischerweise auch nicht Teil dieser Abschreckung. Das macht sie verwundbar, und das scheint mir der rationale Kern von de Wecks Spekulation zu sein.
Die Guten Dienste werden immer wieder als Argument für die Neutralität herangezogen. Muss es nicht einen neutralen Ort geben, wo sich alle treffen können?
Die Schweiz hat in ihrer Geschichte mehrfach Gute Dienste geleistet. Nur könnte sie dies auch ohne neutral zu sein. Zudem gibt es mittlerweile auch andere Orte, wo sich Feinde treffen können, an erster Stelle natürlich die UNO, die es noch nicht gab, als die Schweizer Neutralität erfunden wurde. Auch der Vatikan könnte vermitteln, so wie er es 1962 während der Kuba-Krise getan hat. Und das Getreideabkommen zwischen Russland und der Ukraine hat bekanntlich die Türkei vermittelt, ein Nato-Mitgliedsland.
Hat sich die Neutralität für die Schweiz wirtschaftlich gelohnt?
Das kann ich nicht beurteilen. Aber es ist doch klar, dass die ökonomische Verflechtung der Schweiz mit der EU und überhaupt den Ländern des Westens sehr dicht ist. Über das Verhalten der Schweiz im Zweiten Weltkrieg kann man lange diskutieren. Sie war Dienstleisterin der Achsenmächte, etwa bei Waffenlieferungen oder wenn es um Transporte zwischen Deutschland und Italien ging. Das lohnte sich für die Schweiz in der Tat. Wie viele Konzessionen nötig waren, um die Unabhängigkeit zu bewahren, ist sehr schwer zu sagen. Ich bin froh, dass ich damals nicht entscheiden musste.
Eine Gruppe um den Berner Juristen Thomas Cottier will eine «Neutralität im 21. Jahrhundert» definieren; Sie haben den Vorstoss begrüsst. Cottier will, dass sich die Schweiz in Friedenszeiten gemeinsam mit der Nato und der EU vorbereitet, damit sie sich im Fall einer Aggression gemeinsam mit diesen verteidigen kann. Wäre es da nicht ehrlicher, den Begriff «Neutralität» aufzugeben?
Ich finde es gut, dass überhaupt mal wieder ein Anstoss kommt, über die Neutralität zu diskutieren. 1992 gab es eine vom Bundesrat eingerichtete Kommission, die sich mit dem Sinn der Neutralität beschäftigte. Diese hielt etwa fest, man müsse Selbstbestimmung auch als Form der Mitwirkung, nicht zuletzt mit der EU, sehen. Die Welt sei so verflochten, dass das rein nationale Konzept, das der Neutralitätspolitik zugrunde liegt, überholt sei.
Liefe Cottiers Plan nicht darauf hinaus, an einem Begriff festzuhalten, von dem man selbst weiss, dass er keine Bedeutung mehr hat?
Ja. Aber die Politik wird hier von der SVP vor sich hergetrieben, sodass sich die anderen nicht so recht trauen, diese Debatte zu führen. Auch die Perspektive ist ein Problem: Die Schweizer Debatte geht immer vom eigenen Bauchnabel aus. Dabei wird übersehen, dass sich Europa fundamental verändert hat. Wir befinden uns in einem sich integrierenden Europa; dass unsere Nachbarländer gegeneinander Krieg führen könnten, ist undenkbar.
Befürworter der Neutralität argumentieren, wer als Kleinstaat einem Bündnis angehöre, müsse sich unterordnen. In der EU entschieden letztlich Brüssel, Berlin und Paris.
Aber die EU besteht doch aus einer Mehrheit von Kleinstaaten! Die haben eine ganze Menge zu sagen, so wie die kleinen Kantone in der Schweiz, die aufgrund des Ständemehrs ein Übergewicht haben. Ausserdem müsste die Schweiz gerade als Kleinstaat ein Interesse daran haben, dass das Völkerrecht nicht ausgehöhlt wird. Der Krieg, den Russland führt, bedeutet eine Rückkehr zum Konzept der Einflusszonen, wie wir es aus dem 19. Jahrhundert kennen, als die Grossmächte schalten und walten konnten, wie sie wollten. Das Völkerrecht kann nur verteidigen, wer mitmacht.
Wie sehen Sie die Bürgenstock-Konferenz? Hat es Sinn, über die Lösung eines Konflikts zu verhandeln, wenn eine der beiden Kriegsparteien gar nicht anwesend ist?
Es war nicht die klassische Vermittlung, bei der man sich mit den Konfliktparteien zusammensetzt. Aber ich glaube, es war ein richtiger Versuch, möglichst viele Staaten zu animieren, die Ukraine zu unterstützen. Ein Problem ist ja, dass Putin mit einem gewissen Recht darauf verweisen kann, dass die bevölkerungsreichsten Länder in der UNO nicht für eine Verurteilung des russischen Vorgehens gestimmt haben. Aus politischen, wirtschaftlichen oder ideologischen Gründen wollten sie sich nicht auf die Seite des Westens stellen, dabei müssten auch sie ein Interesse am Bestehen der Staatenordnung haben.
Sie leben seit langem in Deutschland. Wie sieht man die Neutralität dort? Mir scheint, dass zumindest manche Deutsche gern in einer grossen Schweiz leben und sich aus allem heraushalten würden.
Ich habe keine Umfragedaten zur Hand, die dies bestätigen würden, aber die Vorstellung, es wäre gut, sich nicht einzumischen, scheint mir in der Tat populär zu sein. Aber Deutschland ist aufgrund seiner Grösse in einer anderen Situation, und wenn man einmal vom linken und rechten Rand absieht, sieht das auch die politische Klasse so. Die alte Bundesrepublik vor 1989 hatte noch eine andere Rolle, sie war ein bedrohter Frontstaat. Die ambivalente Haltung, die man heute sieht, kommt auch in der SPD zum Ausdruck: Auf der einen Seite ein Kanzler, der von einer Zeitenwende redet, auf der anderen Seite Stimmen, die am liebsten sofort mit Moskau verhandeln würden.
Würden Sie den Eindruck teilen, dass Deutschland seine Rolle auch mehr als drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung noch nicht gefunden hat?
Das ist wohl so, nur würde ich es weniger vorwurfsvoll formulieren. Die Deutschen haben gelernt, dass die beiden Weltkriege fatal waren. Daher wollte die alte Bundesrepublik kein Hegemon sein. Das ging damals auch: Gemessen an seiner Bevölkerung und Wirtschaftskraft war Westdeutschland etwa gleich gross wie Frankreich, Italien und Grossbritannien. Nun ist die Bundesrepublik deutlich grösser und muss eine Rolle annehmen, auf die sie nicht unbedingt vorbereitet ist. So eine Zeitenwende ist leicht formuliert; daraus praktische Konsequenzen zu ziehen, ist eine gigantische Aufgabe. Aber es ist ja nicht so, dass gar nichts geschieht: Deutschland ist der grösste Waffenlieferant der Ukraine, deutlich vor der Atommacht Frankreich.
Die Schweiz liefert der Ukraine keine Waffen. Macht sie sich damit schuldig?
Es hätte die Möglichkeit gegeben, zumindest die Weitergabe von Waffen zuzulassen, die man bereits exportiert hat. Sich hinter Exportgesetzen zu verschanzen, ist moralisch verwerflich. Aber auch das ist populär. 1956, beim Ungarn-Aufstand, war die Stimmung anders. Damals verteilte ich als Primarschüler Broschüren über die bösen Russen und die guten Ungarn. Sicher spielte auch der verbreitete Antikommunismus eine Rolle, aber es gab einen eindeutigen Reflex: gegen die Grossmacht, für den Angegriffenen. Diesen Reflex vermisse ich heute. (aargauerzeitung.ch)