Herr Wermuth, wieso bekämpft ausgerechnet die Linke eine Vorlage, die explizit Verbesserungen für die Frauen vorsieht?
Cédric Wermuth: Das Kernelement dieser Vorlage ist die Senkung des Umwandlungssatzes, der die Rentenhöhe bestimmt. Wenn man diesen Satz senkt, verringert sich die gesetzlich garantierte Rente. Die Bürgerlichen haben in der Beratung dafür gesorgt, dass diese Rentenverluste zu wenig kompensiert werden. Zudem: Die Rentenunterschiede zwischen Männern und Frauen werden hauptsächlich durch die unterschiedlichen Einkommen verursacht. Die Frauen leisten auch heute noch bedeutend mehr unbezahlte Care-Arbeit. Das wird auch in dieser BVG-Vorlage nicht berücksichtigt. Wir haben im Parlament entsprechende Anträge gestellt, diese wurden von der bürgerlichen Mehrheit jedoch abgelehnt.
Dennoch: Mit der BVG-Reform könnten Zehntausende von Frauen in der Schweiz Pensionskassenkapital aufbauen.
Cédric Wermuth: Gerade Personen mit tiefen Löhnen, das sind oft Frauen, werden bei einer Annahme der Reform massiv mehr Lohnbeiträge zahlen müssen. Sie haben während des Erwerbslebens am Ende des Monats also deutlich weniger Geld zur Verfügung. Was sie dafür an minimaler Rente dazugewinnen, wird ihnen bei den Ergänzungsleistungen wieder gestrichen. Für die Betroffenen ist es ein Nullsummenspiel. Kommt die BVG-Reform durch, wird die Gleichstellungspolitik in der 2. Säule regelrecht blockiert. Die Bürgerlichen werden dann argumentieren, man habe jetzt ja etwas für die Frauen getan.
Martina Bircher: Das sehe ich komplett anders. Der angesprochene Lohnunterschied zwischen den Geschlechtern ist darauf zurückzuführen, dass Frauen viel öfter Teilzeit arbeiten. Dieses Problem packt die BVG-Reform eben genau an. Zum einen wird die Lohn-Eintrittsschwelle von 22’050 Franken auf 19’845 Franken herabgesetzt, zum anderen können mehrere Teilzeitlöhne zusammengezählt werden. Dies führt dazu, dass sehr viele Menschen neu Kapital in der Pensionskasse ansparen können und im Alter eine bessere Rente haben.
Cédric Wermuth: Das mit den Teilzeitlöhnen ist heute bereits möglich, siehe Art. 46 BVG. Daran ändert die Reform gar nichts.
Der Frauendachverband Alliance F unterstützt die Vorlage. Wie kommt das bei Ihnen an?
Cédric Wermuth: Es erstaunt mich, dass der Frauendachverband eine Vorlage mitträgt, die zu Rentenkürzungen führt und das Versprechen gegenüber den Frauen, ihre Rentensituation endlich zu verbessern, nicht hält. Natürlich gibt es Punkte in dieser Reform, die unbestritten sind. Fakt ist aber: Im Kern führt diese Vorlage aufgrund des reduzierten Umwandlungssatzes zu Renteneinbussen.
Gemäss einer Studie im Auftrag von Alliance F müssen zwar 67’000 Frauen mit tieferen Renten rechnen. Bei 275’000 Frauen steigen die Renten jedoch. Ist das nicht ein Schritt in die richtige Richtung?
Cédric Wermuth: Diese Studie ist unter Experten umstritten. Sie berücksichtigt den angesprochenen Effekt mit den höheren Lohnbeiträgen und den im Alter wegfallenden Ergänzungsleistungen nicht. Generell bleibt bei dieser Reform sehr vieles unklar. Das Parlament hat nachlässig gearbeitet, das sagen auch die bürgerlichen Pensionskassenexperten. Diese Arglosigkeit im Umgang mit den Renten der Menschen macht wütend. Was die Zahlen des Bundesamtes für Sozialversicherungen zeigen: Gewissen Personen drohen jährliche Renteneinbussen von bis zu 3200 Franken. Dieser Preis ist viel zu hoch.
Martina Bircher: Das Beispiel mit den 3200 Franken Rentenverlust ist ein Worst-Case-Szenario, diese Zahlen stehen in der Kritik, weil sie so nicht stimmen. Die Linken suggerieren, dass eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung eine Renteneinbusse hinnehmen muss. Das ist falsch. Es sind lediglich 15 Prozent der Versicherten im Obligatorium und damit betroffen, diese Personen erhalten Ausgleichszahlungen. Die BVG-Reform ist ein guter Kompromiss.
Können Sie das ausführen?
Martina Bircher: Die Vorlage stärkt die Frauen, stärkt ihre Unabhängigkeit gegenüber den Männern. Hinzu kommt, dass Frauen mit der Reform nicht nur im Alter besser versichert sind, sondern auch im Falle einer Invalidität. Auch Frauen der SP befürworten unsere Reform übrigens, die Linke hat in der Sozial- und Gesundheitskommission konstruktiv mitgearbeitet. Es erstaunt mich daher schon sehr, dass von linker Seite nun derart Opposition betrieben wird. In Wahrheit geht es darum, die zweite Säule einmal mehr zu schwächen. Bei einem Nein haben wir den Status quo, und das ist der schlechteste aller Fälle.
Cédric Wermuth: Die SVP entdeckt zum ersten Mal die Gleichstellungspolitik, das ist mit Verlaub etwas unehrlich. Bei anderen Geschäften, zum Beispiel bei der Kita-Initiative oder der Individualbesteuerung, welche den Frauen erlauben würden, ihr Erwerbsmodell frei zu wählen, seid ihr massiv dagegen.
Martina Bircher: Du kennst meine Meinung nicht zur Individualbesteuerung. Bezüglich Kitas: Ich konnte in meiner Gemeinde als Sozialvorsteherin für Kitas sehr viel erreichen, während zuvor gar nichts geschah. Das ist aber genau der Punkt: Kitas sollen auf Gemeindeebene organisiert werden, das hat rein gar nichts mit der BVG-Reform zu tun.
Cédric Wermuth: Doch natürlich. Wenn ihr beansprucht, euch mit dieser Reform gleichstellungspolitisch zu engagieren, gleichzeitig aber alle entsprechenden Vorlagen in den vergangenen Jahren bekämpft habt, sollte das dem Stimmvolk schon bewusst sein. Ihr argumentiert nun mit der Gleichstellung, weil alle restlichen Argumente wegfallen.
Welche restlichen Argumente meinen Sie?
Cédric Wermuth: Die Reform wurde lanciert, als man der Überzeugung war, man befinde sich langfristig in einer Tief- oder sogar Negativzinsphase. Diese ist jedoch vorbei. Die Pensionskassen stehen viel besser da, als noch vor ein paar Jahren, der Deckungsgrad ist gestiegen, die Reserven grösser. Die Oberaufsicht warnt sogar davor, dass man bei den jetzigen Rentnerinnen und Rentnern wegen zu düsterer Prognosen zu viele Leistungen gekürzt hat. Die Umverteilung von Jung zu Alt, wie immer behauptet wird, ist heute umgekehrt. Am Ende profitiert nur die Finanzindustrie von dieser Reform. Sie verwaltet mehr Geld und kann mehr Kommissionen kassieren.
Die Umverteilung ist gemäss Experten nur beim Überobligatorium nicht mehr da. Bei Pensionskassen, die nahe am oder im Obligatorium operieren, findet nach wie vor Umverteilung statt. Das spricht für einen tieferen Umwandlungssatz.
Cédric Wermuth: Den Pensionskassen geht es blendend. Durch die Senkung des Umwandlungssatzes wird lediglich das Risiko verschoben – von der Finanzindustrie zu den Versicherten. Unsere Pensionskassen sind zu einem reinen Selbstbedienungsladen für die Finanzindustrie geworden. Diese macht mit unseren Pensionsgeldern inzwischen bombastische Gewinne, gemäss Schätzungen bis zu 20 Milliarden Franken pro Jahr. Bei dieser Abzocke sollte man genauer hinschauen. Und selbst wenn es den Pensionskassen schlecht gehen würde, was es nicht tut, wäre es völlig falsch, durch einen reduzierten Umwandlungssatz bei den Versicherten zu sparen.
Dann kann also alles so bleiben, wie es ist?
Cédric Wermuth: Dass es früher oder später eine Reform braucht, bestreiten wir nicht. Ich möchte aber gerne daran erinnern, dass es bis vor eineinhalb Jahren einen Kompromiss zwischen den Sozialpartnern gegeben hat. Die Gewerkschaften und die Linken haben den Unternehmern die Hand gereicht. Das Ziel war, das Rentenniveau der Menschen zu sichern. Dieser Kompromiss wurde vom Parlament verworfen. Jetzt haben die Bürgerlichen eine einseitige Vorlage und müssen diese verteidigen. Ich verstehe, dass dies schwierig ist.
Martina Bircher: Die Linke wirft auch hier alles in einen Topf. Im Überobligatorium haben wir tatsächlich weniger Herausforderungen, viele Kassen haben den Umwandlungssatz aufgrund der steigenden Lebenserwartung längst korrigiert. 15 Prozent der Bevölkerung befindet sich jedoch im Obligatorium, dort existieren reale Probleme. Wenn man das Verhältnis zwischen Überobligatorium und Obligatorium differenziert betrachtet, nicht wie die Linken einfach Pauschalaussagen macht und auf populistische Art und Weise der Finanzindustrie Abzocke vorwirft, könnten wir konstruktiv über die Herausforderungen der Pensionskassen diskutieren.
Sie spielen auf den Umwandlungssatz an.
Martina Bircher: Fakt ist: Das heutige Rentenversprechen mit einem Umwandlungssatz von 6,8 Prozent reicht bei der steigenden Lebenserwartung nicht. Die Senkung auf 6 Prozent, welche die Reform anstrebt, wird mit sehr grosszügigen Zuschüssen für die am meisten betroffenen Übergangs-Jahrgänge kompensiert. Heute fliessen jährlich 5 Milliarden Franken pro Jahr von den Arbeitnehmenden zu den Pensionierten, weil die Pensionskassen ihre Rentenversprechen nicht einhalten können. Nur mit der Senkung des Umwandlungssatzes kann diese Umverteilung gestoppt werden, die es in der 2. Säule ja streng genommen gar nicht geben darf.
Cédric Wermuth: Diese Zahlen stimmen so nicht. Sogar der Bundesrat rechnet mit einem Drittel oder noch mehr Personen, welche direkt von der Reform betroffen wären. Und die gesetzlich garantierte Rente sinkt bei allen. Die Befürworter dieser Vorlage mussten nach der Abstimmung im Parlament eine Studie in Auftrag geben, um herauszufinden, was sie genau beschlossen hatten. Das ist schlicht unverantwortlich. Mit so einer Reform in eine Volksabstimmung zu gehen, finde ich recht abenteuerlich.
Sind an der Komplexität dieser Reform nur die Bürgerlichen Schuld?
Cédric Wermuth: Absolut. Die Vorlage wurde ja gegen uns gemacht. Wir, und übrigens auch die Bundesverwaltung, haben mehrfach auf die handwerklichen Fehler in dieser Reform hingewiesen. Die Bevölkerung wird nicht ernst genommen. Für die tiefen Löhne bringt die Reform ein sehr schlechtes Preis-Leistungs-Verhältnis. Bei den mittleren Löhnen und den über 50-Jährigen werden viele sogar draufzahlen. Das ist auch der Grund, warum SVP-Ständerätin Esther Friedli als Gastrounternehmerin gegen die Reform ist. Sie weiss, dass diese Reform auch sie als Arbeitgeberin in einer Tieflohnbranche zu viel kosten wird für die Leistungen, die ihre Angestellten erhalten.
Martina Bircher: Verbände im Tieflohnsegment wie Gastro Suisse sind gegen die Reform und schieben die Verantwortung dem Staat in die Schuhe. Sie halten die Pensionskassen-Beiträge ihrer Angestellten tief. Wenn diese dann 65 sind, und es finanziell nicht reicht, muss der Staat mit Ergänzungsleistungen einspringen. Hier setzt die BVG-Reform an.
Cédric Wermuth: Mit dieser Argumentation müsstet ja auch ihr für Mindestlöhne einstehen. Damit diese Menschen nicht mit tiefen Löhnen ausgenutzt und anständig versichert werden.
Martina Bircher: Das hat überhaupt nichts mit Ausnutzen zu tun. Löhne entstehen durch Angebot und Nachfrage. Dennoch finde ich, dass in der Schweiz jeder vernünftig versichert sein soll. Gerade in der Gastro oder Reinigung arbeiten viele Teilzeit oder haben mehrere Arbeitgeber, mit der Reform sind auch diese Leute versichert.
Cédric Wermuth: Dies wiegt aber nicht die über 50-Jährigen in der Mittelschicht auf, die bei dieser Reform draufzahlen müssen.
Martina Bircher: Für diese über 50-Jährigen haben wir die Glättung bei den Altersgutschriften drin. Neu haben wir noch zwei Prozentsätze, was den älteren Arbeitnehmenden zugutekommt. Ab 55 Jahren beträgt der Abzug neu nur noch 14 statt 18 Prozent.
Cédric Wermuth: Die Arbeitslosigkeit der älteren Menschen hat nichts mit den PK-Beiträgen zu tun, das ist Unsinn. Die SVP war bisher gegen jede Massnahme, um ältere Lohnabhängige zu schützen. Zum Beispiel auch gegen den Inländervorrang, den wir durchgesetzt haben.
Wenn diese Vorlage nicht durchkommen sollte, glauben Sie, dass ein Kompromiss zwischen den Sozialpartnern nochmals eine Chance hat? Der Gewerbeverband war ja gegen diesen Kompromiss.
Cédric Wermuth: Wir sind offen für eine Reform, wenn sie die Probleme in der zweiten Säule wirklich löst. Das sind drei: der fehlende Teuerungsausgleich der Renten, die fehlende Gleichstellung und die Abzockerei der Finanzindustrie. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Menschen bereit sind, eine Pseudo-Reform in Kauf zu nehmen, die für einen Grossteil der Bevölkerung zu weniger Rente führt. Dies zeigte die Abstimmung im März zur 13. AHV-Rente. In den letzten drei Jahren haben die Pensionskassenrenten im Schnitt fünf Prozent an Kaufkraft verloren. Den Pensionskassen und der Finanzbranche geht es hervorragend. Jetzt zu verlangen, dass viele Menschen mehr bezahlen sollen für ein wenig mehr oder sogar weniger Rente, das ist doch ein Hohn.
Martina Bircher: Die Kaufkraft sinkt bald, weil die 13. AHV-Rente mit einer erhöhten Mehrwertsteuer finanziert werden muss.
Cédric Wermuth: Das wollten wir aber nicht.
Martina Bircher: Ihr wolltet Lohnabzüge. Das ist auch eine Form von Kaufkraftverlust bei der arbeitenden Bevölkerung. Die Linke möchte einfach eine erste Säule, die auf Umverteilung basiert, deswegen wird mit diesem Referendum die berufliche Vorsorge torpediert. Wird die BVG-Reform abgelehnt, werden wichtige Probleme nicht gelöst.
Cédric Wermuth: Ich stimme zu, die AHV ist für einen Grossteil die wichtigere und darüber hinaus viel sicherere Variante als die zweite Säule.
Martina Bircher: Die Leute möchten aber eine Pensionskasse. Ich hatte Kontakt mit Reinigungskräften, die mehrere Jobs haben und bislang kein PK-Guthaben aufbauen konnten. Sie sind interessiert an einer beruflichen Vorsorge, mit der BVG-Reform helfen wir diesen Menschen weiter.
Trotz allem: Eine Reform der beruflichen Vorsorge ist überfällig, diese Haltung dürften auch Sie vertreten.
Cédric Wermuth: Eine Reform nur um der Reform willen fand ich immer schon ein schwaches Argument. Schon bei der AHV hat man – wie sich nun herausstellte, auf Basis falscher Zahlen – jahrelang gesagt, dass man sie sich nicht leisten kann. Heute zeigt sich, dass das problemlos möglich ist. Auch die 13. AHV-Rente ist finanzierbar. Nur weil wir uns jahrelang geweigert haben, Abbauvorlagen zu akzeptieren, hat das Volk am 3. März Ja gesagt zur 13. AHV-Rente. Bei der beruflichen Vorsorge ist es dasselbe.
Wie meinen Sie das?
Cédric Wermuth: Wir wissen, dass die Finanzindustrie die Mehrheit des bürgerlichen Parlamentes im Griff hat und deswegen auch beim BVG Druck ausübt. Wenn wir deswegen keinen Kompromiss finden, gibt es die Möglichkeit einer Volksinitiative. Die 13. AHV-Rente hat dies gezeigt. Klappt es im Parlament nicht, muss das Volksparlament einspringen.
Und das ist des Pudels Kern der Vorlage. Darum sind die Bürgerlichen und die SVP so dafür.
Die meisten, vorallem mit kleinem bis mittleren Einkommen, werden für die Reichsten bezahlen.
Die "bürgerlichen" Millionärsfreunde haben auch die 13. AHV-Rente auf Kosten der Kleinen "pervetiert", damit ihre Filz-Klientel weiterhin steuerlich entlastet werden kann.
Die "bürgerliche" Politik ist nur für wenige Reiche, nie aber für die Gesamtheit der Bevölkerung 🥺
Stimmt- es sind die ArbeitGEBER die nicht daran interessiert sind.
Darum ein „Reformchen“, das wie immer bei der beruflichen Vorsorge nicht das hält, was es anfänglich verspricht.
Die BVG ist und bleibt seit Anbeginn Betrug/ ein Imbroglio