Die Schweiz ist ein reiches Land. Wir sind ein Leben im Wohlstand gewohnt (und ignorieren gerne, dass längst nicht alle dieses Glück haben). Dieses bequeme Leben möchten wir auch und erst recht nach der Pensionierung weiterführen. Mit dem Drei-Säulen-Prinzip haben wir ein System der Altersvorsorge geschaffen, um das uns der Rest der Welt beneidet.
So hört man es häufig in Sonntagsreden. Die Realität sieht weitaus weniger rosig aus, und das betrifft nicht nur die private Vorsorge in der dritten Säule, für die viele wenig oder gar kein Geld haben. Ein Problemfall ist auch die zweite Säule, die berufliche Vorsorge (BVG). Mit ihr sind wir obligatorisch durch den Arbeitgeber bei einer Pensionskasse versichert.
Dabei sparen wir individuell ein Kapital an, aus dem wir nach der Pensionierung eine monatliche Rente beziehen. Wir können uns auch das Kapital ganz oder teilweise auszahlen lassen. Soweit die Theorie. In der Realität handelt es sich um ein schwer durchschaubares System, selbst wenn man die Polemik um Zahlen und «Abzockerei» ausklammert.
Das zeigt sich nun in der Debatte über die BVG-Reform, über die wir am 22. September abstimmen. Oder abstimmen sollten, denn die Materie ist enorm komplex. Allein die Fachbegriffe sind eine Zumutung für die «durchschnittlichen» Stimmberechtigten. Und die teils grossen Unterschiede im System erschweren die Meinungsbildung zusätzlich.
«Fragen Sie Ihre Pensionskasse», sagte Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider zum Start des Abstimmungskampfs sinngemäss zu den Folgen der Reform für uns alle. Dafür erhielt sie spöttische Bemerkungen, doch in der Sache liegt sie richtig. Anders als bei der AHV findet man überspitzt formuliert im BVG kaum zwei Personen, die identisch versichert sind.
Wer blickt da noch durch? Ich habe mich intensiv mit der Materie befasst, wegen der Abstimmung, aber auch weil meine Pensionierung nicht mehr allzu weit entfernt liegt. Mein Fazit ist ernüchternd: Die berufliche Vorsorge ist im Prinzip eine gute Idee. In der praktischen Umsetzung aber ist sie eine Zumutung und eigentlich kaum reformierbar.
Eingeführt wurde das Drei-Säulen-Prinzip 1972, als Gegenvorschlag zur Initiative für eine «Volkspension» der Partei der Arbeit. Auslöser war eine grobe Ungleichheit: Wer über eine Pensionskasse verfügte, war privilegiert gegenüber jenen, die nur die AHV hatten. Mit dem massiven Wohlstandsschub der Nachkriegszeit wurde dieser Zustand untragbar.
Deshalb wurde die berufliche Vorsorge für obligatorisch erklärt. Mit Verzögerung trat das entsprechende Gesetz 1985 in Kraft. Nicht durchsetzen konnte sich das sogenannte Leistungsprimat, das sich am versicherten Lohn und nicht an den einbezahlten Beiträgen orientiert. Die Rente aus AHV und BVG sollte rund 60 Prozent des letzten Lohns erreichen.
Damit macht man keine grossen Sprünge, schon gar nicht in der heutigen Zeit, die von einer exzessiven Konsumkultur und hohen Anspruchsmentalität geprägt ist. In der Realität aber wird oft nicht mal dieser Wert erreicht. Dies zeigt das Pensionierungsbarometer des Vermögenszentrums VZ. Bei der zu erwartenden Pensionskassenrente geht es seit Jahren abwärts.
Wer ein Bruttoeinkommen von 100’000 Franken bezieht, muss im Rentenalter mit etwa der Hälfte auskommen. Hauptgrund sind die sinkenden Umwandlungssätze. Sie bestimmen die Höhe der Rente im Verhältnis zum angesparten Kapital. Kassen mit «überobligatorischem» Kapital sind allerdings nicht an das gesetzliche Minimum von 6,8 Prozent gebunden.
Das betrifft rund 85 Prozent aller Versicherten. Ihr realer Umwandlungssatz liegt teilweise bei unter vier Prozent. Auf dem Vorsorgeausweis konnte man verfolgen, dass das Rentenversprechen wegschmolz wie die Gletscher im Klimawandel. Damit sollte unter anderem die Umverteilung von Einzahlenden zu Rentenbezügern gestoppt werden.
Na und? Soll man sich im Alter eben einschränken und private Ressourcen anzapfen. Tatsächlich erwarten rund 70 Prozent der Bevölkerung, dass sie ihren gewohnten Lebensstandard mit AHV und Pensionskasse allein nicht halten können. Dies zeigt das Ruhestandsmonitor der AXA Investment Managers Schweiz.
Die jährliche Erhebung zeigt aber auch, dass zwölf Prozent der Befragten über keine zweite Säule verfügen. Das können einerseits Selbständigerwerbende sein, die sich nicht versichern können oder diesen Aspekt vernachlässigen. In den meisten Fällen aber sind es Menschen mit tiefen Einkommen, und das führt zu den Konstruktionsfehlern im BVG.
Um eine «Doppelversicherung» mit der AHV zu verhindern, wurden eine Eintrittsschwelle (entspricht drei Viertel der maximalen AHV-Altersrente) und ein Koordinationsabzug (derzeit sieben Achtel der maximalen AHV-Rente) eingeführt. Dies führt dazu, dass Geringverdiener und Teilzeitbeschäftigte kaum ein valables Pensionskassenkapital aufbauen können.
Sehr häufig sind Frauen von dieser Benachteiligung betroffen. Schon 1987, zwei Jahre nach Einführung des BVG-Obligatoriums, stellte die Thurgauer CVP-Nationalrätin Margrit Camenzind dem Bundesrat die Frage, ob nicht «auf den Koordinationsabzug verzichtet werden soll». Ähnliche Forderungen gab es seither von links und rechts, ohne Erfolg.
Das Gewerbe und vor allem die Tieflohnbranchen wehren sich gegen eine bessere Versicherung ihrer Beschäftigten, weil sie mit Mehrkosten verbunden ist. In der BVG-Reform sollen Eintrittsschwelle und Koordinationsabzug etwas gesenkt werden, doch selbst diese moderate Anpassung stösst auf Widerstand von Gastronomie oder Landwirtschaft.
Die Realität ist aber nicht schwarzweiss, denn das BVG-System ermöglicht eine grosse Flexibilität. Es gibt Arbeitgeber, die freiwillig den gesamten Lohn versichern, ohne Eintrittsschwelle und ohne Koordinationsabzug. Andere zahlen höhere Beiträge ein als das gesetzliche Minimum, und manche Pensionskassen passen den Koordinationsabzug an das Arbeitspensum an.
Das ist wichtig für Teilzeitbeschäftigte. Auch bieten Kassen unterschiedliche Pensionspläne an. Dank der gesetzlichen Mindestverzinsung, die ebenfalls «überschritten» werden kann, lässt sich ein beachtliches Kapital aufbauen. Ausserdem kann man es durch Einkäufe aufstocken, doch einige Kassen sind in diesem Punkt grosszügig, andere restriktiv.
Das führt zum eigentlichen Problem: Statt von Flexibilität sollte man von Willkür sprechen. Denn letztlich sind die Versicherten dem Arbeitgeber und der Pensionskasse ausgeliefert. Sie müssen tiefe Umwandlungssätze und hohe Koordinationsabzüge «schlucken». Sich etwa in den Stiftungsräten dagegen zu wehren, ist erfahrungsgemäss schwierig.
Im Gegensatz zur Krankenkasse kann man die Pensionskasse nicht frei wählen. Man ist darin «gefesselt». Die Wahlfreiheit taucht bisweilen in liberalen Planspielen auf. Politisch ist sie komplett chancenlos, auch weil die rund 1400 Pensionskassen bestens mit dem heutigen System leben können. Und die Wahl der «richtigen» Kasse wäre anspruchsvoll.
Eigentlich gibt es nur eine Möglichkeit, der «Fessel» zu entkommen: Man lässt sich bei der Pensionierung das Kapital auszahlen. Dann muss man selbst schauen, wie man damit den Lebensunterhalt bestreitet. Die Rente hat den Vorteil, dass sie nicht gekürzt werden kann und bis ans Lebensende ausbezahlt wird, auch wenn das «Kapital» aufgebraucht ist.
Bei genauer Betrachtung ist im Drei-Säulen-System nur die AHV einigermassen «gerecht». Die zweite Säule ist mit ihren Konstruktionsfehlern und dem Ausmass an Willkür hingegen ausgesprochen instabil. Ein in diesem Kontext noch gar nicht erwähnter Aspekt ist die Abstufung bei den Altersgutschriften, die die Anstellung älterer Arbeitnehmender verteuert.
Die vorliegende Reform bemüht sich auch in diesem Punkt um eine Korrektur, doch eigentlich ist die zweite Säule kaum reformierbar, nicht zuletzt wegen des Widerstands aus dem Gewerbe. Es hat schon den «Sozialpartner-Kompromiss» von Gewerkschaften und Arbeitgebern nicht mitgetragen. Er hätte das BVG um eine Art «Mini-AHV» ergänzt.
Es erstaunt kaum, dass die Linke die AHV glorifiziert und mit dem BVG hadert. In manchen Köpfen geistert immer noch die «Volkspension» herum. Die Juso stellen die Forderung offen, doch ein solcher Umbau wäre ein ungeheurer Kraftakt. Es geht um Besitzstände im BVG, die auch bei Normalverdienern hunderttausende Franken ausmachen können.
Vielleicht ist die BVG-Reform unter diesen Umständen die am wenigsten schlechte Lösung, weil sie sich bemüht, die Missstände anzugehen. Die Fachwelt beurteilt sie kritisch bis negativ, nicht zuletzt wegen der geplanten Kompensationen für Jahrgänge über 50. Für sie wurde die Reform zu stark «verpolitisiert». Doch letztlich trägt die Politik die Verantwortung.