Sie sind eine von 100 Kulturschaffenden, die einen Aufruf an den Bundesrat geschrieben haben. Darin fordern Sie ein beherzteres Handeln im Ukraine-Krieg. Sind Sie mit der Reaktion des Bundesrates darauf zufrieden?
Welche Reaktion? Mir wäre nicht bekannt, dass sich der Bundesrat dazu geäussert hätte. Ich habe mich aber über das grosse Medienecho gefreut.
Bundespräsident Ignazio Cassis nimmt trotz der Gräueltaten in Butscha das Wort «Kriegsverbrechen» nicht in den Mund.
Das geht gar nicht. Jeder Krieg ist auch ein Krieg um die Sprache. Wenn unser Aussenminister Ignazio Cassis bei einem solchen Massaker bloss von «Geschehnissen» spricht, dann wirft das ein sehr düsteres Licht auf unsere Aussenpolitik. Ein ähnlicher Fall: SVP-Politikerin und Unternehmerin Magdalena Martullo-Blocher verlangt von ihren Mitarbeitenden, dass sie nicht von «Krieg», sondern von «Konflikt» sprechen. Das ist Putins Sprache. Wer sie übernimmt, hilft ihm.
Die Wahl jedes Wortes hat eine Konsequenz?
Ja. Wenn man von Konflikt statt von Krieg spricht, ist der Fall klar. Doch oft ist die Sache komplexer. Weil Wörter nie neutral sind, muss man immer wieder klarstellen, wie man sie definiert. Nehmen wir den Begriff Neutralität. Der historische Erfahrungsraum des Begriffs gehört zu seiner Bedeutung und ebenso, was man von ihm gegenwärtig erwartet. Und weil solche Begriffe politisch brisant sind, muss man sich fragen, wer sie auf welche Art nutzt. Und warum.
Fühlt man sich als Schriftstellerin da machtlos, wenn man sieht, wie die Sprache genutzt wird, um einen Krieg zu rechtfertigen?
Machtlos und wütend. Massensuggestion, Überwältigung mit den Mitteln der Rhetorik bis hin zur nackten Lüge sind Teil jeder kriegerischen Propaganda. Es ist sehr deprimierend mitzuerleben, wie die Sprache wieder einmal zur Waffe wird.
Der deutsche Autor Maxim Biller schrieb angesichts des Schreckens des Krieges, dass er kein Schriftsteller mehr sein und nie mehr einen Roman schreiben wolle. Kam dieser Gedanke bei Ihnen auch auf?
Nein. Allem Schrecken zum Trotz will ich weiterschreiben. Wenn die Sprache für den Krieg missbraucht wird, gilt es erst recht, nicht zu verstummen. Die Sprache nicht zu missbrauchen, sondern zu beleben. Ich glaube an die Kraft, an die Liebe und an die Zärtlichkeit der Sprache. Und genauso an die Notwendigkeit, auf das Gift der Sprache aufmerksam zu machen.
Wie sehen Sie als Schriftstellerin Ihre Rolle in diesem Krieg?
Ich akzeptiere die Begriffe nicht, die an uns herangetragen werden, sondern hinterfrage sie. Warum benutzt jemand das Wort «Konflikt» und spricht nicht von «Krieg», nennt etwas «Geschehnisse» und nicht «Massaker»? Es geht zum einen also darum, zu analysieren und hellhörig zu sein, wie sich Gewalt und Macht in der Sprache manifestieren. Zum anderen geht es um die Möglichkeiten des Widerstandes mittels Sprache: Wie lassen sich Bedeutungen verschieben, neue Wörter und Satzstrukturen finden?
Neue Wörter? Können Sie ein Beispiel machen?
Mein letzter Roman heisst «Schildkrötensoldat». Diese Neuschöpfung löst ganz unterschiedliche Gedanken und Gefühle aus, aber immer bringt das Wort etwas in Bewegung. Das ist für mich der Kern der Literatur, Bewegung und Transformation, die Möglichkeiten der Wörter und Satzzeichen zu erforschen – bis an die Grenze des Unmöglichen zu schreiben. Sprache bildet Realität nicht ab, sondern macht sie erst möglich. Die Literatur macht uns diese Einsicht auf die schönste Art erfahrbar.
Eine These des Schweizer Psychoanalytikers Arno Gruen lautet: Wenn die Literatur, die ja Empathie fördert, den Krieg nicht verhindern kann, hat sie versagt. Was sagen Sie dazu?
Ich habe eine Zahl im Kopf, nämlich, dass etwa fünf Prozent der Schweizer Bevölkerung Bücher lesen; der prozentuale Anteil der lesenden Politiker ist wohl kaum höher. Aber selbstverständlich geht es nicht nur um Zahlen, sondern um die Frage, wie die Literatur – und auch Kunst – sich überhaupt entfalten soll, wenn sie im öffentlichen Raum immer bedeutungsloser wird; die ausgedünnten Feuilletons und die geistlosen Buchbesprechungen sprechen eine deutliche Sprache. Das heisst, wir sollten uns fragen, welchen Stellenwert die Literatur, die Kunst in unserer Gesellschaft überhaupt haben, bevor wir die meines Erachtens absurde Behauptung aufstellen, die Literatur vermöge keinen Krieg zu verhindern.
Die schrecklichen Bilder von Butscha führten dazu, dass der Krieg noch einmal als grausamer beurteilt wurde – und härtere Sanktionen diskutiert werden. Warum haben Bilder geschafft, was Sprache nicht konnte?
Bilder zeigen die Grausamkeit schneller und unmittelbarer als die Sprache, Texte brauchen mehr Zeit und Aufmerksamkeit. Ich verstehe oft nicht, warum sich Menschen durch Bilder aufrütteln lassen, bei Reden und Texten aber erstaunlich gelassen bleiben, obwohl sie vor Rohheit und Gewalt nur so strotzen.
Sie sind in den 70er-Jahren als Fünfjährige von Jugoslawien in die Schweiz gekommen. Wie haben Sie hier den Balkankrieg und die Gräueltaten von Srebrenica erlebt?
Es war der Horror. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, hatte ich Angst vor einer schlechten Nachricht. Einige meiner Cousins in Serbien wurden in die Armee eingezogen, andere sind geflüchtet und dann untergetaucht. Sah ich eine Zeitung auf dem Tisch liegen, traute ich mich kaum mehr, sie in die Hände zu nehmen – aus Angst, von neuen Gräueltaten lesen zu müssen. Ich komme aus einem Land, das es jetzt nicht mehr gibt. Diese Erfahrung prägt mein Leben und ist Teil meiner Literatur.
Sie können den Ukrainerinnen und Ukrainern nachfühlen?
Nachfühlen? Vielleicht ein bisschen. Und doch ist jeder Krieg auf je eigene Art grausam und die Geschichte jedes einzelnen Menschen müsste erzählt werden, der sinnlos leidet oder sogar getötet wird. Ausserdem müssen wir uns alle damit befassen, dass auch die Schweiz eine Mitverantwortung trägt für diesen Krieg.
Absolut unterste Schublade.