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Interview

Die Grüne vs. Klimastreik: Jetzt schlägt Grünen-Präsident zurück

«Wenn wir Grünen Netto Null sagen, meinen wir dreimal so viel CO2 wie der Klimastreik»: Grünen-Präsident Balthasar Glättli.
«Wenn wir Grünen Netto Null sagen, meinen wir dreimal so viel CO2 wie der Klimastreik»: Grünen-Präsident Balthasar Glättli.Bild: watson/keystone/klimastreik schweiz
Interview

Grüne vs. Klimastreik: Jetzt schlägt der Grünen-Präsident zurück

«Benutzt und belogen» worden seien sie von den Linken und Grünen, kritisierte der Klimastreik. Jetzt kontert Grünen-Präsident Balthasar Glättli die Vorwürfe der Bewegung. Und kritisiert gleichzeitig die SVP.
11.09.2020, 08:3511.09.2020, 14:33
Othmar von Matt / CH Media
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Die Grünen feierten 2019 einen grossen Wahlsieg. Doch jetzt befinden sie sich in der Krise. Was geschah?
Balthasar Glättli: Krise? Welche Krise? Die Krise, die mir Sorgen macht, ist die Klimakrise, die wir gemeinsam bewältigen müssen.

Die Bewegung Klimastreik wirft den Linken – also vor allem den Grünen – vor, «benutzt und belogen» worden zu sein. Das ist happig.
Diesen Vorwurf muss ich in aller Klarheit zurückweisen. Wir haben immer gesagt, die Schweiz solle sich am ehrgeizigen Ziel Netto Null 2030 orientieren. Und wir fordern Netto Null bis 2040 unter Einbezug der grauen Emissionen im Ausland wegen der importierten Produkte. Diese sind doppelt so gross wie die Inlandemissionen!

Der Klimastreik attackiert die Grünen frontal. Das muss eine Erschütterung sein. Die Bewegung war ein wesentlicher Faktor für den Wahlerfolg.
Diese Vorwürfe des Klimastreiks treffen mich. Wir Grünen haben von der Klimabewegung an der Urne nur deshalb profitiert, weil wir uns schon seit Jahren auf allen Ebenen für einen raschen und griffigen Klimaschutz eingesetzt haben.

Der Klimastreik sagt, die Grünen hätten nur «leere Worthülsen» geliefert.
Das ist falsch. Schauen Sie unsere Anträge im neuen CO2-Gesetz an und unsere Vorstösse. Ich selbst forderte lange vor dem Klimastreik, dass die Schweiz ab 2025 Autos mit Verbrennungsmotoren verbietet. Die Forderung wurde abgelehnt. Ich habe sie mit 2030 nochmals gestellt.

Der Klimastreik griff auch Fraktionschefin Aline Trede an. Vor den Wahlen hatte sie sich auf der Klimacharta der Bewegung zu Netto Null bis 2030 bekannt. Die Grünen fordern aber im neuen Klimaplan Netto Null erst bis 2040.
Der Klimaplan ist aktuell ein erster Entwurf, der aufgrund von Rückmeldungen überarbeitet wird. Die Jungen Grünen sind dabei mitbeteiligt.

Auch Sie persönlich haben die Klimacharta mit Netto Null 2030 unterschrieben. Genauso wie alle sechs Vizepräsidenten. Sie hatten einfach Glück, dass Sie nicht angegriffen wurden.
Mit Angriffen kommen wir nicht weiter. Oder sollte ich etwa den Klimastreik angreifen, weil er in seinen Forderungen die grauen Emissionen durch importierte Güter ausblendet? Wenn wir Grünen Netto Null sagen, meinen wir dreimal so viel CO2 wie der Klimastreik!

Der Klimastreik versteht auch nicht, dass die Grünen neue Ölheizungen erst ab 2030 verbieten wollen. Norwegen als Ölland tat das schon ab 2020.
Auch die jungen Grünen kritisierten das, und da stimme ich zu: Ich will diesen Punkt im Klimaplan verschärfen. Letztlich werden das die Delegierten entscheiden.

Möchten Sie schneller vorwärts gehen, dringen als Präsident aber nicht durch?
Ich möchte so konkret wie möglich Klimaschutz machen. Keine künstliche Debatte über Netto Null 2028, 2030, 2035 oder 2040. Sondern eine reale Debatte darüber, welche ganz konkreten Massnahmen wir fordern und zu welchem Absenkpfad sie führen. Daraus möchte ich unser Ziel formulieren.

Parteipraesident Balthasar Glaettli, links, uebergibt der ehemaligen Parteipraesidentin Regula Rytz, rechts, Sonnenblumen an der Delegiertenversammlung der Gruenen in Brugg am Samstag, 15. August 2020 ...
Grünen-Präsident Balthasar Glättli dankt seiner Vorgängerin Regula Rytz an der Delegiertenversammlung in Brugg mit Sonnenblumen.Bild: keystone

Sind die Grünen zu gemässigt geworden?
Die Grünen sind keine Weicheier. Der aktuelle Klimaplan zeigt bereits den Weg, wie wir bis 2030 klimaneutral werden und spätestens 2040 auf Netto Null kommen. Das ist viel schneller, als es bisher jede andere Partei vorschlägt. Zudem wollen wir die Klimaschulden aus der Vergangenheit «zurückzahlen». Das hat keine andere Partei vorgeschlagen. Dabei setzen wir um, was der wissenschaftliche Weltklimarat zur Erreichung des 1,5-Grad-Ziels empfiehlt. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Medien zum Teil schrieben, die Grünen seien überambitionierte Traumtänzer.

«Eine Renaissance des real existierenden Sozialismus? Das ist absoluter Bullshit.»

Also ist der Klimastreik zu radikal geworden?
Der Klimastreik ist nicht zu radikal. Aber der Klimastreik stellte nie konkrete Massnahmen ins Zentrum. Er forderte die Entscheidungsträger auf zu handeln.

Der Klimastreik fordert inzwischen offensiv einen Systemwechsel. Sie auch?
Die Frage ist: Was versteht man darunter? Eine Renaissance des real existierenden Sozialismus? Das ist absoluter Bullshit. Das war eines der umweltfeindlichsten Systeme, die wir hatten. Es stand dem real existierenden Kapitalismus in nichts nach, was die Vernichtung der Natur betrifft. Ich bin für einen Systemwechsel, wenn es um die Definition von Wohlstand geht. Wir müssen die blinde und sinnlose Fixierung auf Wirtschaftswachstum und Bruttoinlandprodukt überwinden. Faktisch zeigt das BIP einfach, wie stark unsere Gesellschaft von Geldtransaktionen geprägt ist. Wir müssen wegkommen von der Wegwerfgesellschaft. Wir müssen auch das Mobilitätssystem anschauen. Ist Mobilität Mittel oder Ziel? Das Ziel müsste doch sein, Begegnungen zu ermöglichen. In der Coronazeit sahen wir: Videokonferenzen können Reisen ersetzen.

Jetzt bist du gefragt: Haben die Grünen in der Klimafrage versagt?

Der Klimastreik hat sich mit Aktivisten zusammengetan und setzt nun auf zivilen Ungehorsam. Gibt es doch eine Radikalisierung?
Dass Bewegungen zu diesem Mittel greifen, hat eine lange Tradition. Der Klimastreik versucht, den Druck zu erhöhen. Gleichzeitig muss er aber die Breitenwirkung verstärken. Er darf sich nicht in die Einsamkeit treiben. Lauter zu werden und gleichzeitig breiter ist eine riesige Herausforderung. Ich hoffe, sie gelingt.

Auf dem Podium einer Medienkonferenz des Klimastreiks zeigte sich: Extinction Rebellion (XR) spielt neu eine wichtige Rolle.
Es gibt bei XR Tendenzen, die ich bedenklich finde. Das hat weniger mit den Aktionsformen zu tun als vielmehr mit dem ideologischen Background. Es gibt den Vorwurf, dass die Bewegung im Innern sehr zentralistisch ist. Bewegungen sollten basisdemokratisch sein.

Der Klimastreik wird wohl das Referendum ergreifen gegen das CO2-Gesetz. Was sagen Sie dazu?
Das neue CO2-Gesetz geht auch den Grünen zu wenig weit. Es wäre aber absolut unverantwortlich, dieses Gesetz zu bekämpfen. Dann gäbe es keinerlei gesetzliche Grundlagen, um Massnahmen bei Finanzen, Flugticket-Abgaben und Mobilität zu ergreifen. Es wäre aber auch unverantwortlich, sich auf diesem Gesetz auszuruhen. Es braucht rasch eine nächste Revision des CO2-Gesetzes und eine Ausbauoffensive bei den erneuerbaren Energien. Und ein klimafreundliches Ernährungssystem.

Ist die Gletscher-Initiative ein Beispiel dafür, dass der Klimastreik mehr erreicht hat, als er selber denkt?
Als die Gletscher-Initiative lanciert wurde, galt sie als radikal. Inzwischen ist sie zu wenig radikal. Das ist sicher ein Verdienst der Klimabewegung. Die Wissenschaft gewann beängstigende Erkenntnisse dazu. Netto Null bis 2050, wie es die Initiative will, reicht nicht, um die massiven Klimaveränderungen abzumildern.

Die Grünen werden vom Klimastreik bedrängt. Rechts tritt plötzlich auch die SVP mit Umweltargumenten auf – bei der Begrenzungsinitiative.
Es ist ein Paradox der politischen Geschichte, dass sich jene Kraft, die den Ernst der Lage am wenigsten verstanden hat, nun plötzlich den Klimaschutz auf die Fahne schreibt. Da rufen die Brandstifter nach der Feuerwehr! Sorry, das ist Politmarketing, aber sicher nicht verantwortungsvolle Politik.

«Da rufen die Brandstifter nach der Feuerwehr! Sorry, das ist Politmarketing aber sicher nicht verantwortungsvolle Politik.»

Trotzdem: Wird Umweltschutz von rechts zum Thema?
Es wäre schön, wenn das ernst gemeint wäre. Die SVP versucht, ihre isolationistische und letztlich asoziale Politik hinter einem grünen Mäntelchen zu verstecken. Die SVP hat aber die Energiestrategie 2050 bekämpft und droht mit dem Referendum gegen das CO2-Gesetz. Sie sagte Nein zur Revision des Raumplanungsgesetzes und zur Zweitwohnungsinitiative und bekämpfte in den Kantonen unsere Kulturlandinitiative. Und sie befeuert die Steuerdumpingpolitik, mit der immer mehr Unternehmen und Arbeitsplätze in die Schweiz verlagert werden sollen. An ihren Taten sollt ihr sie erkennen: Die SVP ist hier wirklich unglaubwürdig.

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80 Kommentare
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Toerpe Zwerg
11.09.2020 08:55registriert Februar 2014
Wie alle bewegten werden die Klimabewegten eher früher als später mit einem demokratischen Staatsverständnis in Konflikt geraten.
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chrissy_dieb
11.09.2020 09:30registriert Januar 2020
Da muss ich die Grünen jetzt in Schutz nehmen:

Auch die Grünen können das Unrealistische nicht realisieren.

Weder technisch, noch finanziell noch politisch ist Netto-0 bis 2030 möglich.
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Antichrist
11.09.2020 09:30registriert März 2020
Sogar der Grünen Chef nennt den Systemwechsel, den die Klimakids wollen "Bullshit".
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