Zermürbung? Keine Spur. Seit einem Jahr haben SVP und FDP im Nationalrat eine Mehrheit – doch SP-Präsident Christian Levrat scheint diese Situation mehr anzustacheln als zu belasten. Am letzten Freitag lud er zum traditionellen Dreikönigs-Apéro seiner Partei in Bern. Er zeigte sich lustvoll angriffig und teilte aus – gegen die politischen Gegner, Journalisten und Parteikollegen. Als er am Nachmittag zum Interview im Berner Medienzentrum erscheint, ist die Krawatte längst weg. Doch Levrat ist eben nicht nur Parteipräsident, sondern auch Ständerat: Als er den Fotografen erblickt, wird die Krawatte rasch wieder montiert.
Als Präsident der Aussenpolitischen
Kommission waren Sie im letzten
Jahr viel im Ausland unterwegs.
Was hat Sie besonders geprägt?
Christian Levrat: Die besorgniserregende
Situation im Kongo, wo sich Joseph
Kabila an der Macht halten will.
Die Türkei mit der Verschärfung der
Repression gegen die Opposition. Drittens
die Wahl von Donald Trump. Ich
hatte das Glück, zum ersten Mal als
Wahlbeobachter tätig zu sein.
Kabila, Erdogan, Trump. Im Vergleich
dazu erscheinen die innenpolitischen
Probleme der Schweiz geradezu
nichtig.
Wir haben andere Probleme. Das letzte
Jahr war bewegt und anspruchsvoll.
Wir haben wichtige Themen behandelt:
die Altersreform, die Energiestrategie,
die Umsetzung der Zuwanderungsinitiative
und die Unternehmenssteuerreform
III. Diese vier Themen
sind für unser Land zentral. Bei den
ersten drei Themen haben wir es geschafft,
Koalitionen zu schmieden und
Mehrheiten zum Wohle der Bevölkerung.
Bei der Unternehmenssteuerreform
III gehen wir vors Volk.
Die Abstimmung ist bald. Die Befürworter
sind voraus: Wie wollen Sie
das Blatt wenden?
Die Umfragen sind nicht schlecht für
uns – das Rennen wird eng. In der Regel
gilt: Wenn eine Bundesratsvorlage
in der ersten Umfrage weniger als 50
Prozent Zustimmung erreicht, dann ist
sie absturzgefährdet. Die Befürworter
sind nun genau bei 50 Prozent. Mich
freut, dass wir keine klassische Links-Rechts-Ausmarchung
haben und dass
wir noch Potenzial haben. Unsere Argumente
sind mehrheitsfähig. Wir mobilisieren
weit über die Linke hinaus.
Kirche, Städte, Gemeinden sind dagegen,
weil sie nicht einsehen, dass sie
für die Steuergeschenke an Grosskonzerne
und Aktionäre geradestehen sollen.
Ich unterschätze aber die Mittel
unserer Gegner nicht.
Es sind nicht nur Grosskonzerne,
die profitieren. Die heute privilegierten
Statusgesellschaften würden
gleich oder etwas höher besteuert.
Ich bin seit zehn Jahren Mitglied der
Wirtschaftskommission und weiss darum
genau: Mit der Unternehmenssteuerreform
III gibt es Ausfälle von drei
Milliarden Franken. Wir klären die Bevölkerung
über diese Ausfälle auf, das
hat der Bundesrat in der Vergangenheit
nicht gemacht. Hans-Rudolf Merz hat
die Stimmbevölkerung in die Irre geführt.
Sie reden von der letzten Unternehmenssteuerreform.
Der Bund
nimmt heute mehr Gewinn- und
Verrechnungssteuern ein als zuvor.
Ja, aber nur weil es der Wirtschaft gut
geht. Die Frage der Verluste stellt sich
gleichwohl: Ohne Reform würden die
Unternehmen und die Grossaktionäre
heute mehr Steuern bezahlen. Das
Bundesgericht hat gesagt, die Verluste
von Steuerreformen müssten statisch
und nicht dynamisch ausgewiesen werden.
Was der Bund bei der Unternehmenssteuerreform
III tut.
Ja, aber ich zweifle die Zahlen an. Die
zinsbereinigte Gewinnsteuer wurde in
Belgien 2003 eingeführt. Man rechnete
mit Verlusten von 500 Millionen Euro,
ein paar Jahre später wurde sie abgeschafft,
weil dem Staat 5 Milliarden
entgingen. Die USR III ist eine Blackbox.
Die Reform ist völlig unausgewogen.
Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf
hatte eine gute Vorlage präsentiert: ohne zinsbereinigte Gewinnsteuer,
ohne Superabzug auf Forschungs-
und Entwicklungskosten und
mit einer höheren Besteuerung der Dividenden.
Sie sprechen von einer Blackbox.
Das Parlament hat ein Sicherungsnetz
eingeführt.
Wissen Sie weshalb? Die Parlamentarier
sind selbst erschrocken, als sie Beispiele
gesehen haben, wie Konzerne,
die Hunderte von Millionen verdienen,
nach der Reform keinen Rappen an
Steuern mehr bezahlt hätten. Deshalb
wurde eine Entlastungslimite eingeführt:
Mindestens 20 Prozent des Gewinns
müssen versteuert werden. Vier
Fünftel der Gewinne sind also steuerfrei.
Das finde ich ungerecht.
Entscheidend ist, wie die Kantone
die Reform umsetzen. Sie selbst haben
die Waadtländer Reform mit einer
Steuersenkung von fast neun
Prozent unterstützt. Misstrauen Sie
den Kantonen?
Nein, das ist kein Misstrauen gegen-
über den Kantonen. Doch nehmen sie
die zinsbereinigte Gewinnsteuer. Diese
ist freiwillig. Aber wenn Kantone
Hauptsitze von Firmen ansiedeln wollen,
sind sie gegen Kantone mit der
zinsbereinigten Zinssteuer chancenlos.
Meine Wette ist, dass der Steuerwettbewerb
zunimmt und früher oder später
alle Kantone alle neuen Steuerinstrumente
einsetzen müssen.
Sie haben keine Sorgen, dass Firmen
abwandern, wenn ihr Sonderstatus
wegfällt und damit auch
Steuereinnahmen wegbrechen?
Doch, deshalb waren wir auch kompromissbereit.
Wir brauchen eine Reform,
aber mit einer Gegenfinanzierung. Der
Bundesrat hatte ursprünglich eine vernünftige
Vorlage auf den Tisch gelegt.
Die SP hat selbst die Bundesratsvorlage
abgelehnt.
Das stimmt nicht. Wir haben insistiert,
dass die Reform vollständig gegenfinanziert
werden muss. Die Bundesratsvorlage
war für uns der Kompromiss.
Viele Kantone wollen die Dividenden
künftig höher besteuern – auch
ohne Zwang aus Bern.
Ich komme aus dem Kanton Freiburg:
Viele Firmen sind in Freiburg und der
Waadt tätig und haben bereits zwei
operative Sitze. Es braucht nur einen
Brief, um den Hauptsitz in einen anderen
Kanton zu verschieben. Wenn der
eine Kanton bei der Dividendenbesteuerung
eine offensive Strategie fährt,
kommt der Nachbarkanton unter
Druck. Wir sehen das bei den Steuersätzen.
Was ist Ihr Plan B beim Scheitern
der Reform?
Die Steuerprivilegien für Statusgesellschaften
müssen abgeschafft werden.
Andere langfristig, international akzeptierte
Ersatzmassnahmen können eingeführt
werden. Zum Beispiel eine enge
Patentbox – diese ist wichtig für Basel.
Wir brauchen ein Arrangement mit
den Pharmafirmen.
Es gibt auch andere Kantone mit
Statusgesellschaften.
Neben Basel sind hauptsächlich die
Waadt und Genf betroffen. Doch weshalb
muss Zürich Verluste in Kauf nehmen,
um die Probleme dieser drei Kantone
zu lösen, die sie sich selbst eingebrockt
haben?
Der Bund hat die Steuereinnahmen
dieser Statusgesellschaften gerne
genommen und die Nehmerkantone
des Finanzausgleichs hätten ohne
das Geld aus Basel, Genf und der
Waadt ein Problem.
Ich weiss. Deshalb verschliessen wir
uns einer Reform auch nicht. Sie muss
einfach gegenfinanziert und sozial ausgewogen
sein.
Themenwechsel: Wird die Abstimmung
zum Rasa-Gegenvorschlag
zur grossen europapolitischen
Grundsatzabstimmung?
Das ist schwierig zu sagen. Es braucht in der Tat eine Abstimmung, um die bilateralen
Verträge wieder als Strategie
zu festigen – nicht zuletzt, um damit einen
weiteren Ausbau des Bilateralismus
zu ermöglichen. Ob der Weg über
einen Rasa-Gegenvorschlag läuft, über
die Auns-Initiative zur Kündigung der
Personenfreizügigkeit oder das Referendum
zum Umsetzungsgesetz geht,
ist zweitrangig. Wir sind offen für einen
Rasa-Gegenvorschlag, scheinen da
aber fast die Einzigen zu sein.
Der Bundesrat schlägt zwei Varianten
vor: Die eine will die Frist zur
Umsetzung der Zuwanderungsinitiative
aus der Verfassung streichen,
die andere verlangt, dass die
Schweiz bei der Steuerung der Zuwanderung
völkerrechtliche Verträge berücksichtigt.
Variante eins macht keinen Sinn und
ist chancenlos. Und die Forderung der
zweiten steht eigentlich schon in der
Verfassung. Wir müssten an einer Variante
arbeiten, wonach die Schweiz
ihr Verhältnis zur EU auf der Basis der
bilateralen Verträge regelt.
Das heisst, die Bilateralen in die
Verfassung zu schreiben?
Das könnte eine Möglichkeit sein. Vor
allem braucht es geregelte Verhältnisse
mit der EU.
Eine Verfassungsänderung zugunsten
der Bilateralen ist ein Hochrisiko-Spiel.
Levrat ein Gambler wie
Cameron und Renzi?
Ja, das wäre riskant. Mir wäre es deshalb
wohler, wenn die Gegner das Referendum
ergreifen gegen ein Gesetz,
das ihnen nicht passt.
Das hat der SVP ja ein Parteikollege
von Ihnen, Nenad Stojanovic, abgenommen.
Er sammelt Unterschriften
gegen die Umsetzungsvorlage.
Ich hätte es an seiner Stelle nicht getan.
Nicht, weil ich eine Abstimmung fürchte,
sondern weil ich es gefährlich finde,
wenn Referenden plebiszitären Charakter
kriegen – dazu dienen, zur eigenen
Mehrheit auch das Volk zu befragen. Das
ist nicht die Idee unseres Systems.
Haben Sie Stojanovic die Leviten
gelesen?
Nein, ich hatte keinen Kontakt mit ihm.
Er hat sich weder mit uns noch mit der
Neuen Europäischen Bewegung, bei der
er im Vorstand sitzt, in Verbindung gesetzt.
Ich nehme an, er weiss, was er tut.
Was bringt es überhaupt, einen Rasa-Gegenvorschlag
zu zimmern?
Es ist der Bundesrat, der diesen Vorschlag
präsentiert hat. Die europapolitische
Welt kann in drei Monaten schon
ganz anders aussehen, darum sollten
wir jetzt zuerst mal das Ende der Vernehmlassung
abwarten. Wie wir uns
am Ende positionieren, hängt von den
kommenden Entwicklungen ab.
Bei der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative
nahm man
vor allem die FDP wahr, dabei
stammte die Idee des Inländervorrangs
von den Gewerkschaften. War
da Schachspieler Levrat am Werk?
Erfolge haben viele Väter (schmunzelt).
Kommt es vor, dass Sie in der
Öffentlichkeit als «Verfassungsbrecher»
beschimpft werden?
Viel seltener, als es sich die SVP wünschen
würde. Ich bin ein paar Mal bei
SVP-Veranstaltungen aufgetreten in
den letzten Wochen. Zuerst richtet sich
die Wut der Teilnehmer immer gegen
mich – ziemlich bald kehrt sie sich aber
gegen die eigene Partei. Denn ich sage
stets: Wenn man mit einem Gesetz
nicht einverstanden ist, hält man nicht
Plakate im Parlament in die Luft, sondern
ergreift das Referendum.
Hat das Parlament den Willen der
Bevölkerung berücksichtigt?
Ich bin überzeugt, dass ein Grossteil
der Leute, die am 9. Februar 2014 Ja gestimmt
haben, nicht unbedingt Kontingente
verlangten. Sie wollten Ordnung
im Migrationsdossier und verlangten
von der Politik, dass sie sich damit auseinandersetzt.
Das haben wir getan. Alles,
was innerhalb der Bilateralen möglich
ist, haben wir gemacht. Wenn die
Bevölkerung nun finden sollte, dass
das nicht reicht, muss man die Personenfreizügigkeit
kündigen, womit die
Bilateralen I hinfällig werden. Schaut
man nach Grossbritannien, scheint mir
das keine schlaue Lösung zu sein.
Sie klagen bei jeder Gelegenheit
über den Rechtsrutsch der letzten
Wahlen. Dabei zeigen die Zuwanderungsinitiative,
die Energiestrategie
und die Altersreform, dass ihre Partei
Mehrheiten findet. Jammern Sie
des Jammerns zuliebe?
In drei der vier zentralen Dossiers sind
Mehrheiten mit den Bürgerlichen noch
immer möglich. Das ändert aber nichts
daran, dass die Bürgerlichen bei zahlreichen
Vorlagen durchmarschieren.
Entscheidend für Mehrheiten ist nicht
mehr die CVP, sondern die FDP. Wir
sind in einer unangenehmen Situation.
Ihre Erfolge belegen das Gegenteil.
Ich danke für die Blumen. Doch das
Bild täuscht. Paradebeispiel ist die letzte
Budgetdebatte. Am Schluss hat alleine
SVP-Nationalrat Thomas Aeschi das
Budget diktiert. Die Finanzpolitik wird
von den Bürgerlichen gemacht – unter
Führung der SVP.
Das Budget ist ein Spezialfall – denn
dort braucht es keine Einigkeit zwischen
den Räten.
Das stimmt. Der Ständerat funktioniert
als Korrektiv nur, wenn er richtig
taktiert, sonst setzen sich die Ajatollahs
des Nationalrates durch. Es ist
deshalb kein Zufall, dass Finanzminister
Ueli Maurer das strukturelle
Defizit von 1,5 Milliarden Franken
nicht mit einem Konsolidierungsprogramm
einsparen will, sondern alleine
im Budget. Das heisst, wir können
kein Referendum ergreifen – der
Bund spart am Volk vorbei. Ueli Maurer
hat von Widmer-Schlumpf gesunde
Finanzen übernommen. Nach einem
Jahr im Amt muss er bereits ein
Loch von 1,5 Milliarden Franken verantworten.
Für das Defizit ist das ausgabenfreudige
Parlament verantwortlich.
Es sind die gleichen Kräfte, die in Bundesrat
und Parlament am Werk sind.
Die Bürgerlichen geben mehr Geld aus
für Strassen, Armee und Landwirtschaft.
Und für die AHV. Diese 600 Millionen
vergessen Sie gerne.
Ein moderater Ausbau bei der AHV ist
mehr als überfällig. Seit 20 Jahren wurden
die Renten nicht mehr erhöht. Wir
holen nur nach, was zu lange versäumt
wurde.
In den vergangenen Wochen war
keine Partei so oft in den Schlagzeilen
wie die SP: Die sozialliberalen
Kräfte rund um Pascale Bruderer
oder Daniel Jositsch mucken auf.
Haben Sie Ihre Schäfchen nicht im
Griff?
Es ist für unsere Partei gut, dass sich
der rechte Flügel organisiert und die
interne Diskussionskultur belebt. Jeder
Parteipräsident wünscht sich Mitglieder,
die mehr für die Partei arbeiten
wollen. Es ist unser gemeinsames
Interesse, dass die verschiedenen Flügel sichtbar werden – eine Partei
braucht verschiedene Identifikationsfiguren.
Die vor allem deshalb aus der Reihe
tanzen, weil sie Bundesratsambitionen
haben?
Puh, keine Ahnung. Es gibt nicht mal
Ansätze einer Vakanz im Bundesrat.
Am lautesten ruft der ehemalige
SP-Nationalrat Rudolf Strahm aus.
Ihnen wirft er vor, Sie seien «weit,
weit weg von der Basis».
Ich mag Strahm gut. Es fällt mir einfach
auf, dass er nicht mehr ganz auf
dem Laufenden ist und die Diskussion
der 1990er-Jahre fortführt – nämlich,
dass die SP sich nicht um das Thema
Migration kümmere. Mittlerweile sitzen
wir seit Jahren im Justizministerium
und haben die Asylgesetzrevision
massgeblich mitgeprägt. Das spiegelt
sich in Studien, in denen die SP bei Migration
und Integration viel Kompetenz
zugeschrieben wird. Insofern lässt
mich die Kritik kalt.
Sie stehen seit 2008 der SP vor. Wie
lange mögen Sie noch?
Ich wurde erst im Dezember wiedergewählt
und plane, die Partei in die Wahlen
2019 zu führen. In einem Wahljahr
ist die Funktion des Präsidenten besonders
wichtig und ein Wechsel zuvor
ziemlich risikoreich.
Wann auch immer es sein wird:
Wird Cédric Wermuth sie beerben?
Cédric ist einer der besten Politiker seiner
Generation. Alles andere sehen wir
zu gegebenem Zeitpunkt.