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Interview

Chef der Berner Fremdenpolizei erklärt Betrugsmasche von Clans

Clan schweiz
In der Schweiz breiten sich immer mehr Clans aus – die Polizei tappt oft im Dunkeln. Bild: Shutterstock
Interview

«Plötzlich Konkurs»: Chef der Berner Fremdenpolizei über die Betrugsmasche der Clans

Alexander Ott, 61, ist einer der profiliertesten Kämpfer gegen kriminelle Clans, Ausbeuter und Menschenhändler. Im Interview spricht er über seine Methoden und Erkenntnisse und fordert: Die Behörden müssen viel genauer hinschauen.
03.03.2024, 10:38
Henry Habegger / ch media
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Sie haben in Bern immer wieder mit betrügerischen Clans zu tun. So hoben Sie einen Gerüstbauclan aus. Können Sie uns einen typischen Fall eines Clans schildern?
Ich nehme das Beispiel eines Clans aus dem Balkan. Zunächst wird eine Firma gegründet. Diese mietet sich irgendwo ein, oft auch in einer Wohnzone eines Quartiers. Dann beginnt der Firmengründer, Mitarbeiter zu rekrutieren. Das macht er meistens im Heimatland.

Und dann?
Es wird ein Geschäftsführer angestellt. Dieser gehört zur gleichen Ethnie, er kann eine gültige Aufenthaltsbewilligung haben oder eingebürgert sein, aber er hat Kontakte ins Heimatland. Die Landsleute, die er rekrutiert hat, arbeiten bei ihm, aber plötzlich geht das Geschäft in Konkurs. Der Geschäftsführer hat zuvor eine hohe Geldsumme aus der Kasse entnommen. Der Firmengründer eröffnet dann eine neue Firma, unter einem neuen Namen, und macht weiter wie bisher. Das ist eine Art Schneeballsystem.

Was passiert mit den Angestellten?
Dann gehen die betroffenen Arbeitnehmenden mit Arbeitsverträgen zur Arbeitsvermittlung und melden sich dort als arbeitslos an. Die Arbeitslosenkasse zahlt das Arbeitslosengeld, sofern die Betroffenen über eine gültige Aufenthaltsbewilligung verfügen und die übrigen Voraussetzungen erfüllen. Besteht kein Anspruch auf Arbeitslosengeld, so melden sich die Betroffenen mit gültigem Aufenthaltstitel in der Schweiz bei der Fürsorge an.

Manche Mitarbeitende sind illegal da. Was geschieht mit ihnen?
Viele gehen zurück in ihre Heimat. Wenn wir sie aber hier kontaktieren können, fragen wir sie, durch wen und in welchem Land sie rekrutiert worden, welche Geldleistungen sie in der Schweiz erhalten haben, wie man mit ihnen umging. Wir versuchen, Informationen über das Netzwerk zu erhalten. Wenn sie Opfer sind und als Zeugen auftreten, können wir sie in einer Schutzeinrichtung unterbringen. Daraus können Strafverfahren gegen die Hinterleute resultieren, gegen den Firmengründer auch.

Alexander Ott, 61, Chef Fremdenpolizei Bern
Der studierte Philosoph arbeitet seit 1990 für die Stadt Bern. Er ist Vorsteher der Fremdenpolizei und seit 2015 zusätzlich Co-Chef des Berner Polizeiinspektorats. Ott, enger Mitstreiter des Berner Polizeidirektors und Mitte-Nationalrats Reto Nause, ist unter anderem Co-Leiter des runden Tisches des Kantons Bern gegen Menschenhandel und Mitglied der Nationalen Expertengruppe des Fedpol gegen Menschenhandel. Sein Engagement gegen Missbräuche und Ausbeutung gilt schweizweit als vorbildlich.
Alexander Ott
bild: zvg

Wie ist diese Betrugsmasche möglich?
Das Einfallstor dieser Kreise ist das Ausländer- und Integrationsgesetz und das Freizügigkeitsabkommen. Beispiel Familiennachzug: Wenn die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, wird er grundsätzlich genehmigt. In den Fällen, wo wir feststellen, dass zum Beispiel viele Familiennachzüge von Familienangehörigen eines Dorfes im Ausland stattfinden, schauen wir genauer hin.​

Und was sehen Sie?
Zum Beispiel, dass der Mann in seiner Heimat heiratet und seine Frau in die Schweiz nachzieht. Sie ist Analphabetin, erscheint aber plötzlich als Geschäftsinhaberin und Geschäftsführerin. Nur: Wie führe ich als Analphabetin ein Geschäft? Im konkreten Fall übernahm die Ehefrau zum Schein das Geschäft, weil der Mann in Konkurs ging.

Welche Situationen treffen sie noch an?
Ein klassisches Beispiel: Wenn eine Person über einen Fahrzeugpark verfügt, aber arbeitslos ist oder von der Fürsorge unterstützt wird, stellt sich die Frage, wer diesen Fahrzeugpark finanziert. Das müssen wir abklären. Bei einer Fürsorgeabhängigkeit informieren wir zusätzlich die zuständige Behörde über den Sachverhalt. Wichtig ist: hinschauen und versuchen, Muster zu erkennen.​

Bern gilt in Sachen Bekämpfung von Clanstrukturen als vorbildlich. Wie gehen Sie vor?
In Bern gehen wir seit Jahren im Verbund aller Behörden vor, wir sagen dem «Pariter». Das sind Kontrollen, die von verschiedenen Behörden gleichzeitig und in gleicher Weise durchgeführt werden.​

Und wie funktioniert das?
Ein Beispiel: Die Arbeitsmarktkontrolle hat Hinweise auf gravierende Verstösse auf einer Baustelle. Also wird eine Pariter-Aktion lanciert. Wir, die Fremdenpolizei, übernehmen die Koordination. Mit dabei sind die Kantonspolizei, die Orts- und Gewerbepolizei, das Bundesamt für Zoll- und Grenzsicherheit (BAZG), die Arbeitsmarktkontrolle und weitere Partner.

Was geschieht dann?
Nach der Kontrolle findet ein Debriefing statt. Dann arbeitet jede Organisationseinheit ihre Aufträge ab. Bei solchen Kontrollen gibt es öfter auch sogenannte Zufallsfunde. Das heisst, die Kantonspolizei findet Betäubungsmittelprodukte oder der Zoll entdeckt geschmuggelte Waren, etwa in Barbershops. Dann werden Strafverfahren eingeleitet.​

Es kann also sein, dass sich bei solchen Kontrollen zeigt: Shishabars oder Barbershops werden auch für Drogengeschäfte missbraucht?
Das kann sein, aber es ist nicht die Regel. Wir dürfen nicht verallgemeinern! Es gibt auch derartige Geschäfte, die sind völlig in Ordnung. Mit den Paritern können wir eben auch die Spreu vom Weizen trennen.​

Ihr «Pariter» wurde als Modellverfahren in den Nationalen Aktionsplan gegen Menschenhandel aufgenommen. Was hat das alles eigentlich mit Menschenhandel zu tun?
Clans beuten Menschen in Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen aus. Sie nutzen im Grundsatz die schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den Herkunftsländern der Opfer aus. Für diese stellen die hier ausgeübten Tätigkeiten eine der wenigen Verdienstmöglichkeiten dar.​

Aktuell sorgen «Asylsuchende» aus Maghreb-Staaten für Schlagzeilen, die auf Diebestour gehen. Wie sind diese Leute zu verorten?
Das sind organisierte Gruppen. Personen aus dem Asylbereich, welche primär in die Schweiz einreisen und Fahrzeugeinbrüche, Diebstähle aus Fahrzeugen, Ladendiebstähle, Sachbeschädigungen sowie Schlägereien mit Körperverletzungen begehen.

«Wir brauchen eine bessere Zusammenarbeit aller betroffener Behörden, also der Polizei, Justiz, den Verwaltungs- und Migrationsbehörden, der Steuerverwaltung und so weiter.»

Was braucht es, um dieses spezielle Problem zu lösen?
Auch hier braucht es die enge Zusammenarbeit aller involvierten Behörden. Dabei kommt den ausländerrechtlichen Massnahmen eine zentrale Bedeutung zu. Diese greifen aber nur, wenn zuerst die Strafverfolgungsbehörden entsprechend reagieren und die Personen auch verurteilen.​

Warum ist es so schwierig, gegen Clanstrukturen vorzugehen?
Weil uns beispielsweise das unübersichtliche föderalistische System die Arbeit erschwert. Wir brauchen eine bessere Zusammenarbeit aller betroffener Behörden, also der Polizei, Justiz, den Verwaltungs- und Migrationsbehörden, der Steuerverwaltung und so weiter. Sonst bilden sich diese operativ tätigen Clans, und dann passiert das Gleiche wie in Deutschland. Dort haben die Behörden in gewissen Regionen keine Chance mehr, das Recht durchzusetzen.

Deutsche Verhältnisse haben wir noch nirgends in der Schweiz?
Nein, sicher nicht so ausgeprägt. Aber wir müssen die Situation genau im Auge behalten und wo nötig reagieren.​

Sie beobachten die Szene seit Jahrzehnten. Was hat sich in den letzten 20 Jahren verändert?
Vor 20 Jahren hatten wir vor allem Strukturen aus Italien. Heute ist alles viel komplexer. Heute stellen wir grundsätzlich Strukturen auf fünf Ebenen fest.

Welche Ebenen sind das?
Auf der tiefsten Ebene geht es um Betriebe wie Shisha-Bars, Barbershops oder Nagelstudios. Dort treffen wir meist jüngere Mitarbeitende an, die keine Verantwortung im Laden innehaben. Oft sind es Personen, welche sich irregulär in der Schweiz aufhalten, oder um rechtskräftig abgewiesene Asylsuchende, die die Schweiz verlassen müssen. Die Geschäfte sind oft gut sichtbar und an guter Lage anzutreffen.

Und die zweite Ebene?
Hier verändert sich die Tätigkeit: Es geht jetzt eher in Richtung Rotlichtmilieu, dazu kommen Wucher, schuldhafter Konkurs und andere deliktische Tätigkeiten. Zweck sind hier mehrheitlich irreguläre Handlungen, welche sich mit einer regulären Tätigkeit vermischen.​

Die Akteure steigen also von einer Ebene zur anderen?
Wenn sie sich bewähren, ja. Auf der dritten Ebene haben wir Geldverleihinstitute, Zinswucher etc. Das ist für mich die Ebene von Geschäftsführung respektive eines mittleren Managements. Diese Leute übernehmen auch die lokale Steuerung der Aktivitäten, sowohl der legalen wie der illegalen.

Und die vierte Ebene?
Das ist eine Art Leitungs- und Führungsebene. Es geht hier um Aufbau von steuerrechtlichen Betrugsmodellen und Kontaktpflege in die Politik und zu prominenten Persönlichkeiten. Dazu gehören der Aufbau und die Steuerung von Betrieben und Gesellschaften wie zum Beispiel Steuerberatung, Wirtschaftsprüfung und Kontaktaufnahme mit Behörden und Einrichtungen.

Und die höchste Ebene?
Die Akteure sitzen jetzt schon in Vorständen, Geschäftsleitungen, Verwaltungsräten und so weiter. Sie entscheiden und pflegen internationale Beziehungen auf höchster Ebene. Und können so die eigenen Interessen durchsetzen und die Wirkung kontrollieren.​

In den beiden höchsten Ebenen kommen wir also in den besten Gesellschaftsschichten an. Das sind nicht mehr die Mafiosi oder Drogenhändler, wie wir aus dem Film kennen?
Nein, das sind oft Menschen in Kreisen, die als normale Geschäftsleute durchgehen.​

Können wir die Ausbreitung der organisierten Kriminalität noch stoppen und verhindern, dass sie, wie teils im Ausland, ganze Stadtteile beherrscht?
Ja, aber wir müssen wirklich dafür kämpfen. Und das beginnt eben da unten, auf der ersten Ebene, schon hier müssen wir den Hebel ansetzen: bei den Barbershops, den Wettbüros, den Shishabars und so weiter. Eine gute Zusammenarbeit im In- und Ausland ist entscheidend. Es braucht Wissen und Ressourcen. Oft haben wir es mit einer enormen Vielzahl von Firmen zu tun, komplizierte Finanzgeflechte müssen erkannt werden. Wir müssen Kontospuren recherchieren, die über die Landesgrenzen hinausführen.

«Hier ist eine Entwicklung im Gang, die in verschiedenster Hinsicht enorme Schäden anrichtet.»

Brauchen wir auch schärfere Gesetze?
Nein. Aber wir müssen uns effektiv und effizient organisieren, die richtigen Menschen ins Team holen, damit wir diese Zusammenhänge möglichst früh erkennen. Es braucht nach wie vor eine grosse Sensibilisierung.​

Sie sind seit Jahren extrem engagiert an der Arbeit. Was treibt Sie an?
Hier ist eine Entwicklung im Gang, die in verschiedenster Hinsicht enorme Schäden anrichtet. Schon nur finanziell: Schwarzarbeit und irreguläre Beschäftigung vernichten Arbeitsplätze Die Handlungsfähigkeiten des Staates wird geschwächt, das Sozialversicherungssystem umgangen und die Wirtschafts- und Arbeitsordnung untergraben. Wer irregulär arbeitet oder irregulär anwesende Personen beschäftigt, der zahlt weder Steuer noch Sozialabgaben. Aber es werden auch Menschen ausgebeutet, ihre Not wird ausgenützt. All das dürfen wir doch nicht einfach so hinnehmen.

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78 Kommentare
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Oshikuru
01.03.2024 20:50registriert Juni 2016
Ernst gemeinte Frage; Kann man als Normalbürger etwas dagegen tun? Lohnt es sich bei Verdacht Kontakt mit der Polizei aufzunehmen? Oder sollte man das lieber sein lassen?
Leider kenne ich einen Laden, der mit seinen Preisen und Anzahl Kunden unmöglich rentieren kann. Es gibt ihn aber bereits seit 4 Jahren.
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Nachtfrost
01.03.2024 21:29registriert Januar 2019
Vielen Dank für diesen informativen und interessanten Artikel!
Der Mann beschreibt sachlich und nüchtern die Probleme und präsentiert Lösungen dazu. Welche Wohltat gegenüber vielen Politikern, die solche Angelegenheiten nur dazu verwenden, um Ressentiments und Empörung zu schüren, ohne wirklich an einer Lösung interessiert zu sein.
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Steven Collins
01.03.2024 21:16registriert Juni 2023
Top Thema. Wie es in der Prais läuft? Geht auf www.shab.ch. Gebt den Namen Avdiljvahid Zekirovski ein. Schaut wieviel Konkurse er gemacht hat (Zählen kann ich es nicht mehr). Er konnte sich im ZH Handelsregister eintragen lassen obwohl er öffentlich Konkurs und unauffindbar war. Zig Vorinhaber von Firmen übertrugen ihre Firma diesem. Wieso wohl? Waren Schulden vorhanden? Eventuell Covid Kredite? Und was passierte dann? Vielfach werden dann solche Zombiefirmen mit Hintermännern zu professionellen Rechnungsfälschern. Also, pro gefälschte AufwandsRG gibts 5% um die Scharzarbeiter zu verstecken.
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