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Kriminelle Clans mitten in der Schweiz: So sieht ihr Netzwerk aus

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Kriminelle Clans breiten sich in der Schweiz aus – die Behörden tappen oft im Dunkeln.Bild: Shutterstock

Die Schweiz wird von kriminellen Clans unterwandert – so funktioniert das Netzwerk

Sie beginnen klein, zum Beispiel mit einem Barbershop: Kriminelle Clans schlagen Wurzeln und breiten sich bei uns aus. Behörden sind heute weitgehend machtlos. Wie ist die Lage? Was muss ändern? Wir gehen diesen Fragen in einer mehrteiligen Serie nach.
29.02.2024, 22:3729.02.2024, 22:37
Henry Habegger / ch media
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«An bester Lage» mitten in der Altstadt befand sich «das grosse Nagelstudio», wie die Solothurner Zeitung im letzten November misstrauisch berichtete. Die allesamt männlichen Angestellten im Geschäft, die fleissig und günstig zur Zufriedenheit der Kundinnen die Nägel lackierten, sprächen kaum Deutsch, kämen alle aus Vietnam.

Für Beobachter sieht dies nach Ausbeutung von Personen aus, die sich nicht wehren können, weil sie womöglich keine ordentliche Aufenthaltsbewilligung haben.

Aber der Betreiber, selbst Vietnamese, schien nichts zu verbergen zu haben. Die Journalistin durfte Fotos machen von den Vietnamesen, die, in Viererreihe am langen Tisch, im Akkord die Nägel der weiblichen Kundschaft aus der Region lackierten. Sein Personal sei legal da, habe Ausländerausweis F, erhalte einen «guten Lohn», bei gutem Geschäftsgang sogar einen Bonus.

Nagelstudio Solothurn
«Lotus Nails and Beauty», Nagelstudio in der Stadt Solothurn.bild: christina varveris

Die Zeitung fragte beim Migrationsamt Solothurn nach. Dort heiss es: Es seien bisher keine Verstösse gemeldet worden.

In manchen Quartieren bilden sich besondere Szenen

Wechsel zu einer Szene, wie sie ähnlich auch andernorts anzutreffen ist. Eine Strasse beim Bahnhof in einer mittelgrossen Stadt irgendwo in der Deutschschweiz. Es gibt Banken dort, eine Post, Apotheken, ein Ärztezentrum, Handyshops, Optiker.

Vor Jahren fand man hier noch Einrichtungen wie einen Geschenkladen, ein Fachgeschäft für Innenausbau, die Redaktion einer Lokalzeitung, einen lokalen Sportartikelhändler, einen einheimischen Grossverteiler, einen Posten der Kantonspolizei. Sie alle sind abgestorben, eingegangen, ausgesiedelt, weggespart. Auch, weil die Mieten für viele zu teuer wurden.

In den letzten Jahren hat sich eine besondere Szene gebildet. Im Umkreis von 100 Metern finden sich zwei Nagelstudios, eine Shishabar, ein Shishashop, ein Pizza-Kebab, drei Barbershops, zwei Personalvermittler. Nicht weit weg ein Schmuck- und Goldhandel, ein weiterer Barbershop.

Die Liegenschaften, in die sich die Geschäfte hauptsächlich eingemietet haben, gehören Immobilien-Investmentfirmen mit Sitz in Zürich oder Zug, einem Investmentfonds einer Grossbank, der Anlagestiftung einer Lebensversicherung, aber auch lokalen Grössen. Es sind Renditeobjekte, die nicht billig zu haben sind.

Protzige Autos vor der Shishabar und dem Billig-Coiffeur

Die aktuelle Preisliste in einem dieser Barbershop: Haarschnitt 25 Franken, Lehrlinge zahlen 20, Kinder 15. Bart stutzen für 12 Franken.

Der Pizza-Kebab erhält an einem dieser Tage gegen elf Uhr Besuch von einem jungen Mann, der seinen weissen Luxuswagen mit Zürcher Kennzeichen auf der anderen Strassenseite parkiert hat. Ist er durch die halbe Schweiz gefahren, um in der Provinz einen Kebab zu kaufen? Denkbar.

Aber in dieser Strasse gehören protzige Luxusautos, auffallend viele mit Zürcher Kennzeichen, mittlerweile zum Alltagsbild.

Immer, wenn bei solchen Strukturen Tiefstpreise angeboten werden, ist Vorsicht angesagt. Der Umsatz, den solche Etablissements erzielen, reicht oft offensichtlich nicht, um die hiesigen Kosten zu decken, geschweige denn, um einigermassen anständige Löhne zu zahlen.

Natürlich laufen nicht in allen diesen Geschäften kriminelle Aktivitäten, und natürlich darf es keinen Generalverdacht geben. Aber fest steht: Nicht selten werden in solchen Geschäften Mitarbeitende durch Hinterleute ausgebeutet, die Lokale dienen nicht selten der Geldwäsche, dem Drogenhandel, dem Menschenhandel, dem Zinswucher, Steuerbetrug und anderem mehr. Die Clans, die dahinterstehen, sind international und vernetzt, Schweizer wie Ausländer mischen mit, sie kommen aus China oder Vietnam, dem Balkan oder Afrika, aus Syrien oder dem Libanon. Aus aller Welt.

Problem: Behörden wissen sehr wenig über diese Strukturen

Ein grosses Problem ist: Heute wissen selbst die Behörden in der Regel nicht, was sich im konkreten Fall hinter solchen Strukturen verbirgt.

Eindrücklich geht dies aus einer Bestandesaufnahme hervor, die der Bund letztes Jahr ausarbeiten liess. Unterstützt von drei externen Experten wollte das Bundesamt für Polizei (Fedpol) von Polizeikorps, Staatsanwaltschaften und anderen Behörden in der ganzen Schweiz wissen: Wie steht es um die «behördlichen Instrumente zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität in der Schweiz»? Haben wir die organisierte Kriminalität unter Kontrolle?

Der Tenor der Antworten war klar: Nein, wir haben nichts unter Kontrolle.

An der Umfrage nahmen einerseits die Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften von Bund und Kantonen teil. Andererseits die «zivilen» Behörden wie Migrationsämter, Handelsregister, Grundbuchämter, Steuerbehörden, Arbeitsmarktbehörden und so weiter.

Auf die Frage «Wie stark ist Ihrer Meinung nach die Schweiz von organisierter Kriminalität unterwandert?», antworteten 80 Prozent der Strafverfolgungsbehörden mit «mittel oder hoch». Befragt wurden hier Bundesanwaltschaft, Staatsanwaltschaften, Kantonspolizeien und weitere.

Kriminelle Clans

Bei den zivilen Behörden waren knapp 70 Prozent der Meinung, dass die Unterwanderung durch die organisierte Kriminalität in der Schweiz «mittel» oder «hoch» sei.

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Die Deutlichkeit der Aussage hat die Experten überrascht, wie aus der Studie hervorgeht, «gerade weil sie sowohl von den Strafverfolgungsbehörden als auch den zivilen Behörden stammt».

Und weil auch die zivilen Behörden davon ausgehen, dass das organisierte Verbrechen in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich aktiv ist: Knapp 60 Prozent von den befragten Stellen gaben an, dass sie «mit Aktivitäten der organisierten Kriminalität konfrontiert» sind. Und besonders brisant: Bei den Steuerbehörden gaben über 70 Prozent an, dass das organisierte Verbrechen in ihrem Bereich besonders aktiv ist. Bei den Migrationsbehörden lag dieser Wert sogar bei über 80 Prozent.

Clans Schweiz

Ist-Zustand: «Relative Passivität und Erfolglosigkeit im Kampf gegen OK»

Dieser alarmierende Befund der Behörden stehe nicht nur in auffallendem Kontrast zur «in der Öffentlichkeit verbreiteten Auffassung, die Schweiz sei nicht von Organisierter Kriminalität betroffen», so die Studienautoren. Er kontrastiere auch mit «der relativen Passivität beziehungsweise Erfolglosigkeit bei der Bekämpfung dieser Form der Kriminalität».

Die Behörden wissen meist wenig über diese Gangster-Clans und ihr Vorgehen. Die vorhandenen Lagebilder etwa sind unvollständig. Und es gibt grosse Defizite beim Informationsaustausch, insbesondere bei der Amts- und Rechtshilfe. Mehr als die Hälfte der Strafverfolgungsbehörden geben in der Studie an, dass hier zu grosse Hindernisse bestehen: «Datenschutz und Amtsgeheimnisse» erschweren den Informationsaustausch «sowohl zwischen Strafverfolgungsbehörden als auch mit den zivilen Behörden».

Die eine Behörde weiss oft nicht, welche Informationen die andere über bestimmte Personen und Vorgänge hat. Faktoren wie Datenschutz oder Föderalismus erschweren den Austausch oder verunmöglichen ihn sogar. Die Behörden wagen oft auch aus Angst vor einer Amtsgeheimnisverletzung nicht, ihre Feststellungen weiterzugeben.

Daher verlangen viele betroffene Behörden nun rechtliche Grundlagen für den Informationsaustausch bis hin zu Meldepflichten beim Verdacht auf Aktivitäten der organisierten Kriminalität.

Blockierte Behörden als Helfer von Kriminellen

Die heutigen Hindernisse beim Informationsaustausch, selbst innerhalb eines Kantons, sind eine Art staatliche Beihilfe für das organisierte Verbrechen. Beispiele gibt es in Hülle und Fülle. So führte die Stadt Bern vor einigen Jahren Razzien in der Barbershop-Szene durch. Sie stiess auf haarsträubende Verstösse und schloss etwa zehn dieser Shops. Diese dislozierten zum Teil einfach in eine andere Stadt - die Rede ist von Thun - und machten dort weiter. Oder der Gerüstbauer, der im Kanton Bern Konkurs machte, zieht einfach weiter in den Kanton Freiburg, als wäre nichts geschehen.

Die drei externen Experten, die an der Studie arbeiteten, haben alle einschlägige Erfahrungen mit der Mafia: Annamaria Astrologo ist Rechtsprofessorin an der Universität Lugano und akademische Leiterin des Observatoriums über die organisierte Kriminalität. Peter Müller war Vizedirektor des Bundesamts für Justiz. Umberto Pajarola ist Zürcher Staatsanwalt in der Abteilung Organisierte Kriminalität.

Dieses Expertenteam formulierte aufgrund der Studienergebnisse eine ganze Reihe von Empfehlungen an die politisch Verantwortlichen von Bund und Kantonen. Unter anderem: besserer Informationsaustausch, Melderecht oder sogar Meldepflicht, mehr personelle und materielle Ressourcen, Prüfung einer Kronzeugenregelung, um an die Bosse der Clans heranzukommen.

Die Sache mit der Kronzeugenregelung ist bezeichnend dafür, wie leichtfertig der Bundesrat bisweilen mit dem Thema umgeht. Letztes Jahr, noch unter Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider, sprach er sich in der Antwort auf ein Postulat dagegen aus, in einem Bericht die Vor- und Nachteile einer Kronzeugenregelung darzulegen.

Der Bundesrat verwies darauf, dass eine solche Regelung ja vor Jahren wiederholt abgelehnt worden sei. Ermittler rauften sich die Haare. Immerhin stimmte der Ständerat dem Postulat dann trotzdem zu. Ob der neue Justizminister Beat Jans mit mehr Engagement an die Arbeit geht? Er wird bald entscheiden müssen, wie er dem organisierten Verbrechen den Kampf ansagen will.

Beim Nagelstudio in Solothurn kamen Unregelmässigkeiten zum Vorschein

Zurück zum Nagelstudio in Solothurn. Zum Glück gibt es dort noch eine lokale Zeitung.

«Warum sind sie alle weg von heute auf morgen?», schrieb ein Leser ein paar Tage nach dem Bericht über das Nagelstudio in die Kommentarspalte. Der Zeitungsbericht hatte also offensichtlich etwas bewirkt.

Die Journalistinnen fragten bei den Behörden nach. Es zeigte sich: Die Polizei war nach dem Zeitungsbericht aktiv geworden, sie kontrollierte das Nagelstudio zweimal und stellte «Widerhandlungen gegen das Arbeits- und Ausländergesetz fest». Der Betreiber werde angezeigt. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Die fleissigen Vietnamesen tauchten nicht wieder auf. Das Studio ist weiterhin geöffnet, allerdings mit anderem Personal. Zum Führen eines Nagelstudios (und anderer Etablissements dieses Schlags) braucht es keine Bewilligung, also kann auch keine entzogen werden.

Dabei dienen gerade solche Geschäfte internationalen kriminellen Clans manchmal dazu, in Städten und Dörfern das Terrain zu sondieren, sich festzusetzen und auszubreiten.

Dazu mehr in Teil 2 der Serie.

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196 Kommentare
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Snowy
29.02.2024 22:54registriert April 2016
Danke, dass ihr hier den Finger drauflegt.
Bitte dranbleiben.

Wir müssen Clanstrukturen wie in Deutschland mit allen Mitteln verhindern.
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Soilmate
29.02.2024 23:25registriert Februar 2024
Schaffhausen, zig Barbershops an bester Lage, kaum Kunden. Ich hab kein Bock das es hier auch nur ansatzweise wie in Berlin endet.
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Deutero Nussuf
29.02.2024 23:03registriert Januar 2016
Ganz genau das habe ich schon seit Jahren vermutet und ebenso die (weissen) Zürcher Limousinen auf der anderen Strassenseite des Kebab-Ladens beobachtet.
Ebenso klar, dass der Barbershop in der Nähe eine Geldwaschanlage ist. Die schiessen ja aus dem Boden wie Pilze an einem sonnigen Herbsttag.
So offensichtlich und die Behörden können nichts dagegen tun???
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