Schweiz
Romandie

Wie ein bulgarischer Clan seine Opfer zum Betteln in die Schweiz schickt

Bettler sollen in Genf vorerst nicht mehr bestraft werden. (Archivbild)
Ein Bettler in Genf.Bild: sda

Wie ein bulgarischer Clan seine Opfer zum Betteln in die Schweiz schickt – und abkassiert

Eine Spende an eine bettelnde Person soll Gutes bewirken, doch in einem brisanten Fall aus der Romandie könnten so Hunderttausende Franken in die Hände von Menschenhändlern geflossen sein. Gerichtsdokumente erlauben einen Blick hinter ihre Machenschaften.
08.02.2024, 09:12
Julian Spörri / ch media
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Auch wenn sie im Pulk der vorbeiziehenden Menschen oft untergehen, sind Bettlerinnen und Bettler hierzulande eine Realität. Selbst im Winter harren sie aus - in der Hoffnung, dass eine Münze in ihrem Pappbecher landet. Doch wer profitiert vom Geld?

Ein Fall aus Genf rüttelt auf. Dass die Barmherzigkeit von Passanten ausgenutzt wird, ist dabei noch der geringste Vorwurf. Ein bulgarischer Clan soll in seinem Heimatland Menschen aus prekären Verhältnissen rekrutiert oder «gekauft», in die Schweiz geflogen und in Genf und Lausanne für sich betteln lassen haben - wie moderne Sklaven. Insider sprechen von einem «Familienunternehmen»: Es geht um hohe Geldbeträge, die nicht in den Taschen der Bedürftigen, sondern bei der Familie in Bulgarien gelandet sein sollen.

CH Media hat den Fall mit Gerichtsdokumenten rekonstruiert. Sie geben Einblick in ein kriminelles Business, das auch andernorts vermutet wird. «Die Schwierigkeit liegt darin, die Vorgänge lückenlos aufzudecken und vor Gericht zu bringen», weiss Alexander Ott, Chef der Fremdenpolizei der Stadt Bern und Experte im Kampf gegen den Menschenhandel.

Bei Bettlerinnen und Bettlern handle es sich um vulnerable Menschen, die normalerweise gegenüber der Polizei keine Aussage machten, sagt Ott. Betroffene seien sich ihrer Ausbeutung zudem oft gar nicht bewusst. Umso grössere Hoffnungen hege er nun in den Genfer Fall:

«Wir hoffen, neue Erkenntnisse zu gewinnen, wie der Rekrutierungsprozess genau abläuft und die Abhängigkeit der Bettler konkret ausgenutzt wird.»

Zwei Männer bereits verurteilt

Schwung erhielten die Ermittlungen in Genf im August 2021: Die Polizei nahm ein bulgarisches Ehepaar, zwei seiner Söhne sowie einen Neffen aufgrund des Verdachts der Zwangsbettelei fest. Sie gehören der Minderheit der Roma an, wie viele der mutmasslichen Opfer auch. Bei den Einsätzen traf die Polizei auf rund 30 Personen, die in Notunterkünften schliefen, darunter drei Kleinkinder.

Mittlerweile sind einer der Söhne und der Neffe wegen Menschenhandels und Geldwäsche verurteilt. Beide anerkannten die jeweilige Anklageschrift der Genfer Staatsanwaltschaft. Laut ihr haben die beiden Männer unabhängig voneinander je mindestens zwei vulnerable Bulgaren rekrutiert, für sich betteln lassen und ihnen «die Gesamtheit» oder «fast die Gesamtheit» der Einnahmen abgeknöpft. Ihre Gefängnisstrafen belaufen sich auf 35 und 30 Monate, die Hälfte davon auf Bewährung.

Im April stehen nun auch das Ehepaar und ein weiterer Sohn vor dem Genfer Strafgericht. Für sie gilt die Unschuldsvermutung. Gemäss Anklage sollen Vater und Sohn für die Rekrutierung von bulgarischen Staatsangehörigen zuständig gewesen sein, während die Mutter bei deren Überwachung in Genf und Lausanne mitgeholfen habe. So hätte die Familie sichergestellt, dass ‹ihre› Bettlerinnen und Bettler fleissig seien. Die Staatsanwaltschaft schätzt die Einkünfte auf «mehrere hunderttausend Franken». Die Familie soll sich so ihren Lebensunterhalt finanziert haben.

Wie viel Geld pro Tag zusammen kommt, zeigt das abgeschlossene Verfahren gegen ihren Sohn: Er hat in Genf mit einem Bettler durchschnittlich 80 Franken pro Tag erwirtschaftet, mit einem anderen in Wien waren es täglich 150 Euro.

Verwandte fallen sich in den Rücken

Derselbe Sohn anerkannte, zwei Jahre lang Geld von Bettlerinnen und Bettlern nach Bulgarien gesandt zu haben. Er wusste offenbar, dass diese ausgebeutet wurden, unter anderem von seinem Vater.

Die Geldtransfers erfolgten über Plattformen wie Ria oder Western Union. Sie bilden wichtige Beweisstücke. Dank ihnen konnte die Staatsanwaltschaft belegen, dass das Gros der Einkünfte - anders als versprochen - nicht den Familien der Bettler, sondern ihrem eigenen Clan in Bulgarien zufloss.

Das Familienimperium begann auch deshalb zu bröckeln, weil einige Verdächtigte gegen ihre Verwandten aussagten. Dadurch rückte die Mutter des verurteilten Neffen in den Fokus. Es handelt sich um die Schwägerin des Ehegatten, der im April vor Gericht steht. Für die Frau gilt die Unschuldsvermutung.

Sie sitzt seit einem Jahr in Untersuchungshaft. Noch steht keine Anklage. Weil sich die Frau aber vergeblich bis vor Bundesgericht gegen die Haft gewehrt hat, sind die Anschuldigungen bekannt. Sie wird für den Zeitraum von 2018 bis 2021 der Zwangsbettelei verdächtigt. Teilweise sei sie zusammen mit ihrem Ehemann vorgegangen, der 2021 verstarb, sowie ihrem Sohn, der für die Zeit von Januar bis August 2021 rechtskräftig verurteilt wurde.

Das Bundesgerichtsurteil listet fünf mutmassliche Opfer auf: Zu ihnen zählen eine 29-Jährige, die der verstorbene Ehemann der Beschuldigten in einem bulgarischen Waisenhaus «gekauft» haben soll, und ein 53-Jähriger mit psychischen Defiziten, den sie selbst «gekauft» hätte. Eine weitere Person wird als kinder- und partnerlos mit «sehr tiefem» Einkommen beschrieben. Der gemeinsame Nenner der mutmasslichen Opfer ist die Not und Armut.

Einer der Bettler sagte aus, dass die Frau nach dem Tod ihres Mannes die «grosse Chefin» geworden sei. Die Beschuldigte selbst stellte sich in den Einvernahmen als Opfer ihres gewaltsamen Ehegatten dar. In der Tradition der Roma gebe der Mann die Befehle. Folglich hätte ihr Sohn die Geschäfte seines verstorbenen Vaters übernommen.

So sind Bettler in der Schweiz organisiert

Für Alexander Ott kommen die familiären Verstrickungen nicht überraschend. «Wir wissen, dass osteuropäische Bettlerinnen und Bettler in der Schweiz in patriarchalen Familienstrukturen organisiert sind.»

Laut dem Chef der Fremdenpolizei Bern gibt es zwar bettelnde Einzelpersonen aus Ländern wie Deutschland und Italien. Bei Bettlerinnen und Bettlern aus Bulgarien und Rumänien handle es sich aber «ausnahmslos» um Mitglieder von Clans. Das heisse nicht, dass zwingend Ausbeutung mit im Spiel sei. «Es ist extrem schwierig, die Linie zwischen organisierter Bettelei und Zwangsbettelei zu ziehen», sagt Ott. Er empfiehlt, ausländischen Bettlern kein Bargeld zu geben.

Das Sozialwerk Pfarrer Sieber rät dagegen, sich auf sein Bauchgefühl zu verlassen, wie Sprecher Walter von Arburg sagt. Die Hilfsorganisation ist in Zürich aktiv. Wie in der Mehrheit der Kantone ist Betteln dort ausdrücklich verboten. Von Arburg sagt, dass bettelnde Banden seines Wissens in Zürich die Ausnahme darstellten. Die meisten ihm bekannten Bettler seien Obdachlose oder Suchtkranke. Da es hierzulande gute Versorgungsnetze wie Notschlafstellen gebe, sei es oft sinnvoller, «ihnen statt Geld Zeit zu schenken und mit ihnen das Gespräch zu suchen». Das stärke ihre Würde und ermögliche es, mehr über die geplante Verwendung des erbettelten Geldes zu erfahren.

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184 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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MarGo
08.02.2024 09:23registriert Juni 2015
Das ist nun wirklich nichts Neues...
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bodenfräse
08.02.2024 09:48registriert Februar 2022
In den letzten Monaten hat sich ein neues Geschäftsmodell fast schon etabliert: an Autobahnraststätten wurde ich bereits 3x von Einzelpersonen oder Frauen - Pärchen angesprochen: «Man» habe eine Panne gehabt, und hätte die Reparatur Bar zahlen müssen- das wäre stimmig und normal, dass man eine Reparatur auf der Autobahn zahlen muss. Nun fehle das Geld für Benzin und die Weiterfahrt nach Italien. Blöd nur, wenn man dazu auf der falschen Fahrtrichtung steht. Und trotz italienischem Kennzeichen (noch) schlechter italienisch spricht als ich selbst ;)
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Gina3
08.02.2024 09:42registriert September 2023
Neulich:13:30 Uhr in einem fast leeren Regionalzug.
Ich will gerade mein Buch lesen. Ein Mann kommt auf mich zu und bittet um ein Almosen.
"Nein", sage ich. Ein anderer Mann kommt dazu und bittet mich um ein Almosen. Wir sind nur zu dritt; da stehe ich abrupt auf, sage laut "nein". Und ich gehe in einen anderen Wagen. Hier erzähle ich mit lauter Stimme, was gerade passiert ist, und frage, ob die zwei auch hier waren. Tatsächlich waren sie auch hier aufdringlich.
Ich habe das am Schalter am Bahnhof gemeldet.
Meine Empfehlung: Zwischenfall melden, laut sprechen.
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