Der Fall «Carlos» begann vor zehn Jahren mit einer medialen Inszenierung. Das Schweizer Fernsehen strahlte Ende August 2013 eine Dokumentation über den inzwischen verstorbenen Zürcher Jugendanwalt Hansueli Gürber aus, in dem die Figur «Carlos» auftauchte.
Hinter dem Pseudonym verbarg sich ein 17-jähriger Messerstecher, der mit einem Sondersetting auf den richtigen Weg geführt werden sollte. So erhielt er staatlich finanziertes Boxtraining. Der Film zeigte, wie der durchtrainierte Mann auf einen Boxsack einprügelte. Der «Blick» skandalisierte das Sondersetting als «Sozial-Wahn». Die Zürcher Regierung brach es darauf ab und der Täter geriet wieder auf die schiefe Bahn.
Heute legt der 27-Jährige Wert darauf, mit seinem vollen Namen genannt zu werden: Brian Henry Keller. Derzeit befindet er sich im Gefängnis Zürich, in einer scheinbaren Endlosschlaufe. Er sitzt in Sicherheitshaft, weil er Aufseher angegriffen haben soll.
Brian ist ein mediales Phänomen geblieben. Das Drehbuch der Inszenierung schreibt der Straftäter nun jedoch selber. Er filmt sich regelmässig mit einem Handy in seiner Gefängniszelle und verbreitet die Videos auf seinen eigenen Social-Media-Kanälen.
Im neusten Instagram-Beitrag steht Brian mit nacktem Oberkörper vor seiner Kamera und sagt: «Es geht mir so auf die Nerven, was in meinem Fall passiert, und das in der Schweiz.» Seit bald sechs Jahren sitze er nun in Untersuchungshaft. Das müsse man sich mal vorstellen. In den meisten anderen Ländern sei eine längere Dauer als sechs Monate gar nicht erlaubt.
Hinzu komme, dass er einzig wegen Straftaten beschuldigt werde, die er im Gefängnis begangen haben solle. Der schlimmste Fall sei ein Beamter, der nur Rötungen davon getragen habe. Ihn selber habe es schlimmer getroffen. Er sei von den Beamten in Handschellen verprügelt worden und habe sichtbare Verletzungen davongetragen.
Man wolle ihn als Monster darstellen: «Selbst wenn ich ein Monster wäre, ich bin sicher kein Engel, kein Mensch darf so behandelt werden.» Das Schlimme daran sei, dass im Gefängnis kein Mensch besser werde. Im Gegenteil: «Wir bekommen hier viel Hass und Wut auf das System. Wir werden nie mit dem Staat kooperieren», warnt er.
Auf Instagram wird im Gegensatz zu Twitter weniger die Kontroverse, sondern mehr der Konsens gesucht. Es geht darum, Gleichgesinnte zu finden und Likes zu verteilen. Doch Brian findet hier keine Bubble von Unterstützern. Es gibt nur wenige, die ihn anfeuern. Ein Fan schreibt:
Viele Leute kritisieren Brian dafür, dass er die Schuld nur bei anderen und nicht auch bei sich selber sieht. «Sei froh, dass du in der Schweiz bist. In einem anderen Land würden sie dich nicht so verhätscheln», schreibt jemand. Ein anderer macht sich über Brians Selbstmitleid lustig und postet weinende Emojis. Brian antwortet persönlich: «Du kleiner Hs.» Die Abkürzung steht für Hurensohn.
In den meisten anderen Videos zeigt sich der berühmte Häftling bei Boxübungen in seiner Zelle. In einer Aufnahme trägt er ein T-Shirt mit einem Zitat seines Idols, des Boxers Muhammad Ali: «Ich bin der Grösste!» Mit zusammengekniffenen Augen führt er ein aggressives Schattenboxen auf.
Einer kommentiert: «Wenn er rauskommt, kann er direkt auf einer Baustelle arbeiten.» Brian reagiert persönlich: «Wenn ich rauskomme, ficke ich direkt deine Mutter.» In einem weiteren Beitrag spannt er seinen Bizeps an und schreibt dazu: «FICK DEN STAATSANWALT UND DEN RICHTER». Im Hintergrund sind die Gitterstäbe zu sehen.
Ein Gefängnisinsasse, der ungefiltert mit der Öffentlichkeit kommuniziert: Das gab es in der Schweiz noch nie. Im geschlossenen Vollzug haben die Insassen nur beschränkte Möglichkeiten, mit der Aussenwelt zu kommunizieren. Sie können in der Regel im Besuchszimmer Gäste empfangen, ein Telefon der Anstalt benutzen oder Briefe schreiben. Diese Kommunikation wird aber eingeschränkt und kann überwacht werden. Auch Besuche von Journalisten müssen von den Behörden bewilligt werden.
Brian umgeht die Regeln, indem er mit mutmasslich geschmuggelten Handys direkt mit der Aussenwelt kommuniziert. Das ist ihm erst möglich, seit er nicht mehr in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies sitzt. Dort sind Detektoren installiert, die Mobilfunksignale erkennen und dann Alarm schlagen. Dennoch sind Handys auch in der Pöschwies eine begehrte Schmuggelware. Jeden Monat werden mehr als zwei Geräte sichergestellt.
Im Gefängnis Zürich wird der Kampf gegen geschmuggelte Handys weniger streng geführt. Seit Brian in dieses Untersuchungsgefängnis verlegt wurde, gelingt es ihm regelmässig, in die virtuelle Welt auszubrechen. Er musste allerdings eine Sendepause einlegen, weil er zeitweise kein Handy mehr hatte. Stolz meldete er sich zurück, als er wieder online war.
In Deutschland hat vor fünf Jahren der erste Knast-Youtuber Schlagzeilen gemacht. Der Kanal war so erfolgreich, dass der Straftäter den Kanal auch nach seiner Freilassung weiterführt und dank 110'000 Abonnenten ein Einkommen mit Werbegeldern erzielen kann. In einem Beitrag erklärt er, auf welchen Wegen die Handys ins Gefängnis gelangen.
Der deutsche Youtuber hat eine grosse Fangemeinde aufgebaut, weil er reflektiert und selbstkritisch aus dem Gefängnisalltag berichtet. Diese Selbstkritik fehlt Brian. Er inszeniert sich als Opfer, was bei grossen Teilen des Publikums schlecht ankommt.
Dennoch hat es Brian geschafft, ein Netzwerk von Aktivisten aufzubauen. Ein Künstlerkollektiv namens «Big Dreams» hat seinen Instagram-Kanal vor zwei Jahren für ihn eingerichtet. Das Projekt startete harmlos mit Briefen aus der Haft. Brian notierte in krakeliger Schrift Nachrichten auf Papier, das die Künstler fotografierten und online stellten.
Die Künstlergruppe baute zudem einen Onlineshop mit Merchandise zum Fall auf. Für 150 Franken vertreibt sie ein «Carlos Construction Kit». Es handelt sich um eine Plastikfigur, die Brian ähnelt. Dunkler Teint, viele Muskeln, grimmiger Blick, gekrauste Haare. Das Modell ist nur mit einer Boxhose bekleidet. Auf dem Bund steht in der «Blick»-Schrift «Sick» geschrieben. Die Künstlergruppe will damit symbolisieren, wie ein medialer Skandal konstruiert und ein Mensch dabei dekonstruiert werde.
Brian hat dieses Narrativ übernommen. Justiz und Medien hätten ihn zu einem Monster gemacht und nun tobt dieses Monster schattenboxend hinter Gittern, lautet die Botschaft.
Die Ästhetik bleibt dieselbe wie vor zehn Jahren. Als die mediale Skandalisierung begann, dominierten die Bilder des boxenden dunkelhäutigen Mannes die Berichterstattung. Das Künstlerkollektiv kritisierte die Inszenierung als rassistisch, weil ein dunkelhäutiger Körper als Kampfmaschine dargestellt werde. Brian wählt nun aber für seinen Social-Media-Auftritt dieselbe Bildsprache. Die Grenzen zwischen der Kunstfigur und dem Original verwischen.
Paradox ist an diesem Fall allerdings auch, dass ausgerechnet die direkte Kommunikation über soziale Medien ausser Kontrolle gerät. Die indirekte Kommunikation über klassische Medien prägt Brians Anwaltsteam hingegen erfolgreich.
Der «Blick» führt die Berichterstattung nämlich schon lange nicht mehr an. Inzwischen sind die «Republik», die «NZZ» und sogar der «Guardian» in diesem Fall am besten informiert. Sie erhalten von Brians Team einen exklusiven Zugang und verbreiten dadurch seine Opferperspektive. Demnach verhalte er sich seit der Verlegung ins Gefängnis Zürich unproblematisch und befinde sich zu Unrecht in Sicherheitshaft. Mit seinen Social-Media-Auftritten demonstriert Brian seine Aggressivität allerdings selber. (aargauerzeitung.ch)
Er schadet sich selber, von sozialisierung keinen Hauch zu sehen.
Ich glaube, er wird uns noch eine Menge Geld kosten in seinem Leben. Aber lieber das, als ständig eine unberechenbare Gefahr draussen zu haben.
Also zB welche Feile die Beste ist?
😉