Der Entscheid des Bundesgerichts, die Abstimmung über die Heiratsstrafe zu annullieren, war ein Novum in der Geschichte des Bundesstaates: Noch nie wurde eine Abstimmung auf nationaler Ebene für ungültig erklärt. Die mündliche Begründung der Lausanner Richter: Die unvollständigen und intransparenten Informationen des Bundesrats hätten die Abstimmungsfreiheit der Stimmbürger verletzt. Die schriftliche Urteilsbegründung steht noch aus.
Die Möglichkeit der Abstimmungsbeschwerde bei eidgenössischen Abstimmungen besteht erst seit 2007. Zuvor musste der Bundesrat darüber befinden, wenn Stimmbürger Beschwerden wegen verletzter Abstimmungsfreiheit einreichten.
Die Möglichkeit zum Gang ans Bundesgericht führte in den letzten Jahren zu einer markanten Zunahme der Einsprachen, wie Staatsrechtsprofessor Markus Schefer gegenüber dem Tages-Anzeiger sagte. Trotz der häufiger gewordenen Beschwerden wurde bis gestern nie eine Abstimmung annulliert.
Die Unternehmenssteuerreform (USR) II wurde 2008 an der Urne äusserst knapp angenommen. 50,5 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sprachen sich für die Vorlage aus. Grundlage der USR waren die Zahlen des Bundes, die Steuerausfälle von etwas mehr als 800 Millionen Franken prognostizierten – tatsächlich entgingen dem Fiskus wohl mehrere Milliarden an Steuergeldern. Die SP reichte daraufhin eine Beschwerde am Bundesgericht ein.
Bei seinem Entscheid zwei Jahre später anerkannte Lausanne zwar, dass die Abstimmungsfreiheit verletzt wurde und den Stimmberechtigten eine sachgerechte Meinungsbildung und -äusserung verwehrt blieb. Dennoch lehnten die Richter die Beschwerde ab: Weil das Gesetz bereits in Kraft getreten war, hätte eine Annullierung der Abstimmung zu grosser Rechtsunsicherheit geführt. Die SP sprach vom «grössten Abstimmungsbetrug der Schweizer Geschichte».
«Haarsträubend» sei die Informationspolitik des Bundes, beklagten sich die Initianten noch im Abstimmungskampf. Nach der Ablehnung im April 2018 wurde eine Abstimmungsbeschwerde wegen zwei Medienmitteilungen eingereicht. Das Bundesgericht anerkannte eine unzulässige Einmischung von Nationalbank und Finanzdirektorenkonferenz, lehnte die Beschwerde aber dennoch ab. Wegen des klaren Neins (75 Prozent) sei eine massgebende Beeinflussung nicht gegeben.
Der Abstimmungskampf zum Referendum über das Geldspielgesetz trieb seltsame Blüten. Befürworter warnten in ihrer Kampagne vor verlotterten Kinderspielplätzen und geschlossenen Elefantengehegen bei einer Ablehnung. Das Referendumskomitee liess sich von ausländischen Geldspiel-Anbietern unterstützen. Das Stimmvolk sagte Ja zum Gesetz – mit satten 72,9 Prozent.
Die Piratenpartei reichte daraufhin Beschwerde gegen das Geldspielgesetz ein, weil der Staat «zu viel Propaganda gemacht» und den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern «falschen Zahlen» im Abstimmungsbüchlein präsentiert habe. Im Fokus stand die Konferenz der Kantonsregierungen, sowie Swisslos und Sport-Toto-Gesellschaft. Diese hätten sich unzulässig in den Abstimmungskampf eingemischt.
Das Bundesgericht lehnte die Beschwerde ab: Zwar sei nicht auszuschliessen, dass der von der Sport-Toto-Gesellschaft finanzierte Betrag im Abstimmungskampf unverhältnismässig gewesen sei. Angesichts des klaren Entscheids an der Urne sei aber nicht davon auszugehen, dass die Interventionen etwas am Ausgang geändert hätten.
Auch bei der Abstimmung über die Sozialdetektive 2018 beschwerten sich die Gegner über eine angeblich verharmlosende Darstellung der Überwachungsmöglichkeiten, die das neue Gesetz biete. Dimitri Rougy, Vorsitzender des Referendumskomitees, sagte bereits im Vorfeld, die Auslegungen des Bundesrats seien «unzulässig».
Nach der Niederlage an der Urne gelangten die Gegner mit einer Abstimmungsbeschwerde ans Bundesgericht. Der Entscheid des Bundesgerichts steht noch aus, angesichts des klaren Abstimmungsausgangs (65 Prozent Ja) scheint eine Annullierung allerdings eher unwahrscheinlich.
Auch vor der Einführung der Abstimmungsbeschwerde ans Bundesgericht im Jahr 2007 gab es schon umstrittene Abstimmungen. So wurden bei der Abstimmung über den Beitritt der Schweiz zu den Abkommen von Schengen und Dublin vom 5. Juni 2005 im Nachhinein Zweifel an der Richtigkeit der Angaben im Abstimmungsbüchlein laut. «Die Teilnahme an Schengen und Dublin sollte gesamthaft gesehen beträchtliche Einsparungen ermöglichen», schrieb der Bundesrat in seinen Erläuterungen. Die entstehenden Kosten im Polizeibereich seien verhältnismässig gering: «Die Kosten von Schengen und Dublin belaufen sich in den nächsten Jahren für den Bund auf durchschnittlich 7,4 Millionen Franken pro Jahr.»
Dieser Wert erwies sich schon bald als falsch. In den ersten fünf Jahren nach dem Beitritt gab die Schweiz pro Jahr 43 Millionen Franken für Schengen/Dublin aus – das Sechsfache der im Abstimmungsbüchlein genannten Summe von 7,4 Millionen.
Die SVP prüfte darauf, ob sie eine Wiederholung der Abstimmung verlangen sollte. Der Vorstoss des damaligen SVP-Nationalrats Hans Fehr, eine Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) einzusetzen, scheiterte. Sieben Einzelpersonen wandten sich mit einer Stimmrechtsbeschwerde ans Bundesgericht. Dies trat – weil im Gegensatz zu den ersten vier Fällen die rechtlichen Grundlagen noch nicht gegeben waren – mangels Zuständigkeit nicht darauf ein.