Carlos steht erstmals als Erwachsener vor Gericht, doch auf der Anklagebank scheint kein Erwachsener zu sitzen. Mal stützt der 19-Jährige seinen Kopf wie ein Schuljunge in der Hand auf, mal fläzt er sich breitbeinig weit nach hinten in den Stuhl. Mitten auf dem dramaturgischen Höhepunkt des Plädoyers des Staatsanwalts tönt es flapsig aus seiner Richtung: «Entschuldigung ich muss unbedingt mal aufs WC. Wenn Sie ‹Nein› sagen, geh ich einfach», sagt er, wie ein Kind, dass ungeduldig am Rock seiner Mutter zerrt.
Aussagen will Carlos heute nicht. Nichts zu seiner persönlichen Situation, nichts zur Sache. Die mehrfache Sachbeschädigung im Massnahmezentrum Uitikon gibt er zu, will aber betont haben, dass er nicht durch sein Verschulden, sondern unrechtmässig im Massnahmezentrum war. Dies bestätigte das Bundesgericht. Die hätten ihm da ein schlechtes Gefühl gegeben, in Uitikon, sagt er, «wollten das ich einlenke und so». Carlos will sich aber nicht therapieren lassen. «Das versuchen sie schon seit ich 10 bin», sagt er.
Und Carlos will heute auch keine Fragen beantworten. «Diese Akten haben Sie doch alle, nicht?», sagt er zum Richter, als dieser ihn zu seiner persönlichen Situation befragen will. Nur eine Frage zur Islam-Auslegung der Gemeinde, die er jetzt besucht, ist ihm wichtig: «Unsere Auslegung ist nach Koran und Sunna und wir sind die ersten, die ISIS verfluchen», sagt er, nur um dann wieder zu schweigen und ausdruckslos da zu sitzen.
Carlos hat die pubertierenden Jugendlichen eigene Art, zu lachen, wenn es unangenehm wird. «Schweigt und lächelt», lässt der Bezirksrichter protokollieren, als er Carlos fragt, ob es bei dem Konflikt in der Langstrasse um den Gegenstand ging, den der mutmasslich von Carlos Bedrohte in der Langstrasse in der Hand hielt. «Sorry aber sehe ich aus, als hätte ich was mit Drogen zu tun?», sagt Carlos. «Ich bin jetzt Muslim. Da hab ich doch nichts mit Drogen zu tun. Einfach mal überlegen. Hört sich jetzt vielleicht frech an, aber....»
Der Richter gibt sich Mühe, die Augen nicht zu verdrehen. Carlos Verteidiger Marcel Bosonnet berührt ihn am Arm. Bosonnet ist ohnehin der Einzige, der die Aufmerksamkeit Carlos' während seines Plädoyers zu erregen vermag. Und zwar dann, als Bosonnet sagt, dass Carlos' menschliche Grundrechte verletzt worden seien, als man ihn nach dem Dok-Film über ihn wieder in eine Massnahme steckte. «Widerstand gegen Unrecht ist Pflicht», sagt Bosonnet. Und dass es zeige, dass die Menschenwürde heute wieder antastbar sei, weil die Fotos von Carlos' zertrümmerter Zelle aus dem Massnahmezentrum Uitikon zum «Blick» gelangt waren.
Carlos hat den Kopf erstmals zu jemandem gewandt, als Bosonnet sagt, dass Carlos auf gutem Wege sei, berufsmässig zum Boxtraining gehe, versuche, den verpassten Schulstoff nachzuholen und in der Moschee seine Zukunft und sein Umgang mit Gewalt thematisiere. «Er lernt», sagt Bosonnet, «die ‹Blick›-Fotografen, die ihm in Seebach auflauern, helfen ihm zwar nicht dabei. Aber er lernt, er lernt auf eigenen Beinen zu stehen.»
Bosonnet fordert einen vollständigen Freispruch von allen Anklagepunkten für seinen Mandanten. Eine erneute Massnahme sieht er als nicht zielführend. Dass der Richter das genauso sieht, ist unwahrscheinlich. Der Staatsanwalt fordert eine elfmonatige Haft für Carlos, die zugunsten einer ambulanten Behandlung aufzuschieben sei. Es solle keine kostenintensive stationäre Massnahme sein, bemühte er sich zu betonen. Eine Haftstrafe hätte Carlos sowieso bereits beinahe abgesessen. «Eine ambulante Behandlung könnte hingegen bis zu fünf Jahre dauern», sagt der Staatsanwalt.