Die Meldung sorgte Anfang Woche für Überraschung: Ausgerechnet das Vorzeigeland Schweiz führt im internationalen Vergleich die Rangliste der Gefängnisausbrüche an.
Bei genauerem Hinsehen relativiert sich diese Zahl: Die Ausbrüche sind in der Schweiz deswegen zahlreich, weil im Vergleich zum Ausland viele Insassen ihre Strafe im offenen und halboffenen Strafvollzug absitzen – wo keine Gefängnismauern sind, da büxt es sich leichter aus.
Die Flucht aus geschlossenen Strafanstalten nahm in den letzten Jahren deutlich ab. In der Schweizer Kriminalgeschichte gab es aber eine Reihe von spektakulären Ausbrüchen:
Der unangefochtene Ausbrecherkönig der Schweiz. Der Berufsverbrecher Stürm flüchtete insgesamt acht mal aus Schweizer Haftanstalten.
Stürm galt lange Zeit als Gentleman-Verbrecher, seine Ausbrüche als Schelmenstücke. Gerade aus der linken Jugendbewegung erwuchs Stürm viel Sympathie. Sie half ihm mutmasslich auch bei seinem grössten Coup, als Stürm an Ostern 1981 im Gefängnis Regensdorf die Gitterstäbe seiner Zelle abfeilte, sich mit einem Laken abseilte und einen Zettel hinterliess: «Bin beim Ostereier suche, Stürm.»
Stürm, Sohn eines reichen Industriellen, kam 1942 in Goldach SG auf die Welt, mit 20 wird er das erste Mal straffällig, es folgt die wohl spektakulärste Bankräuber-Karriere, die die Schweiz je gesehen hat. Stürm sass während seiner langen Karriere auch in Haftanstalten in Italien, Frankreich und auf La Gomera ein.
1999 nahm sich Stürm im Kantonalgefängnis Frauenfeld das Leben. Seine Geschichte wird mit Joel Basman und Marie Leuenberger in den Hauptrollen verfilmt, Mitte 2020 soll «Stürm: Bis wir tot sind oder frei» ins Kino kommen.
Der «Ökoterrorist»: Marco Camenisch, 1952 in Campocologno zur Welt gekommen, schloss sich in den 70er-Jahren einer militanten Anti-Atom-Kraft-Bewegung an. Mit Sprengungen von Hochspannungsleitungen sorgte die Gruppe 1979 und 1980 für Aufsehen, 1981 Camenisch wurde verhaftet und zu zehn Jahren Haft verurteilt. Im Dezember 1981 brachen sechs Insassen, darunter Camenisch, aus dem Gefängnis Regensdorf aus. Dabei wurde ein Gefängniswärter erschossen, ein weiterer verletzt. Camenisch wurde später vom Vorwurf entlastet, der Schütze gewesen zu sein.
In den 80er-Jahren galt Camenisch als die meistgesuchte Person der Schweiz. 1989 wurde er in Brusio gesichtet, als er das Grab seines Vaters besuchte. Wenig später wurde ein Grenzwächter tot aufgefunden – der Verdacht richtete sich schnell gegen Camenisch. 1991 wurde Camenisch in einer spektakulären Aktion in der Toskana verhaftet. Bei dem Schusswechsel wurden mehrere Polizisten sowie Camenisch selber verletzt. Die italienische Justiz verurteilte ihn zu 12 Jahren Haft, 2002 wurde er in die Schweiz ausgeliefert und zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt.
Aus linksradikalen und anarchistischen Kreisen erfuhr Camenisch über die Jahre viel Unterstützung und Sympathie, an Demonstrationen wurde immer wieder die Freiheit des Bündners gefordert. 2017 wurde Camenisch schliesslich bedingt entlassen.
Der bekannteste Bankräuber der jüngeren Geschichte: 1983 überfiel Portmann innerhalb von zwei Wochen zwei Fillialen der Zürcher Kantonalbank, nach einer spektakulären Verfolgungsjagd, bei der Portmann eine Kugel in die Lunge traf, wurde er zu 12 Jahren Haft verurteilt. Nach dem Prozess versprach er: «Ich mache weiter». Portmann hielt sein Versprechen: 1988 raubte er auf Hafturlaub eine weitere Bank aus, kurz darauf wurde er erneut verhaftet.
1992 gelang ihm während eines Berglaufs eine spektakuläre Flucht: Portmann hatte sich beim Direktor der Haftanstalt La Stampa die Teilnahme ausbedungen. Nach der gemeinsamen Ankunft mit dem Direktor im Ziel lief der Bankräuber einfach weiter. Am nächsten Tag lieferte sich Portmann bei einer Polizeikontrolle einen Schusswechsel mit einem Polizisten, einige Tage später wurde er in einem Waldstück im Aargau verhaftet, verurteilt und verwahrt. 1999 überwand er die vier Meter hohe Gefängnismauer der Strafanstalt Realta in Graubünden, indem er beim Schneeschaufeln eine Rampe bildete.
Zusammen mit Ausbrecherkönig Walter Stürm überfiel er eine Filiale der Thurgauer Kantonalbank. Portmann verweigerte Zeit seines Gefängnislebens eine Therapie, die ihm möglicherweise eine Haftverkürzung eingebracht hätte. Wer nicht krank sei, so seine Devise, der habe auch keine Therapie nötig. Das Haftregime im Kanton Zürich bezeichnete er als menschenunwürdig. Insgesamt verbrachte er 35 Jahre hinter Gittern, im Sommer 2018 kam er auf freien Fuss.
Drei Jahre ist es her, als die halbe Schweiz gebannt eine Romanze der besonderen Art verfolgte: Der verurteilte Sexualstraftäter Hassan Kiko hatte im Gefängnis Limmattal mit der Aufseherin Angela Magdici angebandelt. Zwei Monate später öffnete Magdici die Zellentür ihres Geliebten und flüchtete mit ihm im Auto nach Italien. Das verliebte Pärchen wird wenige Wochen später gefasst und in die Schweiz zurückgeführt.
Kiko wird wegen Anstiftung verurteilt, Magdici wegen Entweichenlassens – sie kommt mit einer bedingten Freiheitsstrafe davon. Im Juli 2017 heiraten die beiden hinter Gittern, Angela Magdici heisst jetzt Angela Kiko. Im März 2019 wird bekannt: Eine Produktionsfirma sicherte sich die Rechte an der Geschichte des ungleichen Paars, ein Dokumentarfilm und ein Spielfilm sind geplant.
Die Juwelenräuber-Bande mit dem klingenden Namen «Pink Panther» hat sich europaweit den Ruf einer professionellen und vor nichts zurückschreckenden Organisation erarbeitet.
Im Juli 2013 stellte sie das bei einem spektakulären Gefängnisbefreiung in der Schweiz unter Beweis. Mit einem gestohlenen Lieferwagen durchbrachen Mitglieder der Bande das Eingangstor der Umfassungsmauer des Gefängnis Orbe im Waadtland. Anschliessend eröffneten sie mit Kalashnikovs das Feuer auf Sicherheitspersonal der Haftanstalt. Den Lieferwagen setzten sie danach in Brand, bevor sie sich mit einem Fluchtauto absetzten. Ein 34-jähriger Serbe sowie ein Schweizer Mitinsasse wurden bei der Aktion befreit.
Die Grüne-Regierungsrätin Béatrice Métraux sagte später an einer Pressekonferenz, es handelte sich «eher um einen Einmarsch als einen Ausbruch». Dass bei einem Ausbruch Schnellfeuergewehre wie in Kriegsgebieten zum Einsatz kommen, sei in der Schweiz noch nie vorgekommen.
(wst)