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Fall Amcor zeigt: Behörden sind machtlos bei Umweltverschmutzung

Gift im See, Lücke im Gesetz: Der Fall Amcor zeigt die Machtlosigkeit der Behörden auf

Bei zwei Havarien auf dem Gelände des australischen Verpackungskonzerns Amcor Flexibles Rorschach AG wurden 2020 und 2021 der Bodensee und die Thur mit giftigem Löschschaum verschmutzt. Das Unternehmen kam mit einer Bagatellstrafe davon. Verantwortlich hierfür ist ein problematisches Gesetz: Es ist für die Bestrafung von Unternehmen kontraproduktiv.
17.04.2025, 22:2917.04.2025, 22:29
Davide De Martis / ch media
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In der Lagerhalle des Chemiekonzerns Sandoz im Industriegebiet Schweizerhalle ist 1986 ein Feuer ausgebrochen. Über 1300 Tonnen hochgiftige Chemikalien verbrannten. Danach floss mit Pflanzenschutzmitteln belastetes Löschwasser in den Rhein, was flussabwärts zu einem Fischsterben bis nach Mannheim führte. Es ist einer der grössten Umweltskandale der Schweiz, der die Einführung eines neuen Gesetzesartikels zur Folge hatte – die sogenannte «Lex Schweizerhalle». Sie sieht Bussen bis zu 5 Millionen Franken für Unternehmen vor.

2020 und 2021 verschmutzte der australische Verpackungskonzern Amcor in Goldach bei zwei «Störfallereignissen» den Bodensee und die Thur mit krebserregenden Chemikalien. 2,7 Tonnen Löschschaum traten aus. Das Unternehmen kam mit einer Busse von 5000 Franken davon – die «Lex Schweizerhalle» kam nicht zur Anwendung. Denn obwohl sie die Folge eines Umweltdelikts ist, ist sie bei solchen kaum anwendbar. Die aktuelle Umweltkriminalstatistik des Bundes zeigt: 2023 wurde der Gesetzesartikel bei keinem einzigen Umweltdelikt angewandt.

Der Fall Amcor hatte zwar nicht das erschreckende Ausmass der Umweltkatastrophe von 1986, beim Bodensee handelt es sich jedoch um die grösste Trinkwasserreserve Europas – rund fünf Millionen Menschen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich trinken Wasser aus dem Bodensee.

Giftiger Löschschaum im Bodensee: Was ist die Strafe dafür?

Die St.Galler Staatsanwaltschaft verurteilte die Amcor Flexibles Rorschach AG wegen Verstosses gegen das Gewässerschutzgesetz im Februar 2022 zu einer Busse von 5000 Franken und einer Ersatzforderung von 28'260 Franken für die eingesparten Entsorgungskosten.

Die Amcor Flexibles Rorschach AG hat ihren Sitz nahe der Goldach und des Bodensees
Die Amcor Flexibles Rorschach AG hat ihren Sitz nahe der Goldach und des Bodensees.Bild: Raphael Rohner

Es sind Beträge, die ein Unternehmen wie der Verpackungskonzern Amcor, das weltweit Milliardenumsätze macht, «aus der Portokasse zahlt», wie damals von Fachleuten und Politik angemerkt wurde. Das Urteil deutet eine problematische Gesetzeslage bei der Strafbarkeit von Unternehmen bei Umweltdelikten an.

Was ist damals genau geschehen?

Erst nach den Ereignissen auf dem Amcor-Gelände wird publik: Der ausgetretene Löschschaum beinhaltete die seit 2011 in der Schweiz verbotene «Ewigkeitschemikalie» Perfluoroctansulfonsäure (PFOS).

Bild von der ersten Havarie auf dem Amcor-Gelände im Dezember 2020
Bild von der ersten Havarie auf dem Amcor-Gelände im Dezember 2020.Bild: zvg

In den Rückhaltebecken auf dem Areal sammelten sich über 300 Kubikmeter Abwasser an. Diese sollten fachgerecht entsorgt werden. Stattdessen wurden sie falsch deklariert und gelangten ungefiltert in die Thur und folglich in den Rhein. All dies, obwohl sich Amcor der Risiken bewusst gewesen war, wie Unterlagen, die CH Media vorliegen, zeigen.

Weshalb ist die Strafe für Amcor so tief?

Im Fall Amcor wurde keine verantwortliche Einzelperson gesucht. Gestützt auf das Gewässerschutzgesetz wandte die St.Galler Staatsanwaltschaft «zwecks Vereinfachung der Strafuntersuchung» eine Sonderregelung des Verwaltungsstrafrechts an. Konkret: Artikel 7. Dieser sieht eine Ausfallhaftung von Unternehmen mit Bussen von höchstens 5000 Franken vor. Eigentlich nur für wenig schwere Straftaten, bei denen auf die Ermittlung der verantwortlichen Person verzichtet wird – und für welche «Bussen im Bagatellbereich» vorgesehen wären, heisst es in einem Umweltrechtsgutachten, das die Universität Bern 2016 im Auftrag des Bundesamts für Umwelt (Bafu) erstellt hat.

Weshalb ist diese Sonderregelung kontraproduktiv?

Kommt diese Sonderregelung zum Einsatz, werde das Unternehmen stellvertretend für eine Straftat verurteilt, die nicht durch ihr Verschulden oder schlechte Organisation verursacht wurde, heisst es im Bafu-Gutachten. Deshalb stelle dieses Gesetz «keine Unternehmensstrafe dar.»

Selber Meinung ist auch Monika Simmler, Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie an der Universität St.Gallen (HSG) und St.Galler SP-Kantonsrätin: «Dieser Gesetzesartikel ist eine Bequemlichkeitsnorm.» Dies, weil es sich um eine Abweichung von den strafrechtlichen Grundsätzen handle. «Normalerweise gilt: Keine Strafe ohne Schuld», sagt sie.

Diese Sonderregelung gelte deshalb nur für Bagatellen und komme zum Einsatz, wenn der Ermittlungsaufwand unverhältnismässig wäre, sagt Simmler. «Also darf sie nur bei wirklichen Bagatellvergehen – im tiefen Unrechtsbereich – zum Einsatz kommen», sagt Simmler. Bei möglicherweise schwereren Delikten wie der Havarie in Goldach rechtfertigt sich dagegen eine aufwendige Untersuchung.

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Monika Simmler mit Bundesrat Beat Jans. (Archivbild)Bild: keystone

«Zu schnell auf diese Sonderregelung und damit auf die 5000-Franken-Busse auszuweichen, ist kontraproduktiv. Wir wollen ja die Person finden, die einen Fehler begangen hat, um sie von weiteren Straftaten abzuhalten», sagt Simmler. Eine niedrige Busse für das Unternehmen habe kaum präventive Wirkung.

Allfällige Ermittlungen hätten ergeben können, dass der verursachte Schaden ein Unfall gewesen ist, sagt Simmler. «Dann wären die Beteiligten von Amcor freigesprochen worden.» Die 5000 Franken seien aber ein «Weder noch».

«Es ist zu einer Straftat gekommen, deren Umstände wir nicht kennen. Das ist unbefriedigend.»

Weshalb ist die «Lex Schweizerhalle» kaum anwendbar?

Die «Lex Schweizerhalle» – Artikel 102 des Strafgesetzbuches – wurde erst 2003 eingeführt. Kann eine Straftat wegen mangelhafter Organisation eines Unternehmens keiner Einzelperson zugeordnet werden, wird sie gemäss Absatz 1 dem Unternehmen zugerechnet.

«Der Gesetzesartikel hat wenig Praxisrelevanz, da zuerst nachgewiesen werden muss, dass eine Straftat im Unternehmen begangen worden ist», sagt Simmler. Eine Verletzung der Sorgfaltspflicht zu beweisen, ohne die verantwortliche Person gefunden zu haben, sei schwierig. Das führe häufig zu Freisprüchen, da eine Strafe nicht auf einen blossen Verdacht hin erfolgen kann.

Das Bafu-Gutachten hält bezüglich der «Lex Schweizerhalle» fest, dass «die gesetzliche Regelung den Erwartungen, den Strafbehörden ein präventiv wirkungsvolles Instrumentarium gegen Umweltkriminalität in die Hand zu geben, nicht gerecht wird.»

Wie könnte die «Lex Schweizerhalle» zum Einsatz kommen?

«Viel spannender wäre es, den Absatz 2 der ‹Lex Schweizerhalle› bei Umweltdelikten einsetzen zu können», sagt Simmler. Der Absatz besagt, dass ein Unternehmen unabhängig von der Strafbarkeit einer Einzelperson bestraft werden kann, solange dem Unternehmen ein Organisationsmangel vorzuwerfen ist, der die Straftat ermöglichte.

Nur zählen Umweltdelikte nicht zu den darin aufgelisteten Katalogstraftaten wie kriminelle Organisation, Finanzierung des Terrorismus oder Geldwäscherei.

ARCHIVE --- VOR 30 JAHREN, AM 1. NOVEMBER 1986, BRACH AUF DEM GELAENDE DER DAMALIGEN CHEMIEFIRMA SANDOZ IN SCHWEIZERHALLE EIN GROSSBRAND AUS. EIN LAGERGEBAEUDE MIT UEBER 1000 TONNEN CHEMIKALIEN BRANNT ...
Grosseinsatz der Feuerwehr beim Chemiegrossbrand der Sandoz in der Schweizerhalle in Basel, Schweiz, aufgenommen in der Nacht auf den 1. November 1986.Bild: KEYSTONE

«Es ist eine Diskussion wert, ob das noch zeitgemäss ist», sagt Simmler. Für eine Anwendbarkeit auf Umweltdelikte müsste nur der Katalog der Straftaten ausgeweitet werden. «Das wäre gesetzestechnisch sehr einfach möglich.» Unternehmensrisiken beträfen 2025 nicht nur korrupte Machenschaften, sondern auch fahrlässige Umweltdelikte oder technische Risiken. Umweltdelikte gingen zwar nicht immer, aber oft aus dem Unternehmenskontext hervor.

Weshalb werden nicht einfach die Bussen erhöht?

Als der Fall Amcor erstmals publik wurde, forderten Umweltverbände und Politik eine Gesetzesänderung zur Erhöhung der Bussen in Artikel 7 des Verwaltungsstrafrechts auf 50'000 Franken. Der Vorschlag fand im St.Galler Kantonsrat jedoch keine Mehrheit.

Laut Bafu-Gutachten stellt diese Sonderregelung einen «untauglichen Versuch» dar, «in unternehmensstrafrechtslosen Zeiten ebendiese Lücke behelfsmässig und vordergründig abzudecken». Dennoch mache sich die «strikt abzulehnende Gegenbewegung bemerkbar», bei der immer mehr vergleichbare Regelungen geschaffen würden, heisst es weiter. Eine Erhöhung der Busse liesse sich «unter keinen Umständen rechtfertigen». Vorher solle sich der Gesetzgeber einer Revision der «Lex Schweizerhalle» annehmen.

Dieser Vorschlag ist laut Simmler viel erstrebenswerter: «Die Priorität muss sein, Ermittlungen im Unternehmen durchzuführen.» Erhöhe man die Busse und weite man damit den Anwendungsbereich der Sonderregelung aus, machten sich die Behörden nicht die Mühe, die verantwortliche Person zu finden oder die Organisationsmängel im Unternehmen aufzudecken.

Giftiger Löschschaum fliesst in die Goldach
PFOS-haltiger Löschschaum floss direkt in die Goldach.Bild: aus den Untersuchungsakten der Staatsanwaltschaft St.Gallen

Fehlen die Ressourcen, um Fälle wie Amcor zu bewältigen?

Eine Anpassung der «Lex Schweizerhalle» wäre wohl kein Allerheilmittel, aber womöglich hilfreich: «Es wird immer schwierig und aufwendig sein, innerhalb eines Unternehmens zu ermitteln», sagt Simmler. Was für eine wirksamere Bekämpfung von Umwelt- und anderen Unternehmensdelikten fehle, seien vor allem die Ressourcen:

«Wir haben massiv überlastete Strafverfolgungsbehörden.»

Seit 2011 hat die Schweiz eine eidgenössische Strafprozessordnung, davor war sie kantonal. Zwar sei nun alles einheitlich organisiert, «seither haben wir aber eine sehr deutliche Zunahme der Verfahrensdauer und der Anzahl Verfahrensschritte», sagt Simmler. Habe jemand Tausende pendente Fälle etwa von häuslicher Gewalt auf dem Tisch, sei es naheliegend, einen Fall wie Amcor möglichst schnell per Strafbefehl zu erledigen.

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