Es schien, als sei alles auf dem Tisch: Im Winter 2020/21 trat im Abstand von zwei Wochen bei der Zweigstelle des internationalen Chemiekonzerns Amcor Flexibles in Goldach zweimal PFAS-haltiger Löschschaum aus. Er gelangte ungefiltert in den Bodensee. Die St.Galler Staatsanwaltschaft sah eine Reihe von Verfehlungen und verhängte eine Busse von 5000 Franken.
So viel war seit dem Strafbefehl vom Februar 2022 bekannt. Doch die Akten der St.Galler Behörden, die CH Media vor dem Bundesgericht erstritten hat, belegen: Damit waren nicht alle Umweltverschmutzungen des Unternehmens gebüsst. Der Löschschaum, der schädliche PFAS-Chemikalien enthielt, landete nicht nur im Bodensee, sondern auch in grossen Mengen im Zürcher Unterlauf der Thur.
Die beiden Zwischenfälle ereigneten sich am 29. Dezember 2020 und am 13. Januar 2021. Bei beiden trat eine erhebliche Menge Löschschaum aus, der verdünnt als Abwasser in die Umwelt floss. Die Akten der St.Galler Behörden hierzu bleiben lückenhaft. Doch sie liefern einige wichtige Zahlen.
Insgesamt traten bei beiden Zwischenfällen weit über 300 Kubikmeter verdünnter Löschschaum aus. Neben den 60 Kubikmetern, die zusammengenommen in den Bodensee flossen, sammelten sich bei beiden Vorfällen insgesamt über 300 Kubikmeter Abwasser in den Rückhaltebecken auf dem Amcor-Gelände. Sie hätten eigentlich eine weitere Umweltverschmutzung verhindern sollen. Doch aufgrund des Verhaltens von Amcor war die Gefahr für die Umwelt damit nicht gebannt.
300 Kubikmeter schadstoffhaltiges Abwasser zu entsorgen, ist ein schwieriges Unterfangen. Vor allem, wenn es wie in diesem Fall mit Perfluoroctansulfonsäure (kurz PFOS) belastet ist: Der Stoff gehört zur PFAS-Gruppe, auch als Ewigkeitschemikalien bekannt. PFAS-Chemikalien verbleiben jahrzehntelang im Ökosystem, reichern sich dort an und stehen im Verdacht, krebserregend zu sein.
Als Zusatzstoff für Löschschaum sind diese Chemikalien daher schon seit 2011 verboten. Spätestens Ende 2018 hätte Amcor den Löschschaum entsorgen müssen, er blieb aber unrechtmässig bis zu den Zwischenfällen in der Löschanlage. In den Akten des St.Galler Amts für Umwelt (AFU) heisst es:
Das Amt habe Amcor im Zusammenhang mit den beiden Zwischenfällen mehrfach mündlich und per Mail darauf hingewiesen, dass der Löschschaum thermisch entsorgt werden müsse. Sprich: Der ausgetretene Löschschaum hätte in einer Kehrichtverbrennungsanlage verbrannt werden müssen.
Wie bei jeder Sonderentsorgung musste der Abfallverursacher, also Amcor, einen Begleitschein für das Entsorgungsunternehmen ausfüllen. Ein wichtiges Detail: Der Verursacher ist dafür verantwortlich, dass der Abfall richtig klassifiziert ist. Dazu lieferte das Amt für Umwelt einen Zahlencode: Er zeigt dem Entsorger, wie er mit dem Abfall umgehen muss.
Zweimal geschah dies korrekt. Doch auf einem dritten Begleitschein, den Amcor einem beauftragten Entsorgungsunternehmen zukommen liess, war ein falscher Code vermerkt. Wer ihn gesetzt hat und warum, ist bis heute unklar. Ein beteiligter Mitarbeiter des Entsorgungsunternehmens beteuert, dass Amcor auf dem Formular bereits den falschen Code vermerkt hatte.
Die Folgen des falschen Codes waren schwerwiegend: Das PFAS-haltige Abwasser wurde falsch entsorgt und gelangte in die Thur. Tanklastwagen des Entsorgers brachten den Löschschaum und das Spülwasser aus den Rückhaltebecken von Amcor in mehrere Kläranlagen. Diese sind jedoch nicht darauf ausgelegt, PFAS-Chemikalien aus dem Wasser zu filtern. Einen Teil des belasteten Abwassers, das in die ARAs Morgenthal und Altenrhein nahe des Bodensees gebracht worden war, musste Amcor auf Anweisung des AFU wieder zurücknehmen. Einen Teil hatten die ARAs mittlerweile aber in die Bodensee-Zuflüsse eingeleitet, der Rest wurde korrekt entsorgt.
Trotzdem war die Umweltverschmutzung noch nicht vorbei. Aus den Akten wird ersichtlich, dass ein Teil des Abwassers über die ARA Andelfingen in den Zürcher Unterlauf der Thur eingeleitet wurde. Wie das Zürcher Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft (Awel) mitteilt, handelte es sich um 120 Kubikmeter – also einen erheblichen Anteil der Gesamtmenge von gut 300 Kubikmetern.
Der Mitarbeiter des Entsorgungsunternehmens bestätigt, dass es diese Menge auf dem Gelände von Amcor abgepumpt hat. Er führt aus, dass der zugeordnete Code auf dem Begleitschein das Abwasser als unbedenklich klassifiziert hatte.
So gelangten zwölf volle Tanklastwagenfüllungen zu einer Aufbereitungsanlage für ölhaltige Abwässer, die wiederum für die Behandlung von PFAS ungeeignet war. Von dort floss es durch die Kanalisation in die ARA Andelfingen und weiter in die Thur. Nachdem das St.Galler AFU dies im Zuge der Aufarbeitung bemerkt hatte, informierte es das Amt in Zürich über den Vorfall. Seit der falschen Entsorgung waren allerdings schon zwei Monate vergangen.
Balthasar Thalmann, der zuständige Abteilungsleiter beim Zürcher Awel, gibt CH Media Auskunft. In einem ersten Schritt vergewisserte sich das Awel beim Entsorgungsunternehmen, ob dieses den Auftrag vorschriftsgemäss ausgeführt hatte. Die falsche Codierung des Abwassers war nicht dessen Schuld. Danach verfolgte es den Vorfall nicht weiter. Thalmann sagt:
Handlungsbedarf hätte es bei einer akuten Verschmutzung gegeben, wenn es etwa zu einem Fischsterben gekommen wäre. «Für solche Fälle haben wir einen Pikettdienst. Doch die Gewässerverschmutzung war nicht offensichtlich.» Doch PFAS-Chemikalien sind tückisch, sie wirken sich auf lange Zeit schädlich aus.
Heute würden Thalmann und sein Team wohl anders handeln, wie er sagt. Die Wahrnehmung von PFAS habe sich in den vergangenen Jahren gewandelt. «Lange Zeit hatten wir diese Stoffe nicht auf dem Radar, jetzt merkt man, wie gross die Herausforderung ist», sagt Thalmann mit Blick auf die PFAS-Debatten des vergangenen Jahres.
Selbst wenn das Awel Anzeige erstattet hätte, hätten sich rechtliche Fragen gestellt: «Für PFOS und PFAS generell gibt es keine Einleitgrenzwerte», sagt Thalmann. «Es fehlen klare rechtliche Grundlagen, die für einen guten Vollzug nötig wären.» Das Amt habe die Problematik erkannt:
Das St.Galler Amt hat trotz Aufforderung bis heute den Entsorgungsauftrag von Amcor nicht erhalten. Die St.Galler Staatsanwaltschaft ging in ihrem Strafbefehl nicht auf die unrechtmässige Umcodierung der Entsorgung ein. Ohnehin war mit den anderen Vergehen von Amcor die maximale Busse von 5000 Franken bereits erreicht. Ein höheres Strafmass hätte ein aufwendigeres Verfahren unter Anwendung anderer Gesetzesartikel bedeutet. Dazu kam es nie.
Wenn das Chemieunternehmen mit Gewinn in Millionenhöhe hunderte Kubikmeter PFAS Wasser in die Kanalisation lässt, ein Trinkgeld von 5'000 chf.
Das kann es doch nicht sein.
Muss es eigentlich immer erst tote geben bevor gehandelt wird?
Aha ??!!