Einen Satz in den 96 Seiten umfassenden Untersuchungsakten hat jemand gelb markiert. Er stammt aus einer internen E-Mail. Es geht um Löschschaum, der wegen einer verbotenen Chemikalie ersetzt werden müsste. Ein Mitarbeiter des Verpackungskonzerns Amcor Flexibles AG in Goldach schreibt dem Amt für Feuerschutz des Kantons St.Gallen im Januar 2019: «Die Frage stellt sich, ob ein Austausch des Schaummittels (…) wirklich erforderlich ist, da im Brandfall eine vollständige Rückhaltung einer potenziellen Gewässerkontamination gewährleistet ist (…).»
Doch zwei Jahre später passiert es. Der problematische Löschschaum gelangt tonnenweise in den Bodensee – und löst eine der grössten Umweltverschmutzungen der vergangenen Jahrzehnte aus. CH Media machte den Fall vor drei Jahren publik und kämpfte in der Folge bis vor Bundesgericht um die Herausgabe der Akten. Mit Erfolg. Die erstrittenen Dokumente zeigen nun erstmals ein vollständiges Bild der Geschehnisse – und das ganze Ausmass des Umweltskandals.
Die frühere Alcan und heutige Amcor veredelt in Goldach Aluminium. Etwa für Kaffeekapseln oder Tierfutterschalen. Ein Millionengeschäft. Rund 160 Millionen Franken setzt die Firma jedes Jahr um. Der Betrieb mit 290 Mitarbeitenden ist einer von 212 Standorten in 40 Ländern des australischen Verpackungsproduzenten Amcor Flexibles. Für das zweite Halbjahr 2024 weist der Konzern weltweit einen Umsatz von 6,5 Milliarden US-Dollar aus.
In Goldach brummt das Geschäft. Weil die Nachfrage nach den Kaffeekapseln ungebrochen ist, wird am Bodensee 2020 eine neue Halle gebaut. Die Produktion läuft derweilen auf Hochtouren – in vier Schichten.
Wenn für Wartungsarbeiten der Strom für den halben Betrieb abgeschaltet werden muss, kann das nur zu Randzeiten geschehen. Etwa zwischen Weihnachten und Neujahr. Es passiert am 29. Dezember 2020, kurz nach Mittag. Weil mit dem Stromunterbruch auch die Kompressoren für die Schaumlöschanlage abgeschaltet werden, kommt es zu einem Druckabfall – und die Anlage löst aus. 2,7 Tonnen Löschschaum ergiessen sich auf den Vorplatz. Der Schaum ist dazu gedacht, einen Brand beim Umladen von Chemikalien zu ersticken. Doch es brennt nicht.
Nun beginnt eine merkwürdige Aneinanderreihung von Fehlern und Unterlassungen. Rund ein Drittel des Löschschaums, 850 Kilogramm, fliesst über den Meteorschacht in die Goldach und in den Bodensee. Eigentlich sollte ein Schieber den Austritt in die Umwelt verhindern. Doch dieser ist undicht. Dies war zuvor weder beim jährlichen Schieberunterhalt noch bei den monatlichen Funktionstests bemerkt worden. Am Ende des rund 500 Meter langen Rohrs, das in die Goldach mündet, bildet sich nun ein Schaumberg. Ein Werkhofmitarbeiter meldet dies.
Er und zwei Amcor-Mitarbeiter sowie ein inzwischen eingetroffener Feuerwehrmann beschliessen, den Schaumberg mit viel Wasser zu verdünnen und die Leitungen zu spülen. Der restliche Löschschaum auf dem Vorplatz wird gesammelt und abgepumpt. Acht Stunden dauert der Einsatz des Quartetts.
Informationen zum Vorfall dringen nicht nach aussen. Weder die Betriebsfeuerwehr noch das freiwillige Feuerwehrkorps der 10'000-Einwohner-Gemeinde werden alarmiert. Ein Rückschlagventil, welches den automatischen Alarm hätte auslösen sollen, war verstopft. Auch der bei solchen Havarien obligatorisch aufzubietende Umweltschadendienst des Kantons St.Gallen wird nicht informiert, genauso wenig wie die Polizei.
Beinahe wäre die Gewässerverschmutzung unentdeckt geblieben. Doch zwei Wochen später, in den frühen Morgenstunden des 13. Januars 2021, sinkt das Thermometer unter den Gefrierpunkt. Das Restwasser in den Schaumdüsen gefriert – und sie platzen. Zwar brennt es wieder nicht, aber der Druckabfall löst erneut die Schaumlöschanlage aus. Wieder wird der Vorplatz mit Schaum geflutet.
Und weil der Schieber der Meteorleitung noch nicht repariert wurde, gelangt auch wieder Löschschaum in Goldach und Bodensee. Weniger als beim ersten Unfall, aber doch nochmals 60 Kilogramm. Wieder werden die Behörden nicht informiert. Nur durch Zufall kommt der Fischereiaufseher vorbei und bemerkt den aus dem Abflussrohr quellenden Schaum – und schlägt Alarm.
Tags darauf kommt die Polizei auf Platz, zusammen mit Vertretern des Amts für Umwelt und Mitarbeitern des Umweltschadensdiensts. Erst bei der Begehung räumen die Betriebsleiter von Amcor ein:
Was die Firma aber in diesem Moment verschweigt: Im Löschschaum war die seit 2011 in der Schweiz verbotene Chemikalie PFOS enthalten. PFOS gehört zur grossen Gruppe der per- und polyfluorierten Alkylverbindungen, kurz PFAS. Sie sind allesamt krebserregend und werden auch Ewigkeitschemikalien oder Jahrhundertgift genannt, weil sie in der Umwelt nicht abgebaut werden und sich in der Nahrungskette anreichern. Die Stoffgruppe, die wegen ihrer wasser- und fettabweisenden Eigenschaft in einer Vielzahl von Produkten – von Teflonpfannen, über Zahnseide und Outdoorbekleidung bis hin zu Pizzakartons – vorkommt, stellt inzwischen weltweit eine grosse Herausforderung dar.
In Goldach wissen Behörden und Bevölkerung Anfang 2021 kaum etwas über die Chemikalie. Anders in den USA: Dort hatte das Chemieunternehmen DuPont seit den 1970er-Jahren tonnenweise PFAS in den Fluss Ohio geleitet und Hunderte Fässer mit PFAS-haltigen Schlämmen vergraben – und so das Trinkwasser der Kleinstadt Parkersburg in West Virginia verseucht. Viele Einwohnerinnen und Einwohner erkrankten an Krebs. Der Umweltanwalt Rob Bilott wies dies nach – und erstritt Schadensersatzforderungen von rund 671 Millionen US-Dollar für die Betroffenen. 2019 wurde der Fall von Hollywood unter dem Titel «Vergiftete Wahrheit» verfilmt.
Welche Folgen die gemäss Behördenangaben rund 10 Kilogramm reines PFAS in den 2,7 Tonnen Löschschaum auf den Bodensee haben und hatten, ist schwierig abzuschätzen. Der Kanton St.Gallen hat das Trinkwasser unmittelbar nach den zwei Unfällen nicht untersucht. Erst 2022, als das St.Galler Tagblatt den Strafbefehl und die Umweltverschmutzung publik machte, fühlt sich der Kanton bemüssigt, Proben bei den drei Seewasserwerken Thal, Rorschach und Frasnacht (TG) vorzunehmen.
Zwar werden PFAS-Spuren gefunden, die Messwerte liegen jedoch unter den Grenzwerten der Schweiz und der EU. «Dies, weil das Wasser aus der Goldach mit viel mehr Wasser aus dem Bodensee vermischt wird und sich dadurch die PFAS-Belastung stark verdünnt», schreibt der Kanton. Wieso wurde das Trinkwasser erst ein Jahr später untersucht? Dazu der Kanton:
Auch bei den Wildfischen wurde erst drei Jahre danach eine Analyse durchgeführt. Ergebnis: Die Proben von Felchen, Rotaugen, Egli und Trüschen lagen unter den Grenzwerten für PFAS. Allerdings überschritten vier von neun Hechtproben aus dem Bodensee den zulässigen Höchstwert für PFOS.
Auch die Folgen des giftigen Löschschaums auf den Mündungsbereich der Goldach in den Bodensee bleiben unerforscht. Dazu schreibt der Kanton St.Gallen:
Während die Folgen für die Umwelt im Dunkeln bleiben, sind die strafrechtlichen Konsequenzen für Amcor überschaubar. Im Februar 2022 verurteilt die St.Galler Staatsanwaltschaft den Goldacher Millionenbetrieb wegen Vergehen gegen das Gewässer- und Umweltschutzgesetz zu einer Busse von 5000 Franken. Zudem muss das Unternehmen für die eingesparten Entsorgungskosten von 28'260 Franken aufkommen. Amcor bezahlt, die Akte wird geschlossen. Juristisch ist der Fall erledigt.
Als CH Media den Strafbefehl publik macht, gehen in der Ostschweiz die Wogen hoch. Insbesondere die «mickrige» Busse wird zum Politikum. Denn die Staatsanwaltschaft hatte auf die Verfolgung von Geschäftsleitungsmitgliedern verzichtet und – wie es wortwörtlich heisst – «zwecks Vereinfachung der Strafuntersuchung» das Verwaltungsstrafrecht angewandt. Dabei sind 5000 Franken die Maximalbusse. Rechtsgelehrte kritisierten dies als Kniefall vor der Macht des Weltkonzerns und seiner Heerschar an Anwälten, weil es durchaus Wege gegeben hätte, Amcor juristisch härter zu belangen.
Wurde die Firma privilegiert behandelt? Um diese Frage zu klären, entschied sich das St.Galler Tagblatt im April 2022, kurz nach der Publikation des Umweltskandals, Einsicht in die Untersuchungsakten zu verlangen. Aber auch, weil der australische Aluriese beharrlich behauptete, die Behörden informiert zu haben. Auf Nachfrage hiess es damals aber, man könne den Informationsfluss nach den Havarien nicht mehr rekonstruieren.
Das Akteneinsichtsgesuch war der Anfang eines Spiessrutenlaufs. Zweimal zerrte Amcor CH Media bis vor das Bundesgericht – und unterlag zweimal. Im ersten Verfahren ging es um die Herausgabe der Akten an sich. Im zweiten Verfahren darum, wie Personendaten – Namen von Mitarbeitenden, Telefonnummern und E-Mail-Adressen – in den Unterlagen geschwärzt werden sollen. Das höchste Schweizer Gericht bestätigte das Urteil der Vorinstanz: «An journalistischen Informationen über den korrekten Ablauf von Strafuntersuchungen besteht damit ein gewichtiges Interesse», urteilte das Lausanner Richtergremium.
Jetzt liegen die Akten der Strafuntersuchung vor. Diese führen zu drei Erkenntnissen:
Amcor versuchte die Umweltverschmutzung gegenüber den Behörden herunterzuspielen. Die nach den Unfällen obligatorischen Störfallberichte zuhanden des Kantons wies dieser mehrfach zur Überarbeitung an Amcor zurück und trafen erst mit einem Jahr Verspätung ein. Der von Amcor beauftragte externe Berater hatte das Schadensausmass auf die Umwelt «durch die Anreicherung des Bodensees mit persistenten gesundheitsschädlichen Chemikalien völlig ausser Acht gelassen». Weil es keine Toten oder Verletzten gab, bewertete er den Störfall mit 0 – sprich nix passiert. Im überarbeiteten Störfallbericht werden die Folgen für Flora und Fauna schliesslich mit einer Fussnote abgehandelt.
Der Grosskonzern wusste von der höchst problematischen Chemikalie in den Restbeständen ihres Löschschaums. Seit 2011 sind PFOS-haltige Löschmittel verboten. Spätestens Ende 2018 hätte Amcor den Schaum ersetzen müssen. Stattdessen wollte man am Standort in Goldach noch Anfang 2019 an diesem festhalten, wie der eingangs erwähnte, gelb markierte Satz belegt. Der Fristverlängerung erteilte der Kanton eine klare Absage. «Wir können nicht Verantwortung übernehmen für ein allfälliges Versäumnis Ihrerseits.» Ersetzt hat der Konzern den Schaum trotzdem nicht – bis es zum Unglück kommt. Zuvor hatte das Amt für Umwelt die Firma «wiederholt auf den sensiblen Produktionsstandort direkt am grössten Trinkwasserspeicher Europas hingewiesen».
Amcor versucht die Vorfälle zu vertuschen. Weder die Polizei noch der Umweltschadendienst, der Kanton oder die Gemeinde wurden über das Vorgefallene informiert. Das schreibt sogar das Amt für Umwelt in seiner rechtlichen Beurteilung. Amcor habe es «zwei Mal in Folge unterlassen», die Behörden zu informieren und habe damit «ihre Meldepflicht in offensichtlicher Weise verletzt».
Zudem unterschlägt das Unternehmen, dass im Löschschaum PFAS drin sind. Auch dem Personal der Kläranlagen in Thal und Altenrhein, wohin der zurückgehaltene, verdünnte Löschschaum gebracht wurde, sagte Amcor nichts vom giftigen Inhaltsstoff. Das Amt für Umwelt musste erst durch Proben herausfinden, dass die PFOS-Werte «massiv überschritten» waren. Zu diesem Zeitpunkt war aber bereits ein Grossteil des entsorgten Löschwassers in den Bodensee geleitet worden. Das darin enthaltene PFOS kann aber nicht herausgefiltert werden, sondern müsste thermisch entsorgt werden – bei 1000 Grad, in einer Kehrichtverbrennungsanlage oder einem Zementwerk.
Ein halbes Jahr nach den beiden Havarien ereignet sich im Juli 2021 ein dritter Unfall. Wegen einer Fehlmanipulation eines Mitarbeiters bei der jährlichen Alarmierungskontrolle tritt wieder Löschschaum aus. Zu diesem Zeitpunkt ist allerdings kein PFOS mehr im Schaum.
Bezeichnend für die völlig missratene Informationspolitik von Amcor ist ein weiterer Vorfall, der sich vor einem Jahr ebenfalls auf dem Firmengelände der australischen Firma abspielte. An einem Vormittag im April fällt beim Umladen ein Fass mit Lack um und läuft aus. Ein Teil des Lacks gelangt auch in die Meteorleitung und fliesst – weil erneut ein Schieber defekt ist – in die Goldach. Die Behörden informiert Amcor auch dieses Mal nicht. Erst eine Drittperson meldet der Polizei kurz vor 20 Uhr verdächtig weissen Schaum, der aus einem Rohr in die Goldach fliesse.
Inzwischen gibt Amcor viel Geld aus für Anwälte und Kommunikationsagenturen. Auf Medienanfragen von CH Media meldet sich nun eine Vertreterin von Burson, der weltweit drittgrössten PR-Agentur. Auch die Anwaltskanzlei von Amcor wehrte sich vehement gegen die Einsicht in die Strafakten. Das Bundesgericht gewichtete jedoch das öffentliche Interesse höher als die Interessen von Amcor.
Der bisher letzte Akt – der zeigt, wie verbissen der Konzern Transparenz verhindern will – ist ein erneutes Gesuch von CH Media beim Kanton St.Gallen. Per Öffentlichkeitsgesetz wurde Einsicht in den Störfallbericht zum Lackvorfall gefordert. Die Antwort der Amcor-Anwaltskanzlei, wieso dem nicht stattgegeben werden soll, kam in einem silbernen Ordner – und umfasst 220 Seiten.
Mitarbeit: Davide De Martis, Jochen Tempelmann, Noemi Heule.