Schweiz
Kommentar

Die Mitte interessiert sich nicht für den Wolf - sondern für Wählerstimmen

Umwelt- und Tierschutzorganisationen haben das Referendum gegen das neue Jagdgesetz lanciert. Damit könnten Wölfe auf Vorrat abgeschossen werden, kritisieren sie. (Themenbild)
Sollen nun präventiv abgeschossen werden: Wölfe in der Schweiz.Bild: AP
Kommentar

Das Parlament missbraucht den Wolf für den Wahlkampf – allen voran die Mitte

Nach dem Ständerat hat am Donnerstag auch der Nationalrat beschlossen, Wölfe künftig präventiv zu regulieren. An vorderster Front: die Mitte. Dabei ging es nicht um den Wolf. Sondern um das anstehende Wahlkampfjahr.
09.12.2022, 10:4723.01.2023, 13:45
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«Wer aus der Geschichte nicht lernt, ist verdammt, sie zu wiederholen.»
George Santayana

Wie recht der Philosoph doch damit hat. Erst zwei Jahre ist es her, als die Schweizer Stimmbevölkerung die Revision des Jagdgesetzes ablehnte. Damit hat sie sich gegen präventive Wolfsabschüsse gewehrt, welche vom Stände- und Nationalrat im September 2019 beschlossen wurden.

Die Naturschutzverbände hatten erfolgreich das Referendum ergriffen. Die Bevölkerung verpasste dem Parlament damals einen Denkzettel. Nur haben es unsere Vertreter in Bern verpasst, sich das hinter die Ohren zu schreiben.

Jetzt haben wir Dezember 2022 und schon wieder entscheiden die Politiker, den Wolf präventiv zu regulieren – entgegen dem Volkswillen.

Doch nicht nur unsere eigenen Gesetze sollen ausgehebelt werden, auch die Berner Konvention möchte das Parlament mit dem neusten Entscheid umgehen. Der Vertrag, der 1979 von 44 Ländern unterschrieben wurde, regelt die Erhaltung der europäischen wild lebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume.

Das letzte Wort

Erst vergangene Woche flatterte ein Brief aus Strassburg ein, welcher entschied, den Wolfsstatus nicht zurückzustufen. Die Schweiz hatte bereits 2018 einen Antrag dafür gestellt. Für den neuen Beschluss des Parlaments stellt die Konvention eine Hürde dar – wie sie es auch sollte.

Nun liegt es wieder in den Händen der Naturschutzverbände, ob sie gegen den neusten Beschluss das Referendum ergreifen. Es bleibt zu hoffen, damit die Stimmbevölkerung das letzte Wort in der Wolfsfrage hat. Und sich die Politiker die Entscheidung dieses Mal hinter die Ohren tätowieren müssen, damit sie es wirklich nicht vergessen.

Ob die Naturschutzverbände das Referendum ergreifen, ist fragwürdig, denn im kommenden Jahr steht für sie die Biodiversitätsinitiative im Fokus. Sie brauchen für eine Annahme – falls kein geeigneter Gegenvorschlag gefunden wird – ein Ständemehr. Dafür sind die Bergregionen und Landkantone zentral. Es ist ein Abwiegen zwischen Wolf und Biodiversität. Denn: Wer sich für den Wolf einsetzt, verliert Sympathien bei Grossteilen der Bergbevölkerung.

Vor diesem Szenario fürchtet sich auch das Parlament – kurz vor dem Wahlkampfjahr 2023. Jede Stimme für den Wolf gefährdet eine Stimme für die eigene Wiederwahl.

Narrativ des bösen Wolfs

Fast kein Thema wird so emotionalisiert wie der Umgang mit den Wölfen. Die Angst der Bergbevölkerung vor dem Wildtier ist real, doch sie ist irrational. Noch nie wurde in der Schweiz ein Mensch von einem Wolf verletzt. Und auch die Nutztierrisse halten sich in Grenzen, wenn man beispielsweise betrachtet, wie viele Schafe ohne Fremdeinwirkung durch Krankheit und Unfall auf den Alpen sterben.

Für viele Politiker stehen diese Fakten aber nicht im Vordergrund. Lieber bewirtschaften sie das Narrativ des bösen Wolfs. Sie profilieren sich an der «verängstigten Bergbevölkerung». An vorderster Front: die Mitte.

Die Partei hat auch allen Grund dazu, auf Stimmenfang zu gehen. So droht sie doch bei den kommenden Erneuerungswahlen weniger Wähleranteile zu erhalten als die Grünen.

Wie sehr die Mitte die Emotionen der Wolfsgegner ausschlachtet, zeigt das Beispiel Martin Candinas. Der frisch gewählte Nationalratspräsident nahm im Sommer an einem Mahnfeuer gegen den Wolf teil – zum Schutz der Bergwirtschaft. Wie viel das noch mit Sachpolitik zu tun hat, sei infrage gestellt.

Ein anderer Grund, warum es sich die Mitte nicht mit der Land- und Bergbevölkerung verscherzen will, ist der Ständerat. Obwohl die Partei nur rund 13 Prozent Wähleranteil hat, kann sie im Ständerat am meisten Sitze belegen. Um diese nicht zu gefährden, benötigt die Mitte die Landbevölkerung – welche man mit dem Wolf nicht verärgern will.

Die Entscheidung des Parlaments, Wölfe präventiv abzuschiessen, hat somit weniger mit den Wölfen und ihrem Verhalten zu tun, sondern mit dem Wahljahr 2023. Als Politiker schiesst man lieber den Wolf ab, als selbst auf der Abschussliste der Stimmbevölkerung zu stehen.

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82 Kommentare
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El_Chorche
09.12.2022 11:03registriert März 2021
Ich hätte lieber weniger Politiker und dafür mehr Wölfe.
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Narrentanz
09.12.2022 12:40registriert Juli 2019
Es mag unterschiedliche Interessen geben, finanzielle und andere. Aber es gibt rational betrachtet keinen vernünftigen Grund, den Wolf präventiv abzuschiessen. Wirklich nicht.
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Dave1974
09.12.2022 11:48registriert April 2020
Treffender Kommentar.

Man hätte die ebenso beschlossene "bessere Aufklärung über Grossraubtiere" vor dieser einschneidenden Sitzung durchzuziehen sollen.

Aber so punktet halt der vermeintliche Wolf auf dem Spielplatz und eine Vorrechnerei von 500-700 Wölfen in den nächsten Jahren (weil die sich ja unbegrenzt vermehren). Die Angst der Menschen auf der Alp muss auch herhalten. Eine Angst, die ich sogar bei Bären in der Gegend nie wahrnahm.

Egal. Wenns um Stimmen geht, spielt es offenbar nicht so eine grosse Rolle, als wie inkompetent man sich eigentlich outet.
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    Der seltsame Umgang des Parlaments mit den Volksrechten
    Die Volksrechte gelten als politischer Trumpf der Schweiz. Mit seinen Entscheiden zu AHV, Mindestlöhnen und Zivildienst aber hat das Parlament wenig Respekt vor ihnen gezeigt.

    In der Schweiz hat das Volk politisch das letzte Wort. Das unterscheide sie von anderen Staaten, wird häufig betont, etwa um den angeblichen Souveränitätsverlust durch die neuen EU-Verträge und die dynamische Rechtsübernahme anzuprangern. Angesichts der schrillen Töne von rechts hat man den Eindruck, die direkte Demokratie sei in tödlicher Gefahr.

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