Der seltsame Umgang des Parlaments mit den Volksrechten
In der Schweiz hat das Volk politisch das letzte Wort. Das unterscheide sie von anderen Staaten, wird häufig betont, etwa um den angeblichen Souveränitätsverlust durch die neuen EU-Verträge und die dynamische Rechtsübernahme anzuprangern. Angesichts der schrillen Töne von rechts hat man den Eindruck, die direkte Demokratie sei in tödlicher Gefahr.
Argumentativ ist das haarsträubend, und es blendet aus, dass die Eidgenössischen Räte seit den Wahlen 2023 ihrerseits durch einen grenzwertigen Umgang mit Vorlagen aufgefallen sind, die direkt oder indirekt auf Volksentscheide zurückgehen. Im Frühjahr 2024 betraf dies Biodiversität, Zweitwohnungen oder den Schutz Minderjähriger vor Tabakwerbung.
Eine entsprechende Volksinitiative wurde Anfang 2022 angenommen, doch auf Druck der Tabaklobby sollte sie nur in stark verwässerter Form umgesetzt werden. Nun wurde eine entsprechende Gesetzesvorlage in der Sommersession unter Dach gebracht. Sie sieht immer noch fragwürdige Ausnahmen vor, doch für die Initianten ist sie «knapp genügend».
Mit etwas gutem Willen liesse sich behaupten, dass das Parlament eine Missachtung des Volkswillens gerade so verhindern konnte. Gleichzeitig hat es in der am Freitag endenden Sommersession weitere Entscheide von National- und Ständerat gegeben, die man unter dem Aspekt der Volksrechte als ziemlich speziell bezeichnen kann.
AHV
Eine Mitte-links-Mehrheit im Ständerat beschloss eine Finanzierung der 13. AHV-Rente durch eine Erhöhung von Mehrwertsteuer und Lohnabzügen. So weit, so normal, handelt es sich doch auch in diesem Fall um die Konkretisierung eines Volksentscheids, selbst wenn Rechtsbürgerliche und Wirtschaftskreise ihn gerne rückgängig machen würden.
Daneben beschloss die Mehrheit jedoch ein Konzept zur Abschaffung der sogenannten Heiratsstrafe. Gemeint ist die Tatsache, dass verheiratete Pensionierte höchstens 150 Prozent der AHV-Maximalrente erhalten, während Konkubinatspaare zwei volle Renten beziehen können. Die Mitte-Partei will die «Heiratsstrafe» mit einer Volksinitiative beseitigen.
Der Bundesrat empfiehlt sie ohne Gegenvorschlag zur Ablehnung, und sie wurde vom Parlament noch nicht beraten, geschweige denn zur Abstimmung gebracht. Jetzt schon eine Art indirekten Gegenvorschlag zu beschliessen, wirkt ziemlich verwegen. Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider (SP) mahnte vergeblich ein schrittweises Vorgehen an.
Die rechte Ratsseite klagte, die Vorlage gehe auf Kosten der Jungen. Ohnehin gebe es bei der AHV auch Heiratsprivilegien. Das betrifft etwa die Witwenrente, und Ehefrauen können sich bei einer Babypause das Einkommen des Mannes «anrechnen» lassen. Im Nationalrat könnte die Vorlage einen schweren Stand haben, denn die GLP dürfte zum Nein tendieren.
Mindestlöhne
Eine nationale Volksinitiative zur Einführung eines Mindestlohns erlitt vor elf Jahren deutlich Schiffbruch. Auf kantonaler Ebene hingegen wurden diverse Initiativen angenommen, vor allem in der Westschweiz. Das ist Bürgerlichen und der Wirtschaft ein Dorn im Auge. Sie wollen diese Volksentscheide nicht aushebeln, aber «übersteuern».
Konkret sollen Gesamtarbeitsverträge (GAV), in denen tiefere Löhne vereinbart wurden, Vorrang haben gegenüber kantonalen Mindestlöhnen. Der Bundesrat hatte aus Rücksicht auf den Föderalismus schon die ursprüngliche Forderung des Obwaldner Mitte-Ständerats Erich Ettlin bekämpft und musste widerwillig eine Gesetzesvorlage ausarbeiten.
Wirtschaftsminister Guy Parmelin (SVP) empfahl sie im Nationalrat erneut zur Ablehnung, ohne Erfolg. Die bürgerliche Mehrheit säuselte das hohe Lied der Sozialpartnerschaft. Bei der beruflichen Vorsorge (BVG) aber hatte sie kein Musikgehör für den Reformvorschlag der Sozialpartner, und auch gegen die Einigung beim Lohnschutz gibt es Bedenken.
Die FDP erwähnte in ihrer Medienmitteilung mit keinem Wort, dass die kantonalen Mindestlöhne auf Volksentscheiden basieren. Betroffen sind vorerst «nur» Genf und Neuenburg, doch in anderen Kantonen sind identische Initiativen hängig. Trotzdem ist absehbar, dass der Ständerat als Kantonsvertretung der Vorlage ebenfalls zustimmen wird.
Zivildienst
Früher mussten Militärdienstverweigerer zwingend ins Gefängnis. Zwei Initiativen zur Einführung eines zivilen Ersatzdienstes scheiterten in der Volksabstimmung. Mit dem Ende des Kalten Kriegs kam der Umschwung. 1992 befürwortete eine überwältigende Mehrheit den Zivildienst. Selbst die konservativen Kleinkantone in der Inner- und Ostschweiz sagten Ja.
2009 wurde als weiterer Schritt die in mancher Hinsicht fragwürdige Gewissensprüfung abgeschafft, basierend auf einem Vorstoss des Aargauer EVP-Nationalrats Heiner Studer. Nun aber soll sie nach dem Willen der bürgerlichen Mehrheit des Nationalrats wieder eingeführt werden. Begründet wurde dies mit dem angeblichen Personalbedarf der Armee.
Etwas blauäugig könnte man argumentieren, dass der Zustand von 1992 wieder hergestellt wird, doch viele Bürgerliche würden den Zivildienst am liebsten abschaffen. Sie beschlossen weitere Verschärfungen, etwa eine Mindestdauer von 150 Tagen. Und der Ständerat sprach sich am Mittwoch für die Zusammenlegung von Zivildienst und Zivilschutz aus.
Er schloss sich einem früheren Entscheid des Nationalrats an. Konkret wird der Bundesrat beauftragt, die sogenannte Sicherheitsdienstpflicht «schnellstmöglich einzuführen». Verteidigungsminister Martin Pfister (Mitte) wollte von diesem Eiltempo nichts wissen und warnte vor den damit verbundenen Mehrkosten, wurde aber überstimmt.
Man könnte als weiteres Beispiel die Lockerung des Kriegsmaterialgesetzes im Ständerat erwähnen. Es war erst 2021 verschärft worden, worauf die sogenannte Korrekturinitiative der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) zurückgezogen wurde. Allenfalls liessen sich die geopolitischen Turbulenzen als «mildernder Umstand» geltend machen.
Dennoch schiesst die Vorlage des Ständerats über das Ziel hinaus. Und grundsätzlich bleibt die Feststellung, dass das Parlament einen nonchalanten Umgang mit den Volksrechten praktiziert. Die Bürgerlichen ärgern sich, dass linke Anliegen beim Volk durchkommen, die früher chancenlos waren. Dem Vertrauen in die Politik aber hilft dies sicher nicht.