Schweiz
Analyse

AHV, Mindestlohn, Zivildienst: Fragwürdige Entscheide im Parlament

Nationalraetinnen Tamara Funiciello, SP-BE, links, und Nationalraetin Martine Docourt, SP-NE, Mitte, hoeren sich die Antwort von Nationalrat Olivier Feller, FDP-VD, an, vor Nationalraetin Priska Seile ...
Die Neuenburger SP-Nationalrätin Martine Docourt (r.) verfolgt mit Parteikollegin Tamara Funiciello die Debatte zu den Mindestlöhnen. Ihr Kanton wird dabei «übersteuert».Bild: keystone
Analyse

Der seltsame Umgang des Parlaments mit den Volksrechten

Die Volksrechte gelten als politischer Trumpf der Schweiz. Mit seinen Entscheiden zu AHV, Mindestlöhnen und Zivildienst aber hat das Parlament wenig Respekt vor ihnen gezeigt.
19.06.2025, 15:4619.06.2025, 16:06

In der Schweiz hat das Volk politisch das letzte Wort. Das unterscheide sie von anderen Staaten, wird häufig betont, etwa um den angeblichen Souveränitätsverlust durch die neuen EU-Verträge und die dynamische Rechtsübernahme anzuprangern. Angesichts der schrillen Töne von rechts hat man den Eindruck, die direkte Demokratie sei in tödlicher Gefahr.

Argumentativ ist das haarsträubend, und es blendet aus, dass die Eidgenössischen Räte seit den Wahlen 2023 ihrerseits durch einen grenzwertigen Umgang mit Vorlagen aufgefallen sind, die direkt oder indirekt auf Volksentscheide zurückgehen. Im Frühjahr 2024 betraf dies Biodiversität, Zweitwohnungen oder den Schutz Minderjähriger vor Tabakwerbung.

Bundesraetin Elisabeth Baume-Schneider sortiert ihre Unterlagen im Staenderat an der Sommersession der Eidgenoessischen Raete, am Donnerstag, 12. Juni 2025, in Bern. (KEYSTONE/Peter Schneider)
Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider wehrte sich im Ständerat vergeblich gegen eine vorgezogene Abschaffung der AHV-Heiratsstrafe.Bild: keystone

Eine entsprechende Volksinitiative wurde Anfang 2022 angenommen, doch auf Druck der Tabaklobby sollte sie nur in stark verwässerter Form umgesetzt werden. Nun wurde eine entsprechende Gesetzesvorlage in der Sommersession unter Dach gebracht. Sie sieht immer noch fragwürdige Ausnahmen vor, doch für die Initianten ist sie «knapp genügend».

Mit etwas gutem Willen liesse sich behaupten, dass das Parlament eine Missachtung des Volkswillens gerade so verhindern konnte. Gleichzeitig hat es in der am Freitag endenden Sommersession weitere Entscheide von National- und Ständerat gegeben, die man unter dem Aspekt der Volksrechte als ziemlich speziell bezeichnen kann.

AHV

Eine Mitte-links-Mehrheit im Ständerat beschloss eine Finanzierung der 13. AHV-Rente durch eine Erhöhung von Mehrwertsteuer und Lohnabzügen. So weit, so normal, handelt es sich doch auch in diesem Fall um die Konkretisierung eines Volksentscheids, selbst wenn Rechtsbürgerliche und Wirtschaftskreise ihn gerne rückgängig machen würden.

Daneben beschloss die Mehrheit jedoch ein Konzept zur Abschaffung der sogenannten Heiratsstrafe. Gemeint ist die Tatsache, dass verheiratete Pensionierte höchstens 150 Prozent der AHV-Maximalrente erhalten, während Konkubinatspaare zwei volle Renten beziehen können. Die Mitte-Partei will die «Heiratsstrafe» mit einer Volksinitiative beseitigen.

Der Bundesrat empfiehlt sie ohne Gegenvorschlag zur Ablehnung, und sie wurde vom Parlament noch nicht beraten, geschweige denn zur Abstimmung gebracht. Jetzt schon eine Art indirekten Gegenvorschlag zu beschliessen, wirkt ziemlich verwegen. Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider (SP) mahnte vergeblich ein schrittweises Vorgehen an.

Die rechte Ratsseite klagte, die Vorlage gehe auf Kosten der Jungen. Ohnehin gebe es bei der AHV auch Heiratsprivilegien. Das betrifft etwa die Witwenrente, und Ehefrauen können sich bei einer Babypause das Einkommen des Mannes «anrechnen» lassen. Im Nationalrat könnte die Vorlage einen schweren Stand haben, denn die GLP dürfte zum Nein tendieren.

Mindestlöhne

Eine nationale Volksinitiative zur Einführung eines Mindestlohns erlitt vor elf Jahren deutlich Schiffbruch. Auf kantonaler Ebene hingegen wurden diverse Initiativen angenommen, vor allem in der Westschweiz. Das ist Bürgerlichen und der Wirtschaft ein Dorn im Auge. Sie wollen diese Volksentscheide nicht aushebeln, aber «übersteuern».

Konkret sollen Gesamtarbeitsverträge (GAV), in denen tiefere Löhne vereinbart wurden, Vorrang haben gegenüber kantonalen Mindestlöhnen. Der Bundesrat hatte aus Rücksicht auf den Föderalismus schon die ursprüngliche Forderung des Obwaldner Mitte-Ständerats Erich Ettlin bekämpft und musste widerwillig eine Gesetzesvorlage ausarbeiten.

Wirtschaftsminister Guy Parmelin (SVP) empfahl sie im Nationalrat erneut zur Ablehnung, ohne Erfolg. Die bürgerliche Mehrheit säuselte das hohe Lied der Sozialpartnerschaft. Bei der beruflichen Vorsorge (BVG) aber hatte sie kein Musikgehör für den Reformvorschlag der Sozialpartner, und auch gegen die Einigung beim Lohnschutz gibt es Bedenken.

Die FDP erwähnte in ihrer Medienmitteilung mit keinem Wort, dass die kantonalen Mindestlöhne auf Volksentscheiden basieren. Betroffen sind vorerst «nur» Genf und Neuenburg, doch in anderen Kantonen sind identische Initiativen hängig. Trotzdem ist absehbar, dass der Ständerat als Kantonsvertretung der Vorlage ebenfalls zustimmen wird.

Zivildienst

Früher mussten Militärdienstverweigerer zwingend ins Gefängnis. Zwei Initiativen zur Einführung eines zivilen Ersatzdienstes scheiterten in der Volksabstimmung. Mit dem Ende des Kalten Kriegs kam der Umschwung. 1992 befürwortete eine überwältigende Mehrheit den Zivildienst. Selbst die konservativen Kleinkantone in der Inner- und Ostschweiz sagten Ja.

2009 wurde als weiterer Schritt die in mancher Hinsicht fragwürdige Gewissensprüfung abgeschafft, basierend auf einem Vorstoss des Aargauer EVP-Nationalrats Heiner Studer. Nun aber soll sie nach dem Willen der bürgerlichen Mehrheit des Nationalrats wieder eingeführt werden. Begründet wurde dies mit dem angeblichen Personalbedarf der Armee.

ARCHIV - Ein Zivildienstleistender arbeitet am Neubau eines Bauernhofes, aufgenommen am 4. November 2009 in Wolfenschiessen im Kanton Nidwalden. - Die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrate ...
Die Gewissensprüfung soll wieder eingeführt und der Zivildienst mit dem Zivilschutz zusammengelegt werden.Bild: KEYSTONE

Etwas blauäugig könnte man argumentieren, dass der Zustand von 1992 wieder hergestellt wird, doch viele Bürgerliche würden den Zivildienst am liebsten abschaffen. Sie beschlossen weitere Verschärfungen, etwa eine Mindestdauer von 150 Tagen. Und der Ständerat sprach sich am Mittwoch für die Zusammenlegung von Zivildienst und Zivilschutz aus.

Er schloss sich einem früheren Entscheid des Nationalrats an. Konkret wird der Bundesrat beauftragt, die sogenannte Sicherheitsdienstpflicht «schnellstmöglich einzuführen». Verteidigungsminister Martin Pfister (Mitte) wollte von diesem Eiltempo nichts wissen und warnte vor den damit verbundenen Mehrkosten, wurde aber überstimmt.

Man könnte als weiteres Beispiel die Lockerung des Kriegsmaterialgesetzes im Ständerat erwähnen. Es war erst 2021 verschärft worden, worauf die sogenannte Korrekturinitiative der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) zurückgezogen wurde. Allenfalls liessen sich die geopolitischen Turbulenzen als «mildernder Umstand» geltend machen.

Dennoch schiesst die Vorlage des Ständerats über das Ziel hinaus. Und grundsätzlich bleibt die Feststellung, dass das Parlament einen nonchalanten Umgang mit den Volksrechten praktiziert. Die Bürgerlichen ärgern sich, dass linke Anliegen beim Volk durchkommen, die früher chancenlos waren. Dem Vertrauen in die Politik aber hilft dies sicher nicht.

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236 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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En Espresso bitte
19.06.2025 16:04registriert Januar 2019
Ist doch immer dasselbe Spiel bei den Bürgerlichen. Geht es um mehrheitsfähige, bürgerliche Anliegen, kann das Volk gar nicht genug betont werden. Geht es um Anliegen entgegen der bürgerlichen Interessen, ist das Volkswohl störend oder sogar inexistent und muss möglichst draussen gehalten werden.
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Überdimensionierte Riesenshrimps aka Reaper
19.06.2025 15:58registriert Juni 2016
Man kann es noch schärfer analysieren.
Die Bürgerlichen sind nur für Volkstechte wenn es um ihre Anliegen geht.
Ansonsten kann man zum Wohle von Lobbies gerne alles aushebeln wie man will.
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H.P. Liebling
19.06.2025 15:58registriert September 2018
Das kommt davon, wenn man noch immer das Gefühl hat, "bürgerliche Politik" käme der Mehrheit im Lande zugute.
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