Alle hassten Frau Lüthy. Als ich zu meiner Handarbeitslehrerin in den Unterricht kam, war ich als Achtjährige gerade neu aus dem Kosovo in die Schweiz geflüchtet und landete mit meiner Familie im zürcherischen Oberstammheim, wo ich die erste Klasse der Primarschule besuchte.
Wir waren die einzigen Ausländer im Dorf. Ich sprach kein Wort Deutsch und die Kinder machten keinen Hehl daraus, mir von Beginn an zu zeigen, dass ich hier nicht willkommen war. Bereits in der zweiten Schulwoche bedrohten mich ein paar Sechstklässler mit Baseballschlägern, versperrten mir den Weg und liessen mich nicht in die Schule rein: «Hau ab, du Usländerin!»
Ich hatte grosse Angst und rannte völlig aufgelöst, so schnell ich konnte, nach Hause.
Meine Mutter hatte mich bereits von Weitem weinen gehört und empfing mich an der Eingangstür unserer Unterkunft. Ich erzählte ihr schluchzend, was passiert war, und schrie verzweifelt: «Ich gehe nie wieder in diese Scheiss-Schweizer-Schule zurück!» Doch zu meinem Entsetzen liess mich meine Mutter nicht ins Haus und forderte mit erhobenem Zeigefinger: «Du gehst jetzt sofort zurück und du lässt dir von keinem das Lernen verbieten!»
Natürlich weigerte ich mich und wollte nur noch zurück nach Hause – in mein richtiges Zuhause, zu meinen Freunden nach Pristina (KS).
Mit ruhiger Stimme und eisernem Blick wiederholte meine Mutter: «Diese Kinder müssen dich nicht mögen, aber keiner darf dich von der Schule ausschliessen!» Wie ein Mantra wiederholte meine Mutter ihre Worte mehrmals und wischte mir die Tränen vom Gesicht.
Aus der Retrospektive betrachtet, war das ein Schlüsselmoment in meinem Leben: Aus purer Verzweiflung entstand Wut – und schliesslich Mut.
Ein Life-Coach würde diese Zeit meines Lebens womöglich als Charakterbildungsphase bezeichnen.
Ich akzeptierte die Tatsache, dass keines der Kinder mit mir spielen wollte, und verbrachte bis zur 3. Klasse praktisch jede grosse Pause in der Toilette und las dort Bücher.
Ich mochte Frau Lüthy. In ihrem Unterricht fühlte ich mich den anderen Kindern ebenbürtig.
Dass ich noch nicht gut Deutsch konnte, war hier kein Nachteil: Schwatzen war ohnehin verboten! Stattdessen legte die gute, alte Frau Lüthy Wert auf Disziplin, Konzentration, Regeln und Anstand. «Inestäche, umeschlah, durezieh und abelah», so lehrte sie mich die Kunst des Strickens.
Eines Morgens, wir sassen bereits alle an unseren Plätzen, stürmte Frau Lüthy ins Klassenzimmer, knallte fuchsteufelswild ihre Unterlagen auf den Tisch, schüttelte ungläubig ihren Kopf und wandte sich an meine Schulkameraden: «Säget emal, gaht’s no?» Seit Monaten hätte sie nun beobachtet, wie ich immer alleine am Tisch sitzen müsse: «Das geht so nicht weiter!»
Frau Lüthy klatschte dreimal in die Hände und forderte uns alle auf, die hintereinander aufgereihten Tische neu so anzuordnen, dass am Ende eine U-Form entstand.
Ich war überwältigt und gerührt. Schüchtern setzte ich mich an meinen Tisch, der plötzlich im Mittelpunkt des Klassenzimmers stand. Links und rechts von mir meine Mitschülerinnen.
Man mag über Frau Lüthy denken, was man will. Aber nach diesem Tag sass ich nie wieder alleine.
Im Laufe meines Lebens habe ich in der Schweiz so manche «Charakterbildungsphase» durchleben müssen: als Frau, Albanerin, Muslimin, Studentin, alleinerziehende Mutter, Journalistin und vieles mehr.
Eines habe ich dabei gelernt: Die Schweiz kann sehr wohl ein Land der Chancengleichheit sein. Dafür braucht es aber Menschen wie Frau Lüthy, die bereit sind, die Tische so umzustellen, dass keiner mehr ausgeschlossen ist.
Dazu muss ich aber auch sagen, dass ich als Kind von eben diesen "Usländern" ebenso runtergeputzt wurde, wie Frau Eshrefi es in ihrem Artikel beschreibt.
Generell kann man sagen, dass einfach niemand aufgrund seiner Herkunft diskriminiert werden sollte. Wir sind alle Menschen.