Schweiz
Leben

Anarchisten-Treff in St. Imier: Augenschein im Berner Jura

Tents of the participants in the camping area during the international anti-authoritarian gathering Anarchy 2023 in St-Imier, Switzerland, on Wednesday, July 19, 2023. The gathering takes place from J ...
Die Teilnehmenden liessen auf einem Camping-Gelände in St-Imier nieder.Bild: keystone

Sie schlafen im Zelt und essen Ratatouille – was die Anarchisten im Jura sonst noch machen

Hunderte, vielleicht Tausende Anarchistinnen und Anarchisten strömen dieser Tage nach St-Imier. Eine kleine Bestandsaufnahme über den Zustand der Revolution.
21.07.2023, 15:1621.07.2023, 15:16
Benjamin Rosch / ch media
Mehr «Schweiz»

Antoine, 66, trägt eine runde Brille und einen angegrauten Bart, der nahezu nahtlos mit einer struppigen Frisur verschmilzt. «Ich bin seit fünfzig Jahren militanter Anarchist», sagt er freundlich. Von Ambérieu-en-Bugey in Frankreich sei er hierhingefahren, alleine, leider. «Ich war schon 2012 in St-Imier», sagt er, «aber dieses Mal hat es mehr Leute.»

epa10755292 Participant Lilu of Germany plays guitar during the international anti-authoritarian gathering Anarchy 2023 in St-Imier, Switzerland, on 19 July 2023. The gathering takes place from July 1 ...
Lilu aus Deutschland klimpert ein Stück auf der Gitarre.Bild: keystone

Vielleicht hat sich Antoine nur zufällig auf die Steinstufe an der Rue Francillon gesetzt. Aber genau auf der gegenüberliegenden Strassenseite hat 1872 ein Stück Weltgeschichte stattgefunden. Dort, im damaligen Hôtel de la maison de Ville, gründete der russische Rebell Michail Bakunin zusammen mit jurassischen Revolutionären die Antiautoritäre Internationale. Es war eine Gegenbewegung zur Internationalen Arbeiterassoziation von Karl Marx und Friedrich Engels und vor allem, auch wenn es noch niemand so nannte: der Grundstein für den vernetzten Anarchismus.

Zu diesem Jubiläum – pandemiebedingt verzögert um ein Jahr – strömen derzeit aus der ganzen Welt Anarchisten unterschiedlichster Prägung in den Berner Jura, um Gegenwart und Zukunft ihrer Bewegung neu auszuhandeln.

Am Morgen hat Antoine in der Küche ausgeholfen, danach besuchte er einen Workshop zur kritischen Maskulinität. «Sehr interessant» sei das gewesen, sagt er. Überhaupt sei alles sehr strukturiert, sehr gut aufgebaut. Zu schaffen macht Antoine die zunehmende Digitalisierung der Bewegung: «Ich bin nicht so gut mit Computern.» Zu Hause in Frankreich engagiere er sich in der Union communiste libertaire, organisiere Streiks und Demos. Vom Treffen in der Schweiz erhofft er sich neue Impulse, neue Kontakte im Kampf gegen den Faschismus, «der sich in ganz Europa ausbreitet».

Das Programm: Feiern, vernetzen und sich streiten

Die Internationalität dieses Treffens atmet durch jeden Winkel St-Imiers. Im Kulturzentrum «Espace Noir», einem der Hotspots von «Anarchy 2023», werden Kaffees auf Spanisch, Italienisch, Englisch und Französisch bestellt. An einer Strassenecke nicht weit davon entfernt stehen zwei Frauen mit grossen Koffern. «Woher seid ihr angereist?», fragt eine Dritte auf Englisch. «Aus New York, gerade angekommen», antworten die beiden, «und du?» «Aus Berlin.» 12 Stunden Weg habe sie auf sich genommen. «Die gleiche Hingabe also», anerkennen die beiden Amerikanerinnen. So klein das Nischendasein der Anarchismus in den meisten Regionen fristet, so gross ist das Bedürfnis seiner Anhänger, sich zu treffen und auszutauschen.

epa10755287 Book vendor Elo poses at the book fair during the international anti-authoritarian gathering Anarchy 2023 in St-Imier, Switzerland, on Wednesday, 19 July 2023. The gathering takes place fr ...
Auge in Auge mit der Geschichte des Anarchismus: St-Imier lässt die Historie hochleben.Bild: keystone

Und um sich zu streiten. Geboren aus der Abspaltung haben sich die Anarchistinnen und Anarchisten immer wieder in neue Strömungen fragmentiert, nicht immer in Minne. Zeugnis davon liefern die Telegram-Chats, die das Treffen im Jura virtuell begleiten: Erbittert kämpfen Aktivisten um die Bandbreite der Bewegung. Der Ton wird schnell schrill, die Revolution disst ihre Kinder: Sind Krypto-Währungen anarchistisch? Ist Misstrauen gegenüber dem Pandemie-Management der WHO noch Systemkritik oder bereits Verschwörungstheorie? Manche Workshops wurden offenbar kurzfristig abgesagt, andere endeten damit, dass die Debattierenden den Raum verliessen.

A staff worker in the vegan kitchen cooks ratatouille during the international anti-authoritarian gathering Anarchy 2023 in St-Imier, Switzerland, on Wednesday, July 19, 2023. The gathering takes plac ...
Auch für das leibliche Wohl ist gesorgt: Hier wird ein Ratatouille gekocht.Bild: keystone

«Anarchismus ist nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen», sagt Helge Döhring, ein Hüne mittleren Alters aus Bremen. Er steht vor einem kleinen Bücherstand in der Hockey-Arena von St-Imier. Es ist ein absurdes Bild: Unter der Decke der Halle baumeln die Trikots der lokalen Eis-Heiligen, unten liegen die Schriften von Marx, Bakunin und Kropotkin. Dicke Schinken und schmallippig verfasste Pamphlete. Rund zweihundert Menschen streunen über die Büchermesse für die Revolution: Text, das merkt man schnell, hat hier einen hohen Stellenwert.

Immer noch zu wenig, findet Döhring, «die intellektuelle Auseinandersetzung macht an dieser Veranstaltung einen Viertel, vielleicht einen Drittel aus. Der Rest ist Party.» Ein Buch «zur Aktualität anarchistischer Klassiker» (1993) wechselt den Besitzer, man gibt so viel, wie man will oder kann.

Mit dem Goodwill der Gemeinde

Schwer abzuschätzen, wie viele tatsächlich gekommen sind oder bis zum Ende von «Anarchy 2023» am Sonntag noch aufmarschieren. Jede Regionalbahn aus Biel pumpt mehr Leute in schwarzen T-Shirts in das kleine Uhrendorf; die Parkplätze sind voll und auch der Campingplatz füllt sich allmählich. Am Bahnhof begrüsst eine junge Frau im roten T-Shirt die Neuankömmlinge und drückt ihnen eine Karte in der gewünschten Sprache in die Hand. Es gibt Konzert-Orte, einen Hybrid-Saal für Videokonferenzen und eine Küche, die jeden Tag 600 Kilo Brot bäckt. «Mit Sicherheit sind wir bereits Hunderte, vielleicht auch Tausende», sagt die junge Frau im roten T-Shirt.

epa10755291 Participants look at books during the international anti-authoritarian gathering Anarchy 2023 in St-Imier, Switzerland, 19 July 19, 2023. The gathering takes place from July 19 until July  ...
Oben die Trikots, unten die Triebfeder der Bewegung: anarchistische Büchermesse in St-Imier.Bild: keystone

Das Ortsbild der 5000-Seelen-Gemeinde ist am Donnerstagmittag von den Anarchistinnen und Anarchisten bestimmt: Sie liegen in Parks oder auf den Weiden, laufen barfuss über das Kopfsteinpflaster. Manchmal wirkt die gesamte Veranstaltung wie ein Woodstock mit weniger Farben. Manchmal wie Philosophieseminar. Der Umsturz der Gesellschaft ist eine langwierige Angelegenheit.

Alles ist friedlich, Polizei ist weit und breit keine zu sehen. Anlass zum Ärger bieten höchstens ein paar falsch parkierte Autos. Bereits im Vorfeld hatte das Organisationskomitee klargestellt:

«Anarchie ist keineswegs Chaos und Unordnung, sondern das Gegenteil: Sie steht für eine antiautoritäre Haltung und eine persönliche und gesellschaftliche Organisation, die die Emanzipation aller Menschen fördert.»

Wohl auch deshalb unterstützt die Gemeinde St-Imier das Treffen, stellt unter anderem Tische, Absperrungen und Räume «für einen privilegierten Pauschalbetrag zur Verfügung», wie es auf Anfrage heisst.

«Die Organisatoren standen bei zwei Koordinationssitzungen mit der Kantonspolizei in Kontakt, um über den Sicherheitsaspekt zu sprechen. Sie mussten auch ein Sicherheitskonzept vorlegen.»

Ewige Ruhe in Bern

Die Fahrt von St-Imier nach Bern dauert ein bisschen länger als üblich. Grund seien «manifestations» in der Nähe der Fahrbahn um St-Imier, meldet der Kondukteur. Bei Bern, auf dem Friedhof Bremgarten, liegt Michail Alexandrowitsch Bakunin begraben. Wo genau, zeigt der Friedhofsverwalter gerne. Es sei ja bereits der dritte Besuch heute an der Ruhestätte des Revolutionären, sagt er schulterzuckend.

Die Legende besagt, hinter dem Grabstein liege stets eine Flasche Wodka bereit, um auf das Wohl des längst verstorbenen Gründervaters anzustossen. Romantischer könnte eine Revolution kaum sein. «Wer nicht das Unmögliche wagt, wird das Mögliche niemals erreichen», steht auf dem Stein. Dahinter verbirgt sich tatsächlich eine Flasche Schnaps. Ingwerlikör zwar, aber dessen Basis ist ja immerhin auch Wodka. (aargauerzeitung.ch)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
90 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Jeff Player
21.07.2023 15:54registriert Mai 2023
Das ist interessant und inspirierend. Ich gehe am Wochenende auch da hin und hoffe, spannende Vorträge zu hören. Kein Gott, kein Herr. So hiess die Dokumentation auf ARTE über die Geschichte des Anarchismus. Ich wusste nicht, dass dies eine sehr grosse Bewegung war. Wird richtig totgeschwiegen.
10031
Melden
Zum Kommentar
avatar
herr igel
21.07.2023 15:49registriert Juni 2021
Ich liebe Ratatouille 😍
6312
Melden
Zum Kommentar
avatar
Steven Collins
21.07.2023 19:31registriert Juni 2023
Also bisher hatte ich ein ganz anderes Bild von Anarchisten. Ich muss sagen, sie hinterlassen keinen Abfall, machen keinen Radau, interessieren sich für Literatur, sind im Jura am Zelteln ohne grosse Camping-Vans für >70K.....hinterlassen wohl den geringsten Fussabdruck was den Umweltschutz anbelangt.. Chapeau, von denen können wir noch was lernen. Ich bin konservativ aber die finde ich nun wirklich vorbildhaft. Bin ich nun Anarchist? Danke für den Artikel. Sicherlich mehr Wert als die, welche sich kleben und dann nach Mexico in den Urlaub fliegen. Das sind wahrlich überzeugte ehrliche Leute.
533
Melden
Zum Kommentar
90
    Feministischer Streik am 14. Juni 2025 – das Programm in deiner Stadt
    Am 14. Juni ziehen wieder violette Wellen durch die Schweizer Altstädte. Anlass dafür ist der landesweite feministische Streik, ehemals Frauenstreik. Wo in deiner Stadt Demonstrationen und Veranstaltungen stattfinden.

    Der 14. Juni 2025 ist der Tag des feministischen Streiks. In verschiedenen Städte finden Demonstrationen und Veranstaltungen statt. Hier findest du das Programm in deiner Stadt:

    Zur Story