Antoine, 66, trägt eine runde Brille und einen angegrauten Bart, der nahezu nahtlos mit einer struppigen Frisur verschmilzt. «Ich bin seit fünfzig Jahren militanter Anarchist», sagt er freundlich. Von Ambérieu-en-Bugey in Frankreich sei er hierhingefahren, alleine, leider. «Ich war schon 2012 in St-Imier», sagt er, «aber dieses Mal hat es mehr Leute.»
Vielleicht hat sich Antoine nur zufällig auf die Steinstufe an der Rue Francillon gesetzt. Aber genau auf der gegenüberliegenden Strassenseite hat 1872 ein Stück Weltgeschichte stattgefunden. Dort, im damaligen Hôtel de la maison de Ville, gründete der russische Rebell Michail Bakunin zusammen mit jurassischen Revolutionären die Antiautoritäre Internationale. Es war eine Gegenbewegung zur Internationalen Arbeiterassoziation von Karl Marx und Friedrich Engels und vor allem, auch wenn es noch niemand so nannte: der Grundstein für den vernetzten Anarchismus.
Zu diesem Jubiläum – pandemiebedingt verzögert um ein Jahr – strömen derzeit aus der ganzen Welt Anarchisten unterschiedlichster Prägung in den Berner Jura, um Gegenwart und Zukunft ihrer Bewegung neu auszuhandeln.
Am Morgen hat Antoine in der Küche ausgeholfen, danach besuchte er einen Workshop zur kritischen Maskulinität. «Sehr interessant» sei das gewesen, sagt er. Überhaupt sei alles sehr strukturiert, sehr gut aufgebaut. Zu schaffen macht Antoine die zunehmende Digitalisierung der Bewegung: «Ich bin nicht so gut mit Computern.» Zu Hause in Frankreich engagiere er sich in der Union communiste libertaire, organisiere Streiks und Demos. Vom Treffen in der Schweiz erhofft er sich neue Impulse, neue Kontakte im Kampf gegen den Faschismus, «der sich in ganz Europa ausbreitet».
Die Internationalität dieses Treffens atmet durch jeden Winkel St-Imiers. Im Kulturzentrum «Espace Noir», einem der Hotspots von «Anarchy 2023», werden Kaffees auf Spanisch, Italienisch, Englisch und Französisch bestellt. An einer Strassenecke nicht weit davon entfernt stehen zwei Frauen mit grossen Koffern. «Woher seid ihr angereist?», fragt eine Dritte auf Englisch. «Aus New York, gerade angekommen», antworten die beiden, «und du?» «Aus Berlin.» 12 Stunden Weg habe sie auf sich genommen. «Die gleiche Hingabe also», anerkennen die beiden Amerikanerinnen. So klein das Nischendasein der Anarchismus in den meisten Regionen fristet, so gross ist das Bedürfnis seiner Anhänger, sich zu treffen und auszutauschen.
Und um sich zu streiten. Geboren aus der Abspaltung haben sich die Anarchistinnen und Anarchisten immer wieder in neue Strömungen fragmentiert, nicht immer in Minne. Zeugnis davon liefern die Telegram-Chats, die das Treffen im Jura virtuell begleiten: Erbittert kämpfen Aktivisten um die Bandbreite der Bewegung. Der Ton wird schnell schrill, die Revolution disst ihre Kinder: Sind Krypto-Währungen anarchistisch? Ist Misstrauen gegenüber dem Pandemie-Management der WHO noch Systemkritik oder bereits Verschwörungstheorie? Manche Workshops wurden offenbar kurzfristig abgesagt, andere endeten damit, dass die Debattierenden den Raum verliessen.
«Anarchismus ist nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen», sagt Helge Döhring, ein Hüne mittleren Alters aus Bremen. Er steht vor einem kleinen Bücherstand in der Hockey-Arena von St-Imier. Es ist ein absurdes Bild: Unter der Decke der Halle baumeln die Trikots der lokalen Eis-Heiligen, unten liegen die Schriften von Marx, Bakunin und Kropotkin. Dicke Schinken und schmallippig verfasste Pamphlete. Rund zweihundert Menschen streunen über die Büchermesse für die Revolution: Text, das merkt man schnell, hat hier einen hohen Stellenwert.
Immer noch zu wenig, findet Döhring, «die intellektuelle Auseinandersetzung macht an dieser Veranstaltung einen Viertel, vielleicht einen Drittel aus. Der Rest ist Party.» Ein Buch «zur Aktualität anarchistischer Klassiker» (1993) wechselt den Besitzer, man gibt so viel, wie man will oder kann.
Schwer abzuschätzen, wie viele tatsächlich gekommen sind oder bis zum Ende von «Anarchy 2023» am Sonntag noch aufmarschieren. Jede Regionalbahn aus Biel pumpt mehr Leute in schwarzen T-Shirts in das kleine Uhrendorf; die Parkplätze sind voll und auch der Campingplatz füllt sich allmählich. Am Bahnhof begrüsst eine junge Frau im roten T-Shirt die Neuankömmlinge und drückt ihnen eine Karte in der gewünschten Sprache in die Hand. Es gibt Konzert-Orte, einen Hybrid-Saal für Videokonferenzen und eine Küche, die jeden Tag 600 Kilo Brot bäckt. «Mit Sicherheit sind wir bereits Hunderte, vielleicht auch Tausende», sagt die junge Frau im roten T-Shirt.
Das Ortsbild der 5000-Seelen-Gemeinde ist am Donnerstagmittag von den Anarchistinnen und Anarchisten bestimmt: Sie liegen in Parks oder auf den Weiden, laufen barfuss über das Kopfsteinpflaster. Manchmal wirkt die gesamte Veranstaltung wie ein Woodstock mit weniger Farben. Manchmal wie Philosophieseminar. Der Umsturz der Gesellschaft ist eine langwierige Angelegenheit.
Alles ist friedlich, Polizei ist weit und breit keine zu sehen. Anlass zum Ärger bieten höchstens ein paar falsch parkierte Autos. Bereits im Vorfeld hatte das Organisationskomitee klargestellt:
Wohl auch deshalb unterstützt die Gemeinde St-Imier das Treffen, stellt unter anderem Tische, Absperrungen und Räume «für einen privilegierten Pauschalbetrag zur Verfügung», wie es auf Anfrage heisst.
Die Fahrt von St-Imier nach Bern dauert ein bisschen länger als üblich. Grund seien «manifestations» in der Nähe der Fahrbahn um St-Imier, meldet der Kondukteur. Bei Bern, auf dem Friedhof Bremgarten, liegt Michail Alexandrowitsch Bakunin begraben. Wo genau, zeigt der Friedhofsverwalter gerne. Es sei ja bereits der dritte Besuch heute an der Ruhestätte des Revolutionären, sagt er schulterzuckend.
Die Legende besagt, hinter dem Grabstein liege stets eine Flasche Wodka bereit, um auf das Wohl des längst verstorbenen Gründervaters anzustossen. Romantischer könnte eine Revolution kaum sein. «Wer nicht das Unmögliche wagt, wird das Mögliche niemals erreichen», steht auf dem Stein. Dahinter verbirgt sich tatsächlich eine Flasche Schnaps. Ingwerlikör zwar, aber dessen Basis ist ja immerhin auch Wodka. (aargauerzeitung.ch)