Riesiges Anarchisten-Treffen in St-Imier BE: Eine Geschichte der Anarchie in der Schweiz
Bei «Schweizer Anarchismus» denken viele vielleicht an ruhige und pünktliche Rebellen wie diesen:

Dabei wird aber oft vergessen, dass die Schweiz einst ein zentraler Knotenpunkt für die anarchistische Arbeiterbewegung in Europa war. Hier eine kleine Geschichtslektion, die dir in der Schule gefehlt hat.
Der Anfang
Wie so manche Geschichten des 19. Jahrhunderts beginnt auch die Geschichte des Anarchismus mit ein paar bärtigen Männern.
Zum Beispiel mit ihm:
Der Russe Michail Bakunin wurde von seinem Vater ins Militär geschickt. Doch er mochte das Militär nicht. Mit 18 Jahren wurde er nach Polen beordert, wo er von der Brutalität schockiert war, mit der Zar Nikolaus I. den Novemberaufstand niederschlagen liess.
Er meldete sich krank, verliess das Militär und begann, in Moskau Philosophie zu studieren. Dabei interessierte er sich vor allem für deutsche Philosophen, insbesondere Georg Hegel.
In Deutschland interessierte sich zu dieser Zeit auch noch ein anderer bärtiger Mann für Hegel.
Bakunin zog 1844 nach Paris. Dort traf er Karl Marx, der sich zu diesem Zeitpunkt schon intensiv mit der Theorie des Sozialismus beschäftigt hatte.
Obwohl sie viele Ansichten bezüglich der Kritik am Kapitalismus und der Notwendigkeit einer Revolution teilten, wurden die beiden auf ideologischer Ebene keine Freunde.
Was Marx zu einer autoritären Führung der Revolution meinte:
Laut Marx sollte eine staatliche «Diktatur der Arbeiterklasse» die Ideologie des Sozialismus durchsetzen, die sich danach, wenn die Gesellschaft den Wandel verinnerlicht hatte, von alleine auflösen würde.
Was Bakunin zu einer autoritären Führung der Revolution meinte:
Bakunin war jede Art von Staat und Autorität zuwider. Er warnte, dass jegliche Diktatur nur zu einer erneuten Unterdrückung führen würde und wollte die Revolution basisdemokratisch organisieren.
Zunächst noch eine Untergruppe, wurden die kollektivistischen Anarchisten um Bakunin bald zur grössten Kraft in der Arbeiterbewegung. Das verdanken sie auch der Schweiz.
Die Schweiz
Die antiautoritäre Bewegung in der Schweiz konnte vor allem im Neuenburger und Berner Jura Fuss fassen, wo viele politische Flüchtlinge der Bewegung Zuflucht gefunden haben. In der Arbeiterbewegung der Uhrenindustrie formte sich eine Strömung, die sich immer mehr der anarchistischen Linie von Bakunin anglich.

Am 18.11.1871 vereinigten sich die jurassischen Sektionen der Arbeiterbewegung zur anarchistisch organisierten Féderation jurassienne und setzten ein Rundschreiben auf. In diesem kritisierten sie die diktatorische Haltung des Generalrates der «Internationalen Arbeiter-Assoziation» um Marx und Engels.
Die Spannungen zwischen Kommunisten und Anarchisten wuchsen. 1872 wurde die Situation dem Generalrat zu brenzlig: Am Kongress in Den Haag warfen sie die Anarchisten um Bakunin aus der Assoziation.
Darunter auch diesen Neuenburger:
Daraufhin gründeten die Anarchisten kurzerhand selbst eine Arbeitervereinigung: die «antiautoritäre Internationale».
Und zwar im beschaulichen Saint-Imier im Berner Jura:
Die antiautoritäre Internationale umfasste anarchistische Verbände in Spanien, Italien, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, England, den USA und natürlich der Schweiz.
Die Gewalt
Das Bulletin der Fédération jurassienne wurde zu einem europaweiten Sprachrohr, in dem bekannte Anarchisten ihre Thesen verbreiteten.
Paul Brousse war Anarchist und ein politischer Flüchtling aus der Pariser Kommune. Er hielt nicht viel von Reden und Diskutieren. In einem Artikel definierte Brousse den Begriff der «Propaganda der Tat». Aktionen wie Attentate und Königsmorde sollten die Bevölkerung «aufwecken» und die Revolution beschleunigen.
Er organisierte im März 1876 eine Demonstration in Bern, bei der auch erstmals eine rote Fahne mitgeführt wurde. Wegen dieser Provokation kam es kurz nach Beginn zu einem Zusammenstoss mit bürgerlichen Bernern, welche die rote Fahne zerrissen und einzelne Demonstranten in den Stadtbach tauchten.
1877 wollten sich die Anarchisten rächen. Bei einer erneuten Demonstration der jurassischen Anarchisten in Bern wurde wieder eine rote Fahne mitgeführt.
Um einen neuerlichen Konflikt zu verhindern, war auch die Polizei anwesend, welche die Demonstranten bat, die Fahne einzurollen.
Als sie nicht Folge leisteten, griff die Polizei ein. Aber diesmal hatten sich die Anarchisten vorbereitet und Dolche, Schlagringe und Totschläger mitgeführt. Es kam zu einem brutalen Handgemenge zwischen Bürgerlichen, Anarchisten und der Polizei. Zahlreiche Beteiligte wurden verletzt.
An der Demonstration nimmt auch der letzte bärtige Mann unseres kleinen Geschichts-Exkurses teil:
Die Radikalisierung der Fédération jurassienne unter Paul Brousse und Pjotr Kropotkin war zugleich auch ihr Niedergang. Sie verlor den Rückhalt in der Arbeiterbewegung der Uhrenindustrie, die sich zu dieser Zeit mit anderweitigen Krisen konfrontiert sah.
Ausserdem emigrierte das Aushängeschild der Organisation, James Guillaume, 1878 nach Paris. Und seine Kollegen, zum Beispiel Adhémar Schwitzguébel, begannen sich mehr für Gewerkschaften zu engagieren.

Vom kollektiven Anarchismus blieben nur kleinere, autonome Gruppen übrig, denen vor allem Ausländer angehörten. Es folgten einige Aktionen, die zur Verschärfung der Gesetze gegen Anarchisten führten:
- 1885: Eine anonyme Drohung, das Bundeshaus in die Luft zu sprengen.
- 1898: Die anarchistisch motivierte Ermordung der Kaiserin Elisabeth von Österreich in Genf.
Durch seine Ablehnung des bolschewistischen Regimes in Russland begann sich der Anarchismus ausserdem noch weiter von der linken Arbeiterbewegung zu entfernen. 1940 wurde schliesslich jegliche anarchistische Tätigkeit in der Schweiz verboten, so dass diese politische Richtung endgültig in der Versenkung verschwand.
Später griffen zwar einige Jugendbewegungen (z.B. die Punk-Kultur) ein paar Konzepte des Anarchismus wieder auf, dieser konnte sich aber nie mehr etablieren.