Seit der Pandemie ist Risikoabwägung eine noch offensichtlichere Begleiterin im Alltag. Soll ich die Plastikhandschuhe beim Grossverteiler anziehen? Soll ich die Kinder mit zum Einkaufen mitnehmen? Welchen Abstand halte ich ein, wenn ich mit anderen Leuten spreche?
Während der hiesigen Version des Lockdowns hatten es Herr und Frau Schweizer mehr oder weniger in der Hand, wie sehr sie sich dem Risiko, angesteckt zu werden, aussetzen wollen. Vielleicht ist «mehr oder weniger» noch übertrieben – aber sie hatten die Zügel fester in der Hand als nach der Lockerung. Diese bringt naturgemäss zusätzliche Ansteckungsrisiken mit sich: Arbeitnehmer werden in die Büros beordert. Die öffentlichen Verkehrsmittel, für viele die einzige Möglichkeit, zur Arbeit zu kommen, füllen sich wieder. Die Kinder gehen wieder zur Schule.
Doch was passiert, wenn jemand in einer Familie (oder einer WG) erkrankt? Welchen Rattenschwanz an Konsequenzen zieht das mit sich? Wir haben aufgrund der (nicht immer stringenten) Anweisungen des Bundesamtes für Gesundheit zu Quarantäne und Isolation und Berichten von Betroffenen zwei mögliche Szenarien durchgespielt. Den Gau, bei dem beide Eltern im Spital landen, haben wir uns erspart. Aber es braucht nicht einmal eine Erkrankung, um eine Familie ein paar Tage herauszufordern.
Das sind Wendy (42), Stan (42) und ihre Kinder Heidi (7) und Timmy (2) aus Schwamendingen.
Wendy arbeitet 80 Prozent bei «Shady Acres», Stan ebenfalls 80 Prozent bei «U-Stor-It». Am 11. Mai wurden sie aus dem Home Office ins Büro beordert.
Bei «Shady Acres» hat Wendy immer mal wieder Sitzungen mit Kyle. Dabei wird zwar auf die Distanz geachtet, aber nicht mit dem Massband.
Am 15. Mai wird Kyle positiv auf Corona getestet. Er zeigt bereits Symptome. In der Retrospektive können Wendy und diverse Kolleginnen nicht garantieren, keine 15 Minuten in weniger als 2 Metern Abstand zu Kyle verbracht zu haben.
Die Anweisungen des BAG sind klar: Wer engen Kontakt mit einer erkrankten Person hatte, muss in die Quarantäne. Enger Kontakt beginnt, wenn 15 Minuten oder länger der Abstand von zwei Metern nicht eingehalten wurde.
Das Büro von «Shady Acres» wird für 10 Tage geschlossen. Wer kann, arbeitet von zuhause. Wendy muss in die ärztlich verordnete Quarantäne.
Soweit zu den Voraussetzungen.
Tag 1: Bei Menschen, die zusammen wohnen, weist das BAG an, dass sich betroffene Personen in einem Zimmer isolieren und, sofern möglich, ein eigenes Bad benutzen sollen. Wendy und Stan haben Glück. Wendy kann sich im Ferienhaus von Bekannten isolieren. Kontakt zu den Kindern findet per Videocall statt. Stan übernimmt derweil sämtliche familiären Aufgaben.
An ein Arbeitspensum von 80% ist nicht mehr zu denken. Stan reduziert auf 40%. An zwei Tagen kann er die Tochter in die Schule und den Sohn in die Krippe bringen. Stans Entschädigung beträgt 80% des entgangenen Lohnes. Stan macht einen Abstecher ins Reich der AlleinerzieherInnen. So vergehen die Tage.
Auf der Seite der SVA Zürich gibt es dazu die Erklärung und die Links zu den Ausgleichskassen anderer Kantone.
Tag 10: Wendy hat keine Symptome. Ein Corona-Test fällt negativ aus. Sie muss darf jetzt wieder zurück zur Familie. «Normailtät» kehrt wieder ein.
Noch immer gilt: Kyles Testresultat war positiv, «Shady Acres» macht dicht und Wendy muss in die Quarantäne. Doch in diesem Fall kennen Wendy und Stan niemanden mit einem Ferienhaus.
Tag 1: Es gibt keine Rückzugsmöglichkeit ausser Haus. Die Quarantäne muss in den eigenen vier Wänden geschehen. Wendy schliesst sich deshalb für 10 Tage im Elternschlafzimmer ein. Stan zügelt aufs Sofa.
Dieses Vorgehen entspricht den Anweisungen des BAG. Die berechtigte Frage bleibt, ob eine Isolation von der Familie so überhaupt durchführbar ist.
Tag 2 - 8: Wendy vermeidet den Kontakt zu den Kindern und Stan so gut wie möglich. Es gibt aber Berührungspunkte – zum Beispiel beim gemeinsam benutzten Bad und dem Unverständnis der Kinder, nicht in die Nähe der Mutter zu dürfen.
Das BAG gibt eine Liste von Verhaltensregeln an, die im Quarantänefall innerhalb einer Wohnung durchgeführt werden müssen:
Tag 9: Wendy zeigt erste Symptome. Ein Corona-Test ist positiv. An eine Rückkehr in den Familienverband ist nicht zu denken.
Tag 10: Stan hat kein gutes Gefühl und isoliert sich zur Sicherheit auch. Heidi wird aus der Schule genommen, Timmy aus der Krippe. Arbeiten im Home Office, während die Kinder präsent sind, liegt für Stan nicht mehr drin. Stan lässt sich Einkäufe an die Haustüre liefern. Lustig ist es aber nicht, die beiden Racker in den eigenen vier Wänden bei Laune zu halten.
Tag 15: Wendy hat hohes Fieber, Husten, vor allem aber klagt sie über enorme Müdigkeit. Stan müht sich immer noch mit den Kindern ab.
Tag 18: Stan verspürt ein Kratzen im Hals. Auch Stans Test ist positiv. Negativ ist dafür die Stimmung. Die Kinder quengeln – in Absprache mit Stan verlässt Wendy nun die wohnungsinterne Quarantäne. Immerhin das. Aber ...
Tag 21: Wendy liegt immer noch wie erschlagen im Bett, ähnlich ergeht es Stan. In diesem Zustand den Kindern gerecht zu werden, ist unmöglich. Diese zeigen nur minime Symptome, sind aber vermutlich auch infiziert. Dafür kleben sie aufgrund ihrer Selbstorganisation meist nur noch am Bildschirm. Ab und zu holen sie sich in der Küche Chips und Kekse.
So beschrieb eine betroffene Redaktorin der «Schweizer Illustrierten» ihre Corona-Odyssee, als sie, ihr Mann und die Kinder an Covid-19 erkrankten. Sie spricht von Tagen der «Anarchie».
Tag 25: Wendy geht es nun so gut, dass sie sich wieder zufriedenstellend um die Kinder kümmern kann. Weil Stan aber noch immer flach liegt, kann sie nicht zur Arbeit.
Tag 28: Stan ist auch über dem Berg und übernimmt die Kinderbetreuung. Wendy kann wieder zur Arbeit, weil sie 48 Stunden ohne Symptome war.
Tag 30: Die ganze Familie ist seit 48 Stunden symptomfrei. «Normalität» kehrt wieder ein.
Und vor allem wo sind die kultigen Doppelnamen geblieben?
Optimaler Fall: Der Arbeitgeber hat erkannt, dass die Arbeit auch von Zuhause erledigt werden kann und werden nicht ins Büro beordert. Die Infektionsketten werden unterbrochen, beide bleiben gesund.