meist klar
DE | FR
Schweiz
Leben

Covid-Zertifikat: Warum sich eine Juristin sorgt

Freiheiten zurück dank Covid-Zertifikat! – Warum sich eine Juristin trotzdem sorgt

Das Covid-Zertifikat ermöglicht ab heute wieder Nachtleben, Events und Co. Die Grundrechtsexpertin Eva Maria Belser begrüsst das, äussert aber deutliche Sorgen.
26.06.2021, 17:0326.06.2021, 17:36
Mehr «Schweiz»

Ab heute Abend ist es wieder möglich: Tanzen, trinken und dabei rhythmische Basstöne spüren. Möglich macht das der Drei-Phasen-Plan des Bundesrates, der uns allen dank optimistischen Covid-Fallzahlen bereits seit diesem Wochenende eine Liste an «Freiheiten» zurückgibt. Konkret heisst das: Ob an der Zürcher Langstrasse, im St.Galler Bermuda-Dreieck oder in der Basler Steinenvorstadt, heute dürfen Clubs, Bars und Restaurants wieder öffnen.

Eine Bedingung gibts jedoch und sie trägt den Namen «Covid-Zertifikat». Wer geimpft, getestet oder genesen ist, kann sich das von offizieller Stelle aus bestätigen lassen und kriegt dafür einen QR-Code, mit dem Einlass zu Partys oder Veranstaltungen gewährt wird. Es ist eine kleine Einschränkung, die jedoch angesichts millionenfacher Covid-Zertifikats-Erteilung vom Grossteil der Bevölkerung mitgetragen wird.

Ist damit die freiheitliche Ordnung in der Schweiz wiederhergestellt? Mitnichten. Die Sorge, die von Covid-kritischen oder verschwörungsgläubigen Kreisen kommt, ist bekannt und dürfte grundsätzlicher Natur sein. Differenzierter, aber nicht milder, kommt die Kritik von Personen, die sich mit Ethik und Grundrechten beschäftigen.

epa09302225 Club goers party at the MAD (Moulin a Danse) night club on the first evening after COVID-19 measures were eased enabling the reopening of discotheques at full capacity and without mask upo ...
So sah es in der Nacht auf heute in Lausanne aus.Bild: keystone

«Ich freue mich auf die Öffnungsschritte. Normalität allerdings bedeuten sie leider noch nicht – und wir wissen immer noch nicht, wann alle Menschen wieder die gleichen Freiheiten haben werden», sagt Eva Maria Belser, die als Rechtsprofessorin an der Universität Fribourg doziert und in der wissenschaftlichen Corona-Task-Force des Bundes zu rechtlichen und ethischen Fragen mitwirkt.

«Es beunruhigte mich sehr, welchen Stellenwert die Grundrechte während der Pandemie hatten.»
Eva Maria Belser

Belsers Äusserungen im Gespräch mit watson wirken auf den ersten Blick so, als würde sie Corona-rebellischen Kreisen zustimmen: «Es beunruhigte mich sehr, welchen Stellenwert die Grundrechte während der Pandemie hatten, und ich war sehr erfreut darüber, dass es kritische Medien gab und sogar demonstriert wurde.» Es wäre noch unheimlicher gewesen, wenn weitreichende Einschränkungen der Freiheit so ganz ohne Protest hingenommen worden wären. Sie anerkennt daran aber auch, dass die Massnahmen ja gerade zum Schutz der Freiheit ergriffen wurden: «Der Bundesrat musste durchgreifen und es beeindruckt mich rückblickend, wie der Alltag und die Wirtschaft zum Schutz der besonders gefährdeten Menschen heruntergefahren wurde.»

Ihre Kritik ziele mehr auf die Vorgehensweise ab: Schränke der Bund die Grundrechte ein, so stehe er in der besonderen Pflicht, sein Handeln zu rechtfertigen und zu erklären. Dieser Begründungspflicht sei er nicht immer genügend nachgekommen. Einige Regeln habe man nicht verstehen können. «Beim Covid-Zertifikat aber ist es klar: Möglichst alle Freiheiten sollen für möglichst alle wiederhergestellt werden. Wo Contact Tracing nicht möglich ist, stellt das Zertifikat eine Kompromisslösung dar, die verhältnismässig ist. Man muss sich ja nicht impfen lassen – man kann auch die Genesung nachweisen oder sich testen lassen. Man würde einfach noch gerne die Versicherung haben, dass die Gesellschaft auch diese Regelung nur kurz erdulden muss – denn Normalität bedeutet sie nicht.»

«Ein Impfzwang wäre ein schwerer Eingriff in die persönliche Freiheit.»

Unter dem Strich bleibe die Tatsache, dass nicht alle Menschen die gleichen Freiheiten haben werden – und das ist kein Zustand, den wir auf die Dauer wünschen. Im Moment aber sei es vor allem positiv zu würdigen, dass Menschen Freiheiten wiedererlangen, wo immer das ohne Gefahr für das Gesundheitssystem möglich ist. Es sei wahr, dass die Personen, die sich impfen lassen können und dies getan hätten, mit dem kleinsten Aufwand Freiheiten zurückgewinnen könnten. «Wer sich nicht impfen lassen kann oder will, muss sich vor Grossveranstaltungen und Klubbesuchen testen lassen. Es ist übertrieben, ein solches System als Einführung einer Zweiklassengesellschaft zu bezeichnen. Die Unterscheidung ist im Moment sicher gerechtfertigt, um hohe Ansteckungszahlen zu verhindern und die Bevölkerung sanft zur Impfung zu motivieren.» Auf die Dauer aber müsse es aber für alle wieder möglich sein, ohne Ausweis Kultur und Sport zu geniessen.

Belser verwendet dabei auch den Begriff «Nudging», der aus der Wirtschaftsökonomie kommt und mit «Anstubsen» übersetzt werden kann. «Impfen hilft jedem einzelnen, aber auch Personen, die sich nicht impfen lassen können. Die Gesellschaft hat also ein Interesse an einer möglichst hohen Durchimpfung. Gleichzeitig wäre ein Impfzwang ein schwerer Eingriff in die persönliche Freiheit», analysiert sie und lobt deshalb dieses Anstubsen: «Die Entscheidungsfreiheit bleibt, für Geimpfte wird das Leben aber ein bisschen einfacher.»

Ihre grosse Sorge gilt den nächsten Monaten: Beruhigt sich die Lage weiter, müsse das Covid-Zertifikats-Regime beendet werden. «Das Zertifikat ist eine Übergangslösung, die – wie es das Wort sagt – nur während einer kurzen Übergangszeit gelten darf. Verschlimmert sich die Pandemie jedoch, droht Gefahr, dass wir uns an ungleiche Freiheiten gewöhnen. Das würde sich negativ auf unsere freiheitliche Ordnung und unsere Gesellschaft auswirken», schliesst Belser.

Wie stehst du zum Covid-Zertifikat?
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet um die Zahlung abzuschliessen)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das Schweizer Covid-Zertifikat auf dem Smartphone
1 / 23
Das Schweizer Covid-Zertifikat auf dem Smartphone
Die Pilotphase für das Schweizer Covid-Zertifikat begann am 7. Juni 2021. In dieser Bildstrecke erfährst du alles Wichtige ...
quelle: keystone / anthony anex
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Wie ist die Impfbereitschaft bei Jugendlichen? – Das sagen Lernende
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
94 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
stadtzuercher
26.06.2021 18:17registriert Dezember 2014
Dass die Klubs seit Jahrzehnten wählerisch sind beim Einlassen von Menschen (Männer zbsp. ohne weibliche Begleitung werden oft nicht eingelassen, vor allem, wenn sie erkennbar ausländische Wurzeln haben), hat noch keine 'Ethikexpertin' gestört. Es heisst dann lapidar: private Clubs können einlassen wen sie wollen.

Das jetzt diese 'Expertinnen' und Impfskeptiker aus den Löchern gekrochen kommen, wo ein selektiver Einlass in Klubs absolut Sinn macht und dem Gemeinwohl dient, spricht Bände.
20858
Melden
Zum Kommentar
avatar
Anti-Putler
26.06.2021 19:09registriert Februar 2016
Sie sagt sie ist froh darüber, dass es kritische Medien gab und sogar demonstriert wurde. Sie scheint aber die Annahme zu machen, dass alle die die Massnahmen mittragen irgendwie weniger freiheitsliebend sind. Das ist nicht so. Der wesentliche Unterschied ist, dass die, die nicht protestieren, eher verstehen um was es geht, nämlich nicht primär um sich selber.
Oder um es anders zu sagen: die Freiheit des einen endet dort wo die Freiheit des anderen beginnt.
Sie sollte sich eher darum Sorgen machen welche Schwurbler unterdessen komische Verständnisse von Freiheit haben.
13841
Melden
Zum Kommentar
avatar
buffettino
26.06.2021 20:20registriert Oktober 2019
Meiner Meinung nach wichtiger Nachtrag: Schaut euch an, wo das Zertifikat IM MOMENT verwendet werden MUSS (roter Bereich). Es sind dies Tanzveranstaltungen und gewisse Grossveranstaltungen (ab 1k Personen). Das betrifft in erster Linie (nein, eigentlich fast ausschliesslich) Clubber, (Gross)Konzertgänger und Fussball/Eishockeyfans (m/w/d). Die im Artikel eingangs miterwähnten Bars und Restaurants gehören definitiv nicht dazu.
6110
Melden
Zum Kommentar
94
«Mein Mann ist vor unseren Freunden ein richtiges Arschloch zu mir!»

Hallo Community

Zur Story