Claude Cueni unter «Freunden». Die Figuren, über die er geschrieben hat, stehen und sitzen überall in seiner Wohnung herum. bild: dina ariba cueni
«Maggy! Wenn du in zehn Sekunden noch da bist, drücke ich die Delete-Taste». Claude Cueni, Schweizer Starautor und frischgebackener «Kortison-Onkel», legt mit «Pacific Avenue» erneut einen rasanten Mix aus Traum und Wirklichkeit vor
Am 17. September erscheint Claude Cuenis «Pacific Avenue», die Fortsetzung seines autobiographischen Erfolgsromans «Script Avenue». Ein Medikament stiehlt dem Autor den Stift und schreibt dessen Geschichte gleich selbst: Eine chaotische Reise ins 16. Jahrhundert und in die Träume eines Mannes, der den Tod zu überlisten versteht.
Claude Cueni sitzt in seinem «Phantom»-Sessel, als er mich vorige Woche empfängt. Ein schwarzes Ledermöbel, sein nächtliches Cockpit. Hier fühlt er sich wie Lee Falks Phantom, das in einer Totenkopfhöhle im Dschungel unter Pygmäen lebt.
Lee Falks «The Phantom» prägte Cuenis Jugend. Und den Namen seines Sessels. bild: printablecolouringpages
Claude Cueni ist kein Geist, aber er fühlte sich lange Zeit wie einer, weil er festsass in seinem Sessel. Niemand hat ihn besucht, um ihm zu sagen, dass er noch lebt. Denn jeder zwischenmenschliche Kontakt barg die Gefahr einer Ansteckung. Seine Leukämie ist zwar weg, dafür ist jetzt GvHD da.
«Graft-versus-Host-Disease. Nach einer allogenen Stammzelltransplantation attackieren die fremden Zellen, die einen freundlicherweise von der Leukämie geheilt haben, die gesunden Organe. Ein Urheberrechtsstreit sozusagen: Wer ist das Original, wer ist die Kopie?»
Claude Cueni, «Pacific Avenue»
Claude Cueni lässt sich aber nicht unterkriegen. Mit seinen verbleibenden 41 Prozent Lungenvolumen (der Rest wurde abgestossen) schreibt er wie ein Wahnsinniger einfach immer weiter. Wahrscheinlich hat er so den Tod ausgetrickst. «Geh weg, ich schreibe», muss er zu ihm gesagt haben.
Zur Person:
Claude Cueni ist 1956 in Basel geboren. Er schrieb historische Romane (u.a. «Giganten», «Cäsars Druide») Thriller, Theaterstücke, Hörspiele und über 50 Drehbücher für Krimiserien wie «Tatort» und «Europcops». Für Blackpencil designte er jahrelang Computergames, darunter den Welthit «Catch the Sperm». Claude Cueni erkrankte nach dem Tod seiner ersten Ehefrau an Leukämie und lebt heute, in zweiter Ehe, mit seiner Frau in Basel. Sein letzter Roman, «Script Avenue», war auf Platz 4 der Schweizer Bestsellerliste und wurde in 13 Sprachen übersetzt. Weitere Infos auf Cuenis Homepage.
wörterseh verlag
Am 17. September kommt «Pacific Avenue» in die Läden, die Fortsetzung seiner autobiographischen «Script Avenue». Im ersten Teil hat der Schweizer Schriftsteller mit seiner Verwandtschaft abgerechnet. Mit seiner lieblosen Kindheit, mit der Schraubenkiste, in der er die ersten zwei Jahre seines Lebens verbracht hat, mit dem Blöken jurassischer Schafe, mit dem pädophilen Onkel, der seinen Feinden im Algerienkrieg die Genitalien abgeschnitten und sie in einem Korb gesammelt hatte. Mit der fanatisch religiösen Mutter, deren einzige Lektüre Pater Pios Erzählung von seinen (gefälschten) Stigmata war. Und mit dem hageren Blonden im hellblauen Hemd. Dem Mann, der hartnäckig behauptete, Cuenis Vater zu sein. Ein «Egoist aus Überzeugung», vor dessen brachialen Händen er sich gefürchtet hatte.
Claude Cueni lebt mit seiner zweiten Frau in Basel. Bild: david burkhardt
«Dein Vater lebt noch?», frage ich Claude. Und er sagt:
«Ja, ich schaue immer die Todesanzeigen durch. Er müsste jetzt 93 Jahre alt sein. Er ist der Beweis, dass es keinenaktiven Gott gibt.Und falls es einen passiven Gott gibt, kann er uns ziemlich egalsein. Ich habe meinen Vater nie gemocht. Wenn ein Kleinkind mitansehen muss, wie der Vater die Mutter ohrfeigt, ist das ein Schock, der sich tief in die Seele brennt. Und das war ja erst der Anfang.»
Claude Cueni im Interview
Dieser hagere Blonde im hellblauen Hemd – er ist der Bruder meiner Oma. Claude Cueni ist damit der Cousin meines Vaters und so etwas wie mein Onkel. Er sagt, ich dürfe ihn «Kortison-Onkel» nennen. Und ich lache. Da ist er wieder, dieser düstere Humor, der seine Bücher durchzieht. Witz und Phantasie. Das sind die zwei Krieger, mit denen Cueni seine Welt vor dem Zerbrechen bewahrt.
Meine Grossmutter ist übrigens die einzige unter ihren Geschwistern, die die «Script Avenue» gelesen hat. Alle anderen sagen: «Dieser Claude erzählt nur Schund.» Sie schämen sich wahrscheinlich. Und halten die Fassade weiterhin aufrecht.
«Pacific Avenue»: Der Ozean des Friedens?
Die Phantasie schlägt auch in der «Pacific Avenue» mit voller Triebkraft zu. Sie schiebt sich immer wieder in die kränkelnde Realität des Autors. Eigentlich will Sammy, die Erzählerfigur, einen historischen Roman schreiben. Über Magellan und seine Weltumseglung.
Karte von Petrus Bertius, Fretum Magelanicum, 1602. Sie zeigt die Magellanstrasse, die Patagonien vom Feuerland trennt, das noch immer als Teil eines riesigen südlichen Kontinents gedacht wurde. Die Patagonier sind als Riesen dargestellt, so wie sie Pigafetta in seiner Chronik beschrieben hatte. bild: libweb5.princeton
Die bizarre Besatzung der «Trinidad»
Bald muss Sammy aber merken, dass an Bord der «Trinidad» immer mehr ungebetene Gäste herumlungern: Neben Magellan und seiner Mannschaft ist da Sammys verstorbener Schwiegervater Jack, dem der Weinschlauch immerzu im Mundwinkel hängt, und da ist dessen ebenfalls tote Frau Maggy, die mit ihrem Hoover-Staubsauger das Deck sauber hält und ganze Sandstrände leer saugt. Dabei plappert sie unablässig von Hitler, diktiert dem ratlosen Chronisten Pigafetta, was er in sein Logbuch schreiben soll:
«Schreiben Sie, dass Magellan an Hirnerweichung litt, eine Spätfolge der Syphilis. Ähnlich wie Hitler, der hatte so viele Störungen und Krankheiten … Deshalb hat er fünf Milliarden Euro veruntreut und in die Schweiz geschafft. Hat nichts davon versteuert!»
Claude Cueni, «Pacific Avenue»
Magellans Schiff Victoria, Detail aus einer Weltkarte des Abraham Ortelius. bild: wikipedia
Schuld an diesem Durcheinander ist «Cellaris». Das neue Medikament, das Sammy einnehmen muss, damit nicht noch mehr seiner Organe schlapp machen. Cellaris trübt seinen Geist. Sammy halluziniert, verliert die Zeit, die Grenzen zwischen Realität und Traum verwischen.
«Cellaris, I hate every inch of you!»
Claude Cueni, «Pacific Avenue»
Cellaris komponiert diesen Roman, Sammy vermag den Taktstock nicht festzuhalten. Und doch ergibt diese eigensinnige Mischung ein äusserst durchdachtes Buch, eines, das seinen eigenen Entstehungsprozess beschreibt. Und in dem den Figuren angedroht wird, auf der Stelle aus der Geschichte entfernt zu werden, wenn sie nichts Geistreiches beizutragen haben:
«‹Maggy!›, schrie ich, ‹ich hab es dir zu Lebzeiten nie so richtig gesagt, aber du gehst uns gehörig auf die Nerven. Wenn du in zehn Sekunden noch da bist, drücke ich die Delete-Taste. Du hast in meiner Story nichts zu suchen! Es genügt, dass du in meinem Leben warst!› » ‹Zehn Sekunden? Das reicht nicht für den ganzen Strand. Und morgen ist Sonntag, da wird nicht staubgesaugt.› ‹Acht, sieben, sechs …› ‹Drück doch diese Taste, von mir aus! Und was macht ihr dann mit dem Staubsauger?› ‹Wir werfen ihn ins Meer›, brüllte Jack, ‹gottverdamminonemol.› ‹Ins Meer?›, entsetzte sich Maggy. ‹Und in 500 Jahren finden Forscher diesen merkwürdigen Artefakt, und Erich von Däniken identifiziert ihn als ausserirdisches Auspuffrohr und verliert vor Begeisterung den Verstand?› Delete.»
Claude Cueni, «Pacific Avenue»
Am 21. Oktober 1520 entdeckte Magellans Flotte den so lange ersehnten Paso nach Westen. bild: getty images
Der hagere Blonde im hellblauen Hemd
In der «Pacific Avenue» muss Cuenis Vater sterben. «Warum?», frage ich Claude:
«Mein Vater hat mir einen Brief geschrieben, nachdem er einen Bericht über mich auf Tele Basel gesehen hat. Er hat mir gratuliert. Er sei stolz auf meinen Erfolg. Kein Wort darüber, dass ich todkrank bin.»
Claude Cueni im Interview
Die eigentliche Rache des Autors an seinem Vater besteht aber nicht einfach in dessen literarischem Tod. Sie ist viel perfider. Und viel lustiger: Sammy erbt dessen 81 Tagebücher.
«Sollte ich sie lesen? Ich dachte, vielleicht wäre das eine Möglichkeit, mehr über diesen seltsamen hageren Blonden im hellblauen Hemd zu erfahren. Ich griff wahllos in die Kiste und nahm das erste Büchlein heraus, schlug es auf und las: ‹14. April 1958. Rösti mit Blutwurst. 20.00 Pfarrei.›»
Claude Cueni, «Pacific Avenue»
Ein Teil von Cuenis Familie stammt aus Boncourt, wo er selbst ein paare eher unschöne Jahre zugebracht hat. Deshalb nennt er das jurassische Dorf an der französischen Grenze in seinen Büchern «Vilaincourt». bild: delcampe
«Nun gut, es wäre unfair gewesen, schon jetzt ein Urteil zu fällen. [...] Also wollte ich meinem Vater noch eine Chance geben, damit er mir möglicherweise aufzeigen konnte, dass auch sein Leben in einem gewissen historischen Kontext gestanden hatte. Nächster Griff in die Kiste: Tagebuch 1963. Hm, haben Sie da irgendeine Erinnerung? Die Vögel von Hitchcock und die erste Lebertransplantation. Dass der Patient nicht überlebte, gehört ins nächste Jahr. Ich schlug eine der letzten Seiten des Jahres 1963 auf: ‹Weihnachten in Vilaincourt. Durchfall. Jurassische Küche. Alte Hexe.›
Bereits die «Script Avenue» ist ein Buch, das in keinen Rahmen eingeordnet werden kann. Es folgt keinen Regeln. «Wo soll man es im Buchladen nur hinstellen?», fragte Cuenis Agent. «Unter Schweizer Literatur? Unter Biographien? Unter Lebenshilfe? Claude, das liest kein Schwein. Dein Buch ist unverkäuflich.»
«Es ist eben ein Forrest-Gump-Roman.»
Claude Cueni im Interview
Also hat Cueni seinen «Forrest-Gump-Roman» beim Wörterseh Verlag herausgebracht. Hier erscheint auch die «Pacific Avenue».
Es scheint fast so, als habe der Pazifik die Allee überschwemmt, sodass nun alles noch mehr durcheinander gerät, all die Figuren werden aufgewirbelt und an Orte und in Zeiten hineingeworfen, wo sie naturgemäss nicht hingehören. Naturgemäss gehört aber Cellaris auch nicht in den Körper von Claude Cueni. Darum darf sein Roman alles. Und die Menschen werden ihn mögen. Selbst wenn er nicht ganz an die «Script Avenue» herankommt.
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