Dana Grigorcea wird gerade ein bisschen gefeiert in der Schweiz. Zu Recht. Die schweizerisch-rumänische Journalistin und Schriftstellerin wurde am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit dem 3Sat-Preis ausgezeichnet. Ihr neuer Roman heisst «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit» und ist eine Wucht an Poesie.
Da springt einem ein Bukarest entgegen, dessen Luft unablässig nach Lindenblüten duftet, in dem sich Menschen farbige Folien auf den Schwarz-Weiss-Fernseher kleben, wo Laufmaschen in Seidenstrümpfen noch geflickt werden und Prinzessin Martha Bibesco in ihrem Tagebuch vom Land der Trauerweiden schwärmt, obwohl es davon in Rumänien so gut wie keine hat, weil ja überall Linden stehen.
Es ist die Erinnerung an ein vergangenes, sozialistisches Bukarest, an eine schuldlose Kindheit, erinnert von einer schuldigen Victoria, die ihren Geburtsort wieder aufsucht, um sich von einem Bankraub-Trauma zu erholen.
Grigorcea ist wie ihre Protagonistin in Bukarest geboren. Ein Wendekind, das den Sturz des Diktators Ceaușescu als Zehnjährige erlebt hat. Heute lebt sie in der Schweiz.
Du beschreibst die primäre Schuldlosigkeit als ein «taumelndes Gefühl der Schwerelosigkeit». An dieses Gefühl erinnert sich deine Hauptfigur Victoria, sie hat sie als Kind einmal gefühlt. Wodurch hat sie, sprich du oder deine Generation, es verloren?
Dana Grigorcea: Bei der Schuldlosigkeit geht es mir um das fehlende Erinnerungsvermögen, das meiner Generation in Rumänien anhaftet. Mit «meine Generation» meine ich hier die Generation der gut ausgebildeten Bukarester Städter, von deren Interesse und Engagement im weitesten Sinne abhängt, ob sich so etwas wie eine Zivilgesellschaft ausbilden kann oder eben nicht. Denn Korruption, Nepotismus, alte Machtstrukturen usw. verhindern eine Öffnung hin zu mehr Chancengleichheit oder nur schon zur Ausbildung zivilgesellschaftlicher Instanzen wie echte Parteien, Verbände, Vereine etc.
Du bist, wie deine Protagonistin, ein Wendekind. Im Roman trifft diese auf eine andere Victoria, ein Nachwendekind. Von ihr heisst es aus der Sicht der Protagonistin: «Ein Nachwendekind, das keine Schuld auf sich geladen hat und dieses arrogante Gefühl der Schuldlosigkeit vor sich herträgt.» Deine Hauptfigur scheint etwas Bestimmtes von ihr zu verlangen, was ist es?
Im Roman zeige ich Abstufungen dieser «Schuldlosigkeit», kulminierend in der «arroganten Schuldlosigkeit» der jungen Victoria, die sich im Haus des Volkes an Pipilotti Rists Installation mit den grossen Möbeln erinnert sieht. Dort fühlt man sich wieder wie ein Kind, «man wolle sich gleich darin austoben.» Es geht um Unschuld, ein wohliges Gefühl der Geborgenheit in der Familie, trotz der Zeiten; es geht um das unschuldig Schuldig-Werden und schliesslich um den Rückzug aus der privaten und gesellschaftlichen Verantwortung.
Man schaut also einfach weg ...
Ja, es ist kein aktives Verdrängen, es ist einfach ein Desinteresse, das von der Überzeugung herrührt, man selber könne die Gesellschaft eh nicht reformieren, die alten Strukturen seien zu sehr verfestigt, man solle doch seine Energien lieber in das eigene Vorankommen investieren – und tut damit genau das Gegenteil: Man bleibt in den alten Machtverfestigungen gefangen und kann das eigene Potenzial nicht ausschöpfen.
Dieser Rückzug ins Private, bei gleichzeitiger Weltoffenheit, hat verheerende Folgen für das Land.
Welche Folgen sind das?
Rumänien bleibt, wie viele ehemalige Ostblockländer auch, ein «Schwebestaat» in Europa, in dem Werte wie Demokratie und unabhängige Justiz bei jeder Präsidentschafts- und Parlamentswahl neu ausgehandelt werden.
Dein Buch ist ein Erinnerungsstück an eine Kindheit in Bukarest. Du fällst beim Erzählen oft aus der Zeit, die Gegenwart – der Besuch der erwachsenen Victoria – zerfliesst mit Geschichten aus der Kindheit. Die Zeitsprünge sind für den Leser manchmal plötzlich, diffus, verwirrend. War das deine Methodik?
Mit den Zeitsprüngen wollte ich das Nachwirken vergangener Geschehnisse aufzeigen, und da ich die Ich-Perspektive gewählt habe, sind diese Erinnerungen fliessend, manche Erwähnungen beiläufig. Aus der Ich-Perspektive will ich das Porträt einer Gesellschaft zeichnen über die Art, wie die Menschen reden, erzählen, Dinge und Begebenheiten in den Fokus nehmen. Auch gehe ich auf Begebenheiten ein, die sich in der Sprachlosigkeit abgespielt haben.
Ich stelle mir deinen Roman grad als Film vor ...
Ich möchte meine Filmtätigkeit von meiner Schreibtätigkeit trennen. Ganz trennen kann ich es natürlich nicht, ich denke immer noch in Bildsequenzen, «deformation professionelle»... Aber ich mag keine Bücher, die sich wie Drehbücher lesen, oder noch schlimmer, wie das Nacherzählen eines Films. Ich will beim Schreiben die Möglichkeiten der Literatur ausloten, es geht mir um das, was man mit Sprache machen kann, um Bilder, die nur in der Sprache aufkommen und sich dann, zwei Sätze weiter, verflüchtigen und eine gewisse Stimmung oder Atmosphäre hinterlassen.
Du schreibst so detailverliebt, man schmeckt, riecht und sieht als Leser sofort alles. Hast du ein Vorbild, einen Lieblingsschriftsteller, der für dich wegweisend war?
Davon habe ich viele ... Also solche, die ich immer wieder zur Hand nehme wie Peter Handke, Ingeborg Bachmann, meinen Mann Perikles Monioudis, Ruth Schweikert, Peter Weber, Ingrid Fichtner, Thomas Mann, Alfred Döblin, ich wüsste keine Reihenfolge. Ich lese eigentlich viel, bin, wie Peter Bichsel sagt, ein «Leser», ein Allesleser, deswegen habe ich es auch unendlich genossen, ein Jahr lang Gastkritiker bei 52 beste Bücher auf SRF 2 gewesen zu sein. So bekam ich gute Bücher zu lesen, zu denen ich sonst nicht gegriffen hätte. Man ist ja ein Gewohnheitstier und springt auf bekannte Namen an, aber in der Kunst sollte man experimentierfreudig bleiben.
Michael Jackson beehrte 1992 die rumänische Hauptstadt. War man als Bukaresterin böse auf ihn, dass er bei der Begrüssung eure Hauptstadt mit der Ungarns verwechselte?
Nein, wie hätte man Michael böse sein können? Er war ja ein Künstler auf Tournee, war überall und hat sich versprochen oder nicht mehr gewusst, wo er gerade war. Er hat den Leuten damit den Spiegel vorgehalten.
Deine Hauptfigur Victoria wird als Pioniermädchen dazu auserwählt, dem obersten Genossen Blumen zu überreichen. Du warst selbst eine Pionierin ...
Ich bin in den beschriebenen Ruinen des Gefängnisses Doftana zu einem gemacht worden und habe dann bis zur Wende unzählige Male die rote Krawatte abgeben müssen, weil ich «der roten Krawatte unwürdig» war, was den Ausschluss aus der Gruppe bedeutete. Sehr hart für ein Kind. Es waren immer kleine Vergehen, unaufgefordertes Sprechen, unangemessenes Lachen, Wackeln mit dem Stuhl. Als Pionier musste man zum Rapport antreten, also feierlich begrüssen und rapportieren, auch etwa, dass es nichts zu rapportieren gab.
Vermisst du etwas typisch Rumänisches in deinem Leben in Zürich?
Nein, wir leben in einer Zeit, in der man überall heimisch wird, und alles ist sowieso immer erreichbar.
Erzählst du uns zum Schluss einen Kommunisten-Witz?