Seit Russland die Ukraine angegriffen hat, befindet sich ganz Europa in Alarmbereitschaft. Auch die Schweiz. Wäre unsere Armee für einen russischen Angriff gewappnet? Könnten wir uns verteidigen? Oder müssen wir enger mit der NATO zusammenarbeiten, um uns abzusichern? Aber sind wir dann nicht mehr neutral?
Mit diesen Fragen musste sich Bundesrätin und Vorsteherin des Verteidigungsdepartements (VBS) Viola Amherd in den letzten zwei Jahren intensiv auseinandersetzen. Und kam zum Schluss: Die Armee braucht schon bis 2030 und nicht erst 2035 mehr Geld, die Schweiz soll enger mit der NATO zusammenarbeiten und unsere Neutralität soll flexibler ausgelegt werden.
Das kam bei den Parteien gar nicht gut an – allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Also beauftragte Amherd im August 2023 eine Studienkommission damit, «Impulse und Beiträge für die öffentliche und die parlamentarische Diskussion» zu erarbeiten, die «als Grundlage für die sicherheitspolitische Strategie» des Bundes dienen sollen.
Der Bericht kommt praktisch zu demselben Ergebnis wie Amherd zuvor. Das sorgte für viel Kritik. Denn die Mehrheit der Kommissionsmitglieder tendierte politisch zur bürgerlichen Mitte und FDP.
Deshalb diskutierten in dieser «Arena» über die zentralsten Punkte aus dem Bericht:
Die Aufstellung in dieser Sendung ist überraschend. Keine Vertreterinnen und Vertreter der SP und FDP sind geladen. Am angestammten SP-Platz steht an diesem Abend die Grüne-Nationalrätin Marionna Schlatter. Und hinter dem Pult, den normalerweise die FDP nutzt, hat sich ausnahmsweise eine Expertin aufgestellt: Politphilosophin Katja Gentinetta.
Sie ist nicht irgendeine Politphilosophin. Sie hat den umstrittenen Bericht der Studienkommission Sicherheitspolitik verfasst. Deshalb muss sie sich von Schlatter, die selbst Mitglied der Studienkommission gewesen ist, gleich anhören:
Zu keinem Zeitpunkt habe man in der Studienkommission einen ergebnisoffenen Diskurs führen können. Bei den Referaten habe man nie eine Gegenstimme zu Ohren bekommen. «Darum war das, was in diesem Bericht stand, recht absehbar.»
Die Marionette von Amherd gewesen zu sein, diesen indirekten Vorwurf lässt Gentinetta nicht auf sich sitzen. Alle Mitglieder hätten andere Referentinnen einladen können. Es sei überhaupt nicht so gewesen, dass die Studienkommission einfach abnickte, was Amherd ihnen vorgesetzt hatte. «Es ist darum gegangen, dass man solide Grundlagen hat, solide Inputs bekommt von Leuten, die wirklich ein Verständnis von der Materie haben, und dass man dann zusammen diskutieren kann», sagt Gentinetta.
Autsch, der hat gesessen. Aber Gentinetta ist noch nicht fertig: «Wir haben gemerkt, dass es keinen Konsens gibt. Also müssen wir, wenn wir uns nicht auf eine Empfehlung einigen können, abstimmen.»
Schlatter betont, dass es schwer gewesen sei, in der Minderheit in der Studienkommission zu sein: «Es ist kein Referent und keine Referentin eingeladen worden, die ich vorgeschlagen habe. Natürlich nicht!» Sie habe auch Vorschläge zu anderen Themen gemacht, auf die nicht eingegangen worden sei.
An dieser Stelle muss natürlich – wie könnte es anders bei einer Grünen sein – das Stichwort «Klimawandel» fallen:
Dass die Schweiz sich gegen Cyberangriffe, Desinformationskampagnen und Luftangriffe wappnen muss, könne Schlatter noch nachvollziehen. Aber nicht, weshalb alle auch die Bodentruppen aufrüsten wollten. Der Bericht der Studienkommission selbst halte ja fest, dass es extrem unwahrscheinlich sei, dass Russland plötzlich mit seinen Panzern vor der Schweizer Grenze stehe.
Gentinetta stellt klar: «Es geht um Ausrüstung, nicht um Aufrüstung!» Nur weil ein Szenario unwahrscheinlich sei, könne man trotzdem nicht einfach nichts tun. Wenn das Szenario trotzdem eintrete, sei es zu spät für Massnahmen. Und zudem:
Diese psychologische Wirkung sei auch Teil der Sicherheitspolitik, so Gentinetta. In diese Wirkung müsse man jetzt investieren.
Schlatter findet hingegen: «Unsere Sicherheit und Stabilität hängt nicht von der Abschreckungswirkung unserer Armee ab!» Sie hänge davon ab, wie die Schweiz mit ihren Nachbarländern auskomme. Die Sicherheitspolitik müsse grösser gedacht werden.
Gentinetta holt mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen zum grossen Schlag aus: «Wenn ich Ihnen so zuhöre, höre ich quasi einen Klimaleugner, der sagt: ‹Was ihr hier für Szenarien malt, das kann ich irgendwie nicht nachvollziehen.›»
Eine Grüne, eine Klimawandelleugnerin? Da wird auch Moderator Sandro Brotz hellhörig und fragt nach: «Können Sie das mit dem Klimaleugnen nochmals erklären?»
Ja, das kann Gentinetta: «Wenn man sagt, man kann die Bedrohungslage nicht nachvollziehen, dann frage ich mich, worauf man sich hier stützt, wenn man sieht, wie sich die Welt seit 2014 und seit zwei Jahren verändert.»
Also leugne Schlatter aus ihrer Sicht die Bedrohungslage? Nein, das habe sie damit nicht gemeint. Aber was sie habe sagen wollen:
Schlatter entgegnet:
Sie laufe mit offenen Augen durch die Welt, sie beschäftige sich seit fünf Jahren in der Sicherheitskommission mit Fragen der Sicherheitspolitik. Zu diesen gehöre auch die Frage: «Welche Rolle kann die Schweiz als kleines Land spielen? Da bin ich der Überzeugung, dass unsere Stärke eben nicht im Militärischen ist.»
Gut, findet Gentinetta. Über die Rolle der Schweiz könne man diskutieren. Über die Bedrohungslage aber nicht. Damit zieht Gentinetta den Schlussstrich für diese Diskussion.
Wer von beiden am Ende mehr überzeugen konnte? Brotz läuft ins Publikum zu einer jungen Frau, die zu Beginn der Sendung gesagt hat, sie sei in ihrer Haltung zur Armeeaufrüstung noch unentschlossen. Ihr habe die Diskussion zwischen den beiden sehr gefallen. Aber: «Die Argumente für die Unterstützung der Armee haben mich mehr überzeugt.» Sie glaube nicht, dass die Schweiz ohne ein Aufrüsten in der Armee in die Zukunft gehen könne. Und sie fügt an:
Alle Atmosphärenphysiker: Wenn wir nicht sofort massiv in den Klimaschutz investieren, wird unsere Zivilisation untergehen.
Bundesrat: Wir streichen alle Klimaschutz-Massnahmen und verpulvern stattdessen Milliarden für Panzer und Kampfjets, die nachher gelangweilt durch die Alpen kurven.
Expertenwissen hätte jemand, der die Kampfkraft der russischen Armee mit der Nato vergleicht und darauf basierend die Wahrscheinlichkeit abschätzt, dass Russland zuerst die Nato besiegt, um danach die Schweiz angreifen zu können. Solche Experten kommen in der Debatte nicht vor, weil dann klar würde, wie absurd die Schweizer Aufrüstungspläne sind.