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SBB-Fahrplanchefin Martinoni will mehr Reserven und pünktliche Züge

SBB-Fahrplanchefin will mehr Reserven und pünktliche Züge – und muss Kritik abwehren

Die SBB wollen ihren Fahrplan stabiler machen. Nun grätschen Ex-SBB-Chef Benedikt Weibel und andere Experten in die Planung rein und kritisieren sie scharf. Was entgegnet die Bahn darauf? Ein Treffen mit der Fahrplanchefin.
20.07.2024, 13:32
Stefan Ehrbar / ch media
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Wie viele Züge können noch fahren auf dem Schweizer Schienennetz? Diese Frage beschäftigt Schweizer Bahnexperten.
Wie viele Züge können noch fahren auf dem Schweizer Schienennetz? Diese Frage beschäftigt Schweizer Bahnexperten.Bild: bruno kissling

Daria Martinoni ist keine Frau der lauten Töne. Das unterscheidet sie von Benedikt Weibel – aber nicht nur. Die Vorstellungen, wie der Fahrplan der Zukunft geplant werden soll und welche Ausbauten es braucht, gehen zwischen der Fahrplanchefin der SBB und deren Ex-Chef weit auseinander. Das zeigt sich bei einem Gespräch in Zürich.

In den vergangenen Wochen wurde die Kritik an den geplanten Ausbauten für die Eisenbahn immer lauter. Anfang Juni preschte Benedikt Weibel mit einer Rede in Luzern vor: Der Ausbau, in den bis Ende der 2030er-Jahre 18 Milliarden Franken investiert werden, sei «konzeptlos und gesetzeswidrig», sagte er und forderte ein Ausbau-Moratorium. Zusammen mit dem Chef der Planungsfirma Otimon, Philipp Morf, und weiteren Experten habe er ein Konzept entwickelt, das es erlaube, praktisch ohne Ausbauten ein Viertel mehr Züge auf dem Schienennetz fahren zu lassen.

Der Geist war aus der Flasche: Seitdem melden sich im Wochentakt amtierende und ehemalige Experten zu Wort mit neuer Kritik und ernten wiederum Kritik. Nur die SBB haben sich bis anhin nicht geäussert. Dass ihr Chef Vincent Ducrot seit einiger Zeit vor immer mehr Ausbauten warnt, weil diese Folgekosten verursachen, interpretierten viele als Zustimmung an der Grundsatz-Kritik. Das Gespräch mit Martinoni zeigt: Es ist komplizierter.

Daria Martinoni ist Fahrplanchefin der SBB. (19. 10. 2022)
Daria Martinoni ist Fahrplanchefin der SBB (19. 10. 2022).Bild: ralph ribi

Die 53-jährige SBB-Managerin leitet ein Team von etwa 300 Mitarbeitenden, das sich um kurz-, mittel- und langfristige Fahrplanänderungen kümmert. Kaum jemand kennt die Herausforderungen des dicht befahrenen Schweizer Schienennetzes so gut wie sie. Mit ihrem Team plant sie jetzt schon sekundengenau, welche Züge in 20 Jahren fahren sollen – wobei «sekundengenau geplant und im Idealfall minutengenau gefahren wird».

Martinoni ist Angestellte der SBB und als solche diplomatisch in ihrer Wortwahl. Das Konzept der Weibel-Gruppe, in das sie teilweise Einblick hatte, will sie nicht direkt kritisieren. Dass aber auf dem existierenden Netz 25 Prozent mehr Züge fahren können, bezweifelt sie. Gerade dort, wo schon viele unterwegs seien, sei das kaum möglich.

Der Bahnhof Zürich-Stadelhofen etwa, ein Nadelöhr der Zürcher S-Bahn, sei mit seinen bis zu 26 Zügen pro Stunde und Richtung voll. Der geplante, milliardenschwere Ausbau sei unabdingbar. Es brauche sowohl das vierte Gleis als auch die kreuzungsfreie Führung der Züge Richtung Winterthur und Oberland sowie ans rechte Zürichseeufer. Nötig sei auch der Ausbau zwischen Zürich und Winterthur mit dem Brüttener Tunnel.

Dass die Weibel-Gruppe und die Fahrplan-Abteilung der SBB zu unterschiedlichen Schlüssen kommen, liegt aber auch an anderen Denkweisen. Auf dem Papier ist das Schweizer Schienennetz tatsächlich nicht am Anschlag und liesse sich optimieren. In der Praxis und mit zunehmender Detailtiefe der Planung sieht das anders aus.

  • Kapazität lässt sich auf dem Papier steigern, in dem für jede Linie das ideale Rollmaterial hinterlegt wird. Das hat die Weibel-Gruppe nach Martinonis Verständnis getan. Wenn man annimmt, dass auf einer Interregio-Linie nur Züge unterwegs sind, die schnell anfahren – also «spurtstark» sind – und grosse und schnelle Türen haben, die einen schnellen Fahrgastwechsel ermöglichen, lassen sich je nach Linie einige Minuten gewinnen. So könnten zusätzliche Züge gefahren werden. Doch in der Praxis funktioniere das nicht, sagt Martinoni. Ein Fahrplan müsse auch stabil funktionieren, wenn einmal ein Ersatzzug unterwegs sei. Wenn sich abzeichne, dass an einem Wochenende schönes Wetter im Tessin herrsche, müssten die SBB schnelle Doppelstockzüge mit vielen Plätzen von anderen Linien abziehen, um damit in den Süden zu fahren. Auf den betroffenen Linien könnten dann langsamere, einstöckige Züge zum Einsatz kommen. Trotzdem sollen die Reisenden auch mit diesen pünktlich ankommen.
  • Theoretisch ist es möglich, auch lange Züge an einem Linienende oder in einem Sackbahnhof innert sechs Minuten zu wenden und damit Platz auf dem Netz zu schaffen. Das gehe im Ausnahmefall auch, bestätigt Martinoni. Aber das könne nicht die Basis für einen stabilen Fahrplan sein.
  • Generell seien die SBB in den vergangenen Jahren dazu übergegangen, wieder mehr Reserven in den Fahrplan einzubauen, sagt Martinoni. Allzu ambitionierte Planungen in den Jahren davor hätten nämlich zu einem instabilen Betrieb geführt, mit vielen Verspätungen.
  • Es brauche mehr Luft im Fahrplan. Das gelte nicht nur für den Personenverkehr, sagt die Fahrplanchefin: «Wir können keinen Fahrplan aufstellen für 600 Meter lange Güterzüge, der nicht mehr funktioniert, wenn ein Zug ausnahmsweise einmal mit 750 Metern Länge unterwegs ist und mehr Kapazität braucht.»
  • Weitere Ideen der Weibel-Gruppe wie etwa, den Güterverkehr in die Nacht zu verlagern, seien zu einem grossen Teil umgesetzt, hätten aber ihre Grenzen. Die Devise, wonach es keine Rolle spiele, wann Güter ankommen, sei nicht mehr gültig. Lebensmittel-Transporte seien in eine Logistik- und Kühlkette eingebunden und müssten auch tagsüber schnell und pünktlich unterwegs sein. Dasselbe gelte für die Post: Deren Briefe und Pakete müssen pünktlich zur Verarbeitung eintreffen. Abgesehen davon sei es schwierig, Personal zu finden, das in der Nacht arbeiten wolle.
  • Je mehr Züge fahren, desto mehr Servicezentren und Abstellflächen für die Züge braucht es. Die seien heute schon knapp. Der Bau neuer Anlagen sei auch wegen politischen Widerstands eine langwierige und mühsame Aufgabe – wie sich gerade bei der Berner Bahn BLS, aber auch im Kanton Zürich zeigt.
  • Skeptisch ist Martinoni auch gegenüber Forderungen wie jener, im Regionalverkehr überall die Perrons für 400 Meter lange Züge auszubauen und damit mehr Kapazität zu schaffen. Finanziell wäre damit wenig gewonnen. Sobald man in dicht bebauten Gegenden Infrastrukturen versetzen und ausbauen müsse, werde das sehr schnell teuer – genauso wie andere Ausbauten.
SBB: Wo Züge fahren, braucht es auch Abstellflächen. Davon gibt es in Zukunft eher zu wenig.
Wo Züge fahren, braucht es auch Abstellflächen. Davon gibt es in Zukunft eher zu wenig.Bild: Gaëtan Bally/ Keystone (5. 2. 2016)

Dennoch sieht Martinoni die Zukunft der Eisenbahn weniger düster als die Kritiker. Zwar dürfte sie in den nächsten Jahren kaum mehr schneller werden, dafür aber stabiler. Wichtig sei, dass genügend Geld in den Erhalt der Bahninfrastruktur gesteckt werde. Vielleicht könne man auch beim einen oder anderen Ausbauprojekt noch über Details sprechen. Der Ausbauschritt, der vom Parlament im Jahr 2019 beschlossen wurde und der nun in der Kritik steht, sei aber nötig. Ihm lägen sehr wohl ein Fahrplan und ein Konzept zugrunde, und er werde deutlich mehr Kapazität ermöglichen: «Das wird noch einmal ein grosser Sprung für die Bahn.»

Mittelfristig könne die Digitalisierung helfen, etwa weil Züge schneller nacheinander verkehren können. Und wenn irgendwann überall der 15-Minuten-Takt der Standard sei, brauche es auch die Knoten nicht mehr – also das Prinzip, dass in grossen Bahnhöfen alle Züge etwa um die gleiche Zeit ankommen und wieder abfahren und so Anschlüsse aufeinander ermöglichen. Wenn sowieso alle paar Minuten ein Zug fährt, werden die Wartezeiten weniger wichtig. Eine Auflösung der Knoten würde Kapazität freilegen. Was bei der Zürcher S-Bahn bereits der Fall ist, dürfte aber schweizweit erst etwa im Jahr 2060 umgesetzt werden, sagt Martinoni.

Bis dann dürfte noch über viele Ausbauten gestritten werden. (aargauerzeitung.ch)

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65 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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insider
20.07.2024 15:04registriert Juni 2016
Wenn du spürst, dass dein Einfluss schwindet, musst du nochmals viel Schaum schlagen.
Wieder einmal können sich ein alter weisser Mann und seine Kollegen mit ihrer im Rentenalter sinkenden Bedeutung nicht abfinden.
Wie haben wir früher im Militär gesagt: "Schnauze tief."
Der Begriff sollte dem Klientel ja noch bekannt sein.
Ich finde solche Aktionen immer sehr befremdlich und anmassend.
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Opossum2
20.07.2024 19:30registriert Januar 2022
So wie Benedikt Weibel plant man in Deutschland. Theoretisch alles super, aber es darf gar nichts passieren. Eine Türstörung in Frankfurt Hbf und das ganze Kartenhaus fällt zusammen.
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Knut Knallmann
20.07.2024 14:47registriert Oktober 2015
Es wird sogar noch komplizierter. Die Wunschvorstellung „mit ein bisschen Digitalisierung“ mehr Züge fahren zu lassen ist illusorisch. Die Signalabstände oder Blockabschnitte lassen sich nicht beliebig verkürzen, sind auf den meistbelasteten kritischen Strecken ohnehin schon ausgereizt und funkbasierte Zugbeeinflussungssysteme (wie ETCS L2) bringen im dichten Mischverkehr und in den grossen Bahnhöfen sogar weniger Kapazität wegen grösserer Sicherheitsmargen. Um Ausbauten oder Kompromisse wird man nicht herumkommen.
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