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Yverdon: Auf die Geiselnahme folgt das Trauma – auch beim Polizisten

Vaud cantonal police officers watch the Travys train where a hostage-taking incident took place at Essert-sous-Champvent station, Switzerland, Thursday, Feb. 8, 2024. A hostage-taking incident took pl ...
Die Passagiere dieses Zugs nahm am Donnerstagabend ein Mann in Geiselhaft.Bild: keystone

Auf die Geiselnahme folgt das Trauma – auch beim Polizisten, der schoss

Der Geiselnehmer in der Waadt verstarb noch am Tatort. Durch die Kugel eines Polizisten. Obwohl dieser so die 14 Geiseln befreite, könnte er noch lange mit den Folgen dieses Schusses zu kämpfen haben, sagt ein Kriminologe. Die befreiten Geiseln aber auch.
09.02.2024, 17:1809.02.2024, 18:49
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Vier Stunden lang sassen die 13 Passagiere und der Zugführer am Donnerstagabend in einem Regionalzug zwischen Yverdon und Sainte-Croix fest. Am Ende befreite sie ein Schuss – aus der Waffe eines Polizisten. Die Kugel traf. Und der Geiselnehmer verstarb noch am Tatort.

Zu solchen Vorfällen kommt es in der Schweiz ausgesprochen selten. Und zu dieser Reaktion der Polizistinnen und Polizisten ebenso selten, wie Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention der ZHAW, zu watson sagt.

Im Durchschnitt sei es in den letzten zehn Jahren bei einer Anzahl von etwa 20'000 Polizistinnen und Polizisten nur etwa zehn Mal im Jahr zu polizeilichen Schusswaffeneinsätzen gekommen. Tendenz sinkend. Baier sagt:

«Die Schussabgabe ist wirklich die ultima ratio polizeilichen Agierens.»

Die Schusswaffe komme nur dann zum Einsatz, wenn höchste Gefahr für anwesende Personen – inklusive Polizistinnen und Polizisten – bestehe. Baier ist darum sicher, dass auch in der Waadt eine wirkliche Gefahr für die Einsatzkräfte und Passagiere bestanden hat. So, wie es die Waadtländer Polizei kommuniziert hatte.

Dirk Baier, Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW)
Kriminologe Dirk Baier.Bild: zvg

Das primäre Ziel der Einsatzkräfte ist laut Baier nie, die Tatperson zu töten. Mit einer Schussabgabe will man sie handlungsunfähig machen. Wobei man eine Tötung aber in Kauf nimmt. Baier fasst es so zusammen:

«Eine Tötung ist nicht beabsichtigt, aber als mögliche Folge einkalkuliert.»

Man müsse sich die Ausgangslage in der Waadt etwa so vorstellen: Wegen des Ablenkungsmanövers – einer Explosion – lag wahrscheinlich Rauch in der Luft und die Geiseln schrien. Dann war es im Zug auch noch eng. Ein gezielter Schuss, der verwundet, aber nicht töten: sehr schwierig.

Appell: Medien sollen Geiseln in Ruhe lassen

Nun ist der Geiselnehmer also tot. Die Geiseln wieder frei, körperlich unversehrt. Der Polizeieinsatz beendet. Wirklich zu Ende ist ein solches Erlebnis für die Geiseln jedoch möglicherweise noch lange nicht.

Baier spricht von einer «potenziell traumatischen Erfahrung» für die Betroffenen. Denn es habe Todesangst bestanden. Ob eine Person gut über das Erlebte hinwegkomme oder nicht, hänge stark von ihrer persönlichen Resilienz und der sozialen Unterstützung, die sie bekomme, ab. Aber auch von den Medien:

«In jedem Fall ist es wichtig, die Geiseln möglichst in Ruhe zu lassen, sie also auch nicht mit Interviewanfragen, intensiver Berichterstattung und Fotos immer wieder an das Erlebte zu erinnern.»
Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention der ZHAW

Seit ihrer Befreiung werden die Geiseln psychologisch betreut. Auch der Zugführer erhält psychologische Unterstützung, wie die Regionalbahnbetreiberin Travys auf Nachfrage von watson schreibt.

Polizeikräfte leiden häufig an Post-Shooting-Trauma

Auf den Polizisten, der den Täter erschoss, könnte aber auch eine schwierige Zeit zukommen, so Baier. In der Fachliteratur ist von «post shooting stress» oder «post shooting trauma» die Rede, also einem Trauma, das Polizistinnen und Polizisten davontragen können, weil sie geschossen haben. Ähnlich dem einer posttraumatischen Belastungsstörung.

Personen mit einem Post-Shooting-Trauma haben häufig mit Schlaflosigkeit, Albträumen und Angstzuständen zu kämpfen. Nicht selten greifen sie zu Alkohol oder anderen Drogen, um mit belastenden Gefühlen – meist Schuld und Angst – umzugehen.

Was gemäss Baier ebenfalls vorkommen kann: «Dass die Polizistinnen und Polizisten die Schuss-Situation im Kopf immer wieder durchspielen und sich fragen, ob sie anders hätten handeln können.» Selbst wenn die Schussabgabe völlig gerechtfertigt gewesen sei. Deshalb würde in der Schweiz jede Polizeikraft, die im Einsatz die Schusswaffe gebraucht habe, vorläufig vom Dienst freigestellt und erhalte psychologische Betreuung.

Zwar werden Polizistinnen und Polizisten in der Schweiz auf die Schussabgabe vorbereitet, nehmen periodisch an Schiesstrainings teil, wie Baier sagt. Auch gibt es Spezialeinheiten, die explizit für Geiselbefreiungen trainieren – «absolute Profis», nennt Baier sie. Aber nicht jeder Polizist und jede Polizistin kann routiniert mit solchen Ausnahmesituationen umgehen. Darum hält er fest:

«Auf das Töten kann man letztlich nicht vorbereitet werden.»
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38 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Tiere sind keine Menschen
09.02.2024 17:25registriert Dezember 2023
Wenn die Schusswaffe benutzt werden muss, ist immer mit toten zu rechnen - das hat der Experte hier seht gut erklärt...

Viele "Normalos" stellen sich das wohl so vor, dass man z. B. in die Beine o. ä. schiesst - so läuft das aber im "eifer des Gefechts" eigentlich nie. Wenn man schiesst, dann mit Mannstopwirkungsabsicht deshalb eben auch wirklich nur als finales mittel.
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Garp
09.02.2024 17:57registriert August 2018
„ Personen mit einem Post-Shooting-Trauma haben häufig mit Schlaflosigkeit, Albträumen und Angstzuständen zu kämpfen. Nicht selten greifen sie zu Alkohol oder anderen Drogen“

Das trifft auf ganz viele Leute zu, die ein Trauma erfahren haben. Die Polizisten werden wenigstens gut betreut, was aber auch nicht immer eine Garantie ist, das Trauma überwinden zu können. Sie haben alle Unterstützung verdient.
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honesty_is_the_key
09.02.2024 18:47registriert Juli 2017
Einen Menschen zu töten (auch wenn es wohl leider notwendig war) wird wohl den Polizisten sein Leben lang begleiten. Ich denke er hat gut gehandelt, aber es ist trotzdem sicherlich sehr schmerzhaft für ihn. Ich hoffe mir, dass er das irgendwie überwinden kann.

Ich kann genauso wenig wie die anderen Kommentatore hier beurteilen was passiert ist. Also bitte greift diesen Menschen nicht an.
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