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Geiselnahme Yverdon: Wie selten die Schweizer Polizei zur Waffe greift

Wann die Polizei in der Schweiz zur Schusswaffe greift – und wie oft

Die Polizei erschoss am Donnerstagabend im Kanton Waadt einen Geiselnehmer. Wie selten es zu solchen Vorfällen kommt, zeigt ein Blick in die Statistik.
09.02.2024, 13:3909.02.2024, 13:39
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Die Geiselnahme in einem Regionalzug zwischen Yverdon und Sainte-Croix endet am Donnerstagabend nach über vier Stunden tödlich. Die Polizei stürmt um 22.15 Uhr den Zug und erschiesst dabei den Geiselnehmer. «Als der Geiselnehmer mit seiner Axt in Richtung des Einsatzteams stürmte, machte ein Polizist von seiner Waffe Gebrauch, um die Geiseln zu schützen, und traf den Täter tödlich», erklärte Jean-Christophe Sauterel, Kommunikationschef der Waadtländer Polizei, gestern Abend nach dem Einsatz gegenüber den Medien.

Vaud cantonal police officers watch the Travys train where a hostage-taking incident took place at Essert-sous-Champvent station, Switzerland, Thursday, Feb. 8, 2024. A hostage-taking incident took pl ...
In diesem Zug hielt der Mann 15 Geiseln über vier Stunden fest.Bild: keystone

Dass die Schweizer Polizei zur Waffe greift, passiert selten. Doch unter welchen Umständen dürfen Polizistinnen und Polizisten überhaupt Schusswaffen einsetzen? Und wie oft kommt das tatsächlich vor? Wir haben die Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Dann darf die Polizei zur Waffe greifen

Italienische Carabinieri (rote Vesten) und die Polizisten der Kantonspolizei Tessin (gelbe Vesten) bei gemischten Patrouillen an der schweizerisch-italienischen Grenze am Mittwoch, 9. Maerz 2022 in Ag ...
Die Schweizer Polizistinnen und Polizisten sind bewaffnet, doch für den Einsatz gelten strenge Regeln.Bild: keystone

In der Schweiz ist der Einsatz der polizeilichen Dienstwaffe im Reglement über den Waffengebrauch vom 5. Dezember 1988 geregelt. Dieses gilt für die ganze Schweiz. Es gebe verschiedene Situationen, in denen die Polizei zur Waffe greifen darf, sagt Raphaël Jallard, Direktor der Polizeischulen Neuenburg, Freiburg und Jura. Es sind die folgenden:

  1. Wenn die Polizei angegriffen wird oder ihr ein unmittelbar bevorstehender Angriff droht, wird dies als Notwehr bezeichnet.
  2. Wenn in Anwesenheit der Polizei ein Dritter angegriffen oder mit einem unmittelbar bevorstehenden Angriff bedroht wird, handelt es sich um Notwehr eines Dritten. Dies kann z. B. bei Angriffen auf öffentlichen Plätzen geschehen, bei denen die Person auf Passanten schiesst oder diese verletzt.
  3. Um der Polizei die Erfüllung ihrer Aufgaben zu ermöglichen, insbesondere wenn eine Person, die ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen begangen hat oder dringend verdächtigt wird, ein solches begangen zu haben, oder die andere in eine ernste und unmittelbare Gefahr für ihr Leben oder ihre Gesundheit bringt, versucht, sich durch Flucht einer Festnahme zu entziehen.
  4. Um eine Geisel zu befreien. In diesem Fall erfolgt die Schussabgabe durch einen Scharfschützen.
  5. Um einen schweren und unmittelbar bevorstehenden Angriff auf öffentliche Einrichtungen, deren Zerstörung erheblichen Konsequenzen für die Allgemeinheit haben könnte, zu verhindern.

In jeder Situation gilt, dass der Einsatz der Waffe den Umständen angemessen sein muss. Sie gelte als letztes Mittel der Verteidigung. Zudem muss dem Schusswaffengebrauch in der Theorie eine Warnung vorausgehen. Dies hänge jedoch von der Situation ab. «Doch wenn Beamte überrascht werden, haben sie unter Umständen keine Zeit, dies zu tun», sagt Jallard.

Die Sache mit dem Zielen

Die Polizistinnen und Polizisten sind grundsätzlich dazu angehalten, tödliche Schüsse zu vermeiden. Also nicht auf lebenswichtige Organe oder den Kopf zu zielen. Aber:

«Bei der Selbstverteidigung hat der Beamte keine Zeit, die Zielorgane klar zu erkennen, also einen Präzisionsschuss abzugeben. Das Ziel ist es, die Bedrohung zu stoppen.»
Raphaël Jallard, Direktor der Polizeischulen Neuenburg, Freiburg und Jura

Deshalb kann es durchaus vorkommen, dass lebensbedrohende Verletzungen entstehen. Zudem sind angeschossene Personen nicht automatisch neutralisiert, wie Jallard bestätigt: «Es mag überraschend klingen, aber getroffene Personen greifen manchmal weiterhin die Polizisten an.»

So oft setzt die Schweizer Polizei Schusswaffen ein

In den Jahren 2021 und 2022 machte die Schweizer Polizei je sechsmal von der Dienstwaffe Gebrauch, wie eine Statistik der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) zeigt. Im langjährigen Vergleich sind das absolute Tiefstwerte.

Noch seltener sind polizeiliche Schusswaffeneinsätze mit Todesfolge. Dazu gibt es zwar keine eindeutige Statistik, watson-Recherchen zeigen aber, dass Schweizer Polizistinnen und Polizisten in den letzten 25 Jahren etwa zehn Menschen erschossen haben. Zuletzt wurde im Frühling 2022 der Entführer von Impfchef Christoph Berger bei einem Polizeieinsatz getötet.

Der Einsatz von Schusswaffen durch die Polizei nimmt also ab. Dies hat auch einen spezifischen Grund: Die Polizistinnen und Polizisten werden besser auf deeskalierende Massnahmen geschult und der Taser kommt häufiger zum Einsatz, wie Zahlen der KKJPD belegen. Doch auch die Zahl der Einsätze mit Elektroimpulspistolen ist seit 2020 rückläufig.

So sieht der Vergleich mit dem Ausland aus

Konkrete Statistiken zum Einsatz von Waffen durch die Polizei sind selten und werden – wenn überhaupt – nur von einzelnen Ländern erhoben. So weist Grossbritannien für die Zeitspanne vom März 2022 bis März 2023 zehn Schüsse durch die Polizei auf Personen aus. Im langjährigen Vergleich ist diese Zahl sogar eher hoch. 2021 und 2022 schoss die britische Polizei je viermal auf Personen.

In Deutschland setzte die Polizei im Jahr 2022 60 Mal Schusswaffen gegen Personen ein. 46 dieser Schüsse fielen in Notwehr- oder Nothilfe-Situationen. Dabei gab es insgesamt 11 Todesopfer. In Österreich sei es von 2008 bis Anfang 2023 zu 14 tödlichen Schussabgaben durch die Polizei gekommen, wie Recherchen des Kuriers zeigen.

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In den USA schiesst die Polizei deutlich öfter auf Menschen.Bild: keystone

Etwas anders sehen die Zahlen aus den USA aus. Zwar ist die Bevölkerung des Landes mit seinen über 330 Millionen Einwohner etwa viermal grösser als diejenige Deutschlands, fünfmal grösser als diejenige Grossbritanniens und über 30 Mal grösser als diejenige von Österreich oder der Schweiz, trotzdem sind tödliche Schüsse durch die Polizei hier unverhältnismässig häufiger. In den letzten sieben Jahren wurden dort über 7000 Menschen durch die Polizei erschossen. Das sind im Schnitt pro Jahr über 1000 Todesopfer – Tendenz steigend. (leo)

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58 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Rikki-Tiki-Tavi
09.02.2024 11:40registriert April 2020
Neulich sah ich in einem BKA-Schulungsvideo, wie schnell ein Messerangreifer die Distanz zum Polizisten überbrücken kann. Der Sicherheitsabstand muss rund 7 m betragen, damit der Polizist zwei Sekunden Zeit hat um zu sehen, dass er angegriffen wird, entscheiden ob und wie er sich verteidigen muss. Dann noch genau zielen und "mannstoppend" treffen, ohne grossen Schaden anzurichten. Ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn die Distanz kürzer ist, zB. in einem Raum, wirds noch schwieriger. Es geht nicht um Legitimierung von Polizeigewalt. Man muss aber verstehen, was überhaupt möglich ist.
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El_Chorche
09.02.2024 11:41registriert März 2021
«Es mag überraschend klingen, aber getroffene Personen greifen manchmal weiterhin die Polizisten an.»

Sollte sich Meth o.ä Zombiedrogen in der Schweiz weiter ausbreiten, wird das künftig eher noch zunehmen.

Einen Süchtigen mit solch potenten Drogen intus zu stoppen, ist nicht so einfach...
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Schlaf
09.02.2024 11:30registriert Oktober 2019
Hoffentlich werden unsere Polizisten nie so Rambos wie die amerikanischen Arbeitskollegen von ihnen.

Gut, Ausbildungstechnisch kann man das ja niemals miteinander vergleichen, auch ist der Umgang mit Waffen im Land ganz ein anderer, obwohl wir in der CH auch viele Schusswaffen haben, Militär, Hobby..

Es läuft nicht alles richtig bei uns, dass meiste ist aber gut geregelt und unsere Ausbildung scheint on top zu sein.
Ach sind die Bewerbungskriterien im Vergleich zum nahen Ausland, wie z.B. in DE, noch massiv höher.
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