Am Donnerstagabend nahm ein mit einer Axt und einem Messer bewaffneter Täter einen ganzen Zug im Kanton Waadt in Geiselhaft. Nachdem der Deeskalationsversuch eines Verhandlungsführers gescheitert war, stürmte die Einsatzgruppe der Polizei den Zug.
Der Täter stürzte sich mit einer Axt in der Hand auf die Beamten. Er wird von mehreren Schüssen der Polizei getroffen und stirbt noch am Tatort.
Wie gehen Polizisten in einer solchen Situation vor? Unter welchen Umständen entscheidet sich die Polizei für einen Angriff? watson fragte einen ehemaligen Westschweizer Polizisten, der Mitglied einer Spezialtruppe war, zu seinen Erfahrungen mit solchen Einsätzen.
Bevor es einen Zugriff gab, versuchte die Polizei, mit dem Täter zu verhandeln. Wie laufen Verhandlungen in der Regel ab?
Der beste Verbündete in einer solchen Situation ist die Zeit. Das Ziel einer Verhandlung ist es, den Angreifer dazu zu bringen, aufzugeben – indem die Situation zeitlich gestreckt wird. In den meisten Fällen gelingt das auch. Wenn sich der Geiselnehmer in einer «psychologischen Dekompensation» befindet, wird er mehrere Phasen durchlaufen. Im Laufe der Stunden, die vergehen, werden diese Phasen immer weniger akut. Es bilden sich Zyklen und die Aufgabe des Verhandlungsführers ist es, den Geiselnehmer psychisch zu erschöpfen, bis er wieder zur Vernunft kommt und sich ergibt. Während der Verhandlungsführer arbeitet, bereitet sich die Einsatzgruppe vor.
Unterscheidet sich der Umgang mit den einzelnen Tätern?
Auf jeden Fall. Hier haben wir offenbar einen Asylsuchenden, der kein Französisch spricht. Man braucht nicht nur einen Übersetzer oder muss in einer Fremdsprache sprechen, sondern es ist auch nicht möglich, eine kulturelle Verbindung herzustellen, auf der man aufbauen könnte.
Können Sie das genauer erklären?
Die Vergangenheit des Amokläufers ist sehr wichtig. Ist bekannt, ob die Person Krieg, Exil oder Untertauchen erlebt hat? Das sind komplizierte Situationen, mit denen man umgehen muss. Bei einem terroristischen Profil handelt es sich um eine Person, die aus ideologischen Gründen handelt und vielleicht geplant hat, für ihre Sache zu sterben.
Was ist die Rolle des Verhandlungsführers?
Sie ist von entscheidender Bedeutung. Der Verhandlungsführer steht in engem Kontakt mit dem Einsatzleiter. Wenn die Gespräche zu keinem Ergebnis führen und alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, entscheidet der Einsatzleiter aufgrund seiner Lageeinschätzung, dass die Einsatzgruppe den Angriff startet.
Wie wird ein solcher Angriff durchgeführt?
In diesem Fall haben die Beamten wahrscheinlich mehrere Stunden Zeit gehabt, sich vorzubereiten. Man kann sich Zugang verschaffen, indem man ein Fenster sprengt oder eine Tür aufbricht. Wichtig ist: Man braucht den richtigen Moment, um schnell und unter den besten Bedingungen zu handeln und den Angreifer zu neutralisieren. Das Warten auf diesen Moment kann ein paar Minuten dauern, aber auch mehrere Stunden.
Mehrere Stunden?
Ich habe schon mehr als 15 Stunden hinter einer Tür ausgeharrt.
Wie läuft der Angriff ab, sobald das «Go» gegeben wurde?
Es gibt eine Kolonne von fünf bis sechs Männern, die in einer Reihe durch den Eingangspunkt brechen. Bei einem Zug befindet man sich in einer Tunnelkonfiguration. Der erste Mann trägt einen Schild und die anderen stehen in einer Reihe hinter ihm. Der zweite Mann, sein «Wingman», ist am besten positioniert, um das Feuer zu eröffnen.
Ist der Angriff in einem Zug speziell schwierig?
Eine Aktion «im Tunnel» ist die schlimmste Situation. Es gibt wenig Platz zum Manövrieren. Man geht direkt auf den Gegner zu, um die Geiseln zu schützen. Der Vorteil eines Zuges ist, dass sich die Einsatzgruppe diskret nähern und neben einer Tür Stellung beziehen kann, ohne entdeckt zu werden. Bei einem Bus zum Beispiel ist das viel schwieriger. Solche Tunnel-Aktionen gibt es in der Schweiz kaum.
Der Zugriff geschah in der Dunkelheit. Wäre es schwieriger gewesen, wenn die Geiselnahme morgens um 8.30 Uhr stattgefunden hätte?
Man geht mit den Bedingungen um, die man vorfindet. Aber es ist sicher ein Vorteil, nachts zu agieren, da man sich unauffällig bewegen und so nah wie möglich herankommen kann. Es gab noch einen weiteren grossen Vorteil in der Situation am Donnerstag: Der Zug wurde auf offenem Feld, ausserhalb eines Stadtgebiets, angehalten. Das ermöglicht es den Scharfschützen, bei guter Sicht und ohne Hindernisse zwischen sich und ihrem Ziel in Position zu gehen. Und die Gefahr, dass ein Schuss oder ein Abpraller in einer bewohnbaren Zone landet, ist viel geringer.
Hätten die Scharfschützen den Geiselnehmer angreifen können?
Ich kann die Situation nicht beurteilen. Was ich sagen kann, ist, dass die Scheiben eines Zuges, auch wenn sie dick sind, nicht gepanzert sind. Ausserdem gibt es Patronen, die speziell dafür vorgesehen sind, durch eine Scheibe zu schiessen. Den Geiselnehmer zu erschiessen, indem man durch eine dieser Scheiben schiesst, wäre zumindest theoretisch möglich gewesen.
Es wurden Ablenkungssprengstoffe eingesetzt. Wozu dient das?
Um die Aufmerksamkeit des Geiselnehmers abzulenken. Ablenkungssprengstoffe sind wie grosse Feuerwerkskörper, die einen Feuerball und viel Lärm machen. In einem Zug lenken sie die Aufmerksamkeit auf die eine Seite, damit Beamte auf der anderen Seite agieren können. Angesichts des Videos, das die Explosion zeigt, handelt es sich nicht um eine Blendgranate. Das Ziel ist hier nicht, den Angreifer zu blenden.
Besteht nicht die Gefahr, dass beim Schiessen auf den Angreifer eine Geisel durch einen Abpraller oder einen Fehlschuss verletzt wird?
In einem Tunnel wie diesem Fall ist dieses Risiko sogar gross. Die Polizei verwendet Kugeln mit «kontrollierter Expansion». Das ist eine spezielle Art von Patrone, die sich beim Aufprall verformt, aber nicht zersplittert. Dies hat mehrere Auswirkungen: Erstens ist die kinetische Energie viel höher, wodurch der Angreifer schneller neutralisiert wird. Ausserdem verringert sich das Risiko, dass die Kugel wieder austritt, und damit auch das Risiko von Querschlägern.
In solch einer Situation wird jede Faser unter Strom stehen, dann noch über 15 Stunden an Ort und Stelle, absolut still zu verharren ist schon übel.
Die Arbeit solcher Menschen, auch wenn sie zum Glück nicht oft gebraucht wird, ist extremst wichtig und da müssen absolute Profis am Werk sein.
Vielen Dank an die Spezialeinheiten, die immer standby für uns da sind!
Und auch mal Ablenkungssprengstoff🤔 benutzen.