Es ist ein wahrer Teuerungsschock, der die Schweiz da trifft. All dies ist schon viel teuer geworden: Benzin, Diesel, Heizöl, Gas. Und diese Woche wurde bekannt, was nächstes Jahr mehr kosten wird, nämlich Strom und Gesundheitsversicherungen. Diese Kostenexplosionen könnten die Budgets vieler privater Haushalte sprengen. Viele Parteien und Verbände befürchten darum so etwas wie eine Krise der Lebenskosten – und fordern den Bundesrat auf, neben dem vorhandenen sozialen Netz eigens für diese Krise zu helfen. Doch die Landesregierung entgegnet bislang, dafür bestehe «gegenwärtig kein Bedarf».
Wie gross ist diese Lebenskosten-Krise, was sind die Ursachen, was die Folgen? Zeit für eine Bestandesaufnahme. Zur Veranschaulichung hilft es, die Preisaufschläge umzurechnen in die Frankenbeträge, die ein typischer Haushalt neu unterbringen muss im Monatsbudget. Wie diese Budgets aktuell noch aussehen, also vor der Kostenexplosion, erhebt das Bundesamt für Statistik. Die Budgets zeigen, was Haushalte derzeit im landesweiten Mittel für ihre Lebenskosten zahlen – woraus sich ableiten lässt, was sie nach der Kostenexplosion zahlen müssen.
Strom wird teurer, ab 2023 um durchschnittlich 27 Prozent. Das hat die Strombehörde Elcom diese Woche vermeldet. Umgerechnet auf das aktuell typische Monatsbudget müssen ab dem 1. Januar nicht mehr 71 Franken bezahlt werden, sondern 90 Franken – was Mehrkosten von etwas mehr als 19 Franken monatlich entspricht, also 229 Franken im Jahr. Dieser Strompreisschock kommt zu weiteren Energiekostenschocks, welche die Haushalte schon heute in ihre Budgets quetschen müssen.
In diesen Budgetzahlen widerspiegelt sich der Energiekrieg von Russland gegen Europa. Wladimir Putin hat die russischen Gaslieferungen drastisch gesenkt, was die Europäer nicht auf die Schnelle ausgleichen können. Darum ist der Gaspreis explodiert – und zugleich der Strompreis, weil Europa teils zur Stromerzeugung auf russisches Gas angewiesen ist. Putin bezwecke damit eine «Energie-Erpressung», erklärte kürzlich der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski. Russland fordere, dass Europa die Ukraine nicht länger unterstützt – sonst werde:
Nachdem Russland die Ukraine angegriffen und der Westen mit schweren Sanktionen geantwortet hatte, fiel Russland für den Westen auch als wichtiger Erdölexporteur weg. Doch beim Erdöl ist Europa weniger erpressbar als beim Gas. Russland exportiert zwar nun mehr nach China oder Indien, zu angeblich 30 oder 50 Prozent tieferen Preisen. Doch der Ölmarkt ist anpassungsfähig, es müssen nicht erst wie beim Gas neue Pipelines oder spezielle Häfen für Flüssiggas-Tanker gebaut werden. Europa beschafft sich nun mehr Öl in Katar oder Saudi-Arabien. Einen gewissen Preisanstieg hat es dennoch gegeben.
Bleibt Erdöl vergleichsweise teuer, resultiert in der Schweiz ein weiterer Kostenschub. Fürs Heizöl muss aktuell nicht ganz, aber fast doppelt so viel bezahlt werden wie vor einem Jahr. Um genau 86 Prozent stieg der Preis, wie sich ablesen lässt im Landesindex für Konsumentenpreise. Das lastet vergleichsweise schwer auf dem Budget, weil die Heizkosten vor der Kostenexplosion ungefähr 100 Franken pro Monat betragen haben. Neu kommen über 80 Franken hinzu, aufs Jahr gerechnet fast 1000 Franken.
Wer zudem auf ein Auto angewiesen ist, muss auch für Benzin und Diesel tiefer in die Tasche greifen. Im monatlichen Durchschnitt ergibt das Zusatzkosten von 37 Franken, im Jahr also über 400 Franken.
Zur Explosion der Energiepreise kommt eine Spätfolge der Coronakrise hinzu. Im Gesundheitswesen seien die Kosten «dramatisch» gestiegen, warnt der Krankenkassenverband Santésuisse. Einer der wichtigsten Kostentreiber sind dabei Behandlungen, die sich während der Coronakrise aufgestaut haben – und dann mit Verspätung vorgenommen werden mussten. Zunächst war das Ausmass dieser aufgestauten Kosten lange nicht voll erkennbar, in die letzte Prämienerhöhung floss sie darum noch nicht ein. Das ist nun anders.
Diese aufgestauten Kosten sind vermessen und erfasst – und erfordern laut Santésuisse eine happige Prämienerhöhung von 9 bis 10 Prozent. Umgerechnet auf ein durchschnittliches Haushaltsbudget wären das 62 Franken mehr im Monat, aufs Jahr dann über 700 Franken mehr. Doch ganz so arg muss es nicht immer kommen. Die Krankenkassen haben auch die Möglichkeit, für die gestiegenen Kosten mit ihren Reserven aufzukommen – und die Prämienerhöhung noch aufzuschieben.
Noch werden in der Schweiz keine grossen Hilfen versprochen, um der Explosion der Lebenskosten zu begegnen. Der Bundesrat hält Entlastungspakete für unnötig, weil die Kostenexplosion hierzulande kleiner ausfällt als in Europa. Doch verschiedene Trends könnten noch ein Umdenken bewirken.
So wird der russischen Energie-Erpressung in Europa längst mit gewaltigen Hilfsmassnahmen begegnet. Ausgaben von insgesamt 376 Milliarden Euro wurden von Einzelnen bislang angekündigt, so die Schätzung eines Thinktanks. Doch gemäss Experten könnte auch dies nicht reichen. In Grossbritannien zum Beispiel lässt die neue Premierministerin Liz Truss die Energieausgaben deckeln, womit ein Haushalt etwa 1000 Pfund einsparen kann. In Deutschland will Bundeskanzler Olaf Scholz an die 95 Milliarden Euro ausgeben, um sein Versprechen an alle Bürgerinnen und Bürger halten zu können:
Der Ärger über den untätigen Bundesrat reicht bis weit ins rechte politische Spektrum hinein. Mitte-Präsident Gerhard Pfister hat auf Twitter seinem Unmut Luft gemacht: «Es war richtig, dass der Bund bei der Pandemie Milliarden ausgab, um die Wirtschaft zu schützen. Es ist richtig, dass er Milliarden für die Strombranche bereitstellt. Es ist aber falsch, dass er nun die Kaufkraft der Menschen nicht schützen will.» Damit erscheint die Wahrscheinlichkeit gross, dass sich im Parlament noch Allianzen finden, die den Bundesrat doch noch zum Handeln zwingen werden.
Russlands Energiekrieg fügt Europa derzeit beträchtlichen Schaden zu. Würden die Gaspreise so hoch bleiben, wie sie es aktuell sind, würden zum Beispiel Deutschland oder Italien deutlich härter getroffen werden als während der Erdölschocks der 1970er-Jahre. Doch gerade der Vergleich mit den Erdölschocks gibt Anlass zur Zuversicht.
Wie die «Financial Times» erinnert, folgte auf die Öl-Knappheit der 1970er-Jahre schon Mitte der 1980er-Jahre eine Öl-Schwemme. Auch im Energiekrieg ist eine baldige Wende zum Besseren möglich. Erdöl ist bereits deutlich billiger geworden, unter anderem weil Chinas Hunger nach Rohstoffen nachgelassen hat – die zweitgrösste Wirtschaft der Welt ist derzeit weit entfernt vom einstigen Rekordwachstum.
Hinzu kommt, dass der Container-Transport von Gütern wieder billiger geworden ist – was zeigt, dass auch die Lieferketten-Probleme nachlassen. Und der Weizenpreis ist ebenfalls gesunken – somit dürfte sich der Aufwärtsdruck auf die Lebensmittelpreise abschwächen. In der Schweiz könnten somit einige Ausgabenposten bald wieder weniger schwer auf den Budgets lasten.
Dann könnten die Arbeitgeber nicht dauernd die Ausrede bringen, es gäbe keine Teuerung…
Individuelle Lohnerhöhungen können von mir aus oben drauf kommen. Ein Teuerungsausgleich MUSS aber sein…
Ausserdem sind individuelle Lohnerhöhungen meist unfair: Nicht immer erhält der Tüchtigste / Beste was, sondern der Liebling des Chefs…