Die Flammen schlagen hoch an der russischen Grenze, wer im finnischen Ort Virolahti nach Osten schaut, kann sie mit blossem Auge sehen. Der Grund für das Feuer? Überschüssiges Erdgas. Während in Europa und besonders in Deutschland die Angst vor einer Gasmangellage immer grösser wird, mehren sich die Hinweise, dass Russland nicht mehr weiss, wohin mit seinem wertvollen Rohstoff.
«Bereits im vergangenen Herbst gab es Berichte, dass Russlands Speicher nahezu vollständig gefüllt waren», sagt Malte Küper, Energieexperte am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, im Gespräch mit t-online. «Russlands Gasspeicher sind zwar gewaltig, aber auch sie kommen angesichts der enormen Mengen, die normalerweise nach Europa fliessen würden, an ihre Grenzen.»
Seine Vermutung: In den Speichern dürfte nicht mehr viel Platz sein. Das wiederum bedeutet: Russland muss das Gas, das es weder an den Westen verkaufen möchte, noch einlagern kann, verbrennen. Denn Russland kann die Förderung von Erdgas nicht so einfach reduzieren. Erdgas wird durch Bohrungen gefördert, durch den Druck fliesst der Rohstoff über das in den Boden eingeführte Rohr selbst an die Oberfläche.
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«Wenn sie Öl und Gas fördern, können sie die Bohrungen nicht einfach abschalten. Die Flüsse können nicht wesentlich reduziert werden», erklärte etwa Jurij Witrenko, Chef des ukrainischen Energiekonzerns Naftogaz, zu Beginn des Krieges in einem Interview mit der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung».
Russland müsste demnach noch ein ähnliches Volumen fördern wie vor dem Krieg – nur fehlen dafür jetzt die Käufer. Zwar erzählt der Staatskonzern Gazprom etwas anderes, berichtet von verstärkten Lieferungen nach Asien. Energieexperte Küper jedoch ist skeptisch.
«Russland will den Anschein erwecken, als könne es die fehlenden Lieferungen nach Europa durch Lieferungen nach China ausgleichen», sagt er. «Die Zahlen widersprechen diesem Narrativ.»
Was er damit meint: Noch vor zwei Jahren habe Russland fast 80 Prozent seines Gases nach Europa und in die Türkei exportiert. Nur zehn Prozent landeten in asiatische Ländern. Obwohl Moskau China und Indien jetzt als die grossen Alternativabnehmer darstellt, als «Freunde Russlands» dürfte die Wahrheit anders aussehen: Die beiden Ländern können nicht einmal annähernd die Lücke füllen, die Europa als Handelspartner von Gazprom hinterlässt.
Russland freilich möchte diese Schwäche nicht offenbaren. So betont Gazprom vielmehr, dass das Unternehmen seine Exporte nach China um etwa 60 Prozent steigern konnte. Nur: 60 Prozent von einer geringen Menge bleiben immer eine geringe Menge.
Allein Deutschland hat im vergangenen Jahr mehr als viermal so viel Gas aus Russland importiert als China – knapp 46 Milliarden Kubikmeter, die laut Daten des IW nach Deutschland flossen, gegenüber 10.6 Milliarden Kubikmeter, die China erhielt.
Russland müsste im ersten Halbjahr 2022 also knapp 8.5 Milliarden Kubikmeter Erdgas nach China geschickt haben, wenn das Nachbarland im Vergleich zum vergangenen Jahr seine Importe um 60 Prozent gesteigert hat. Das fängt nicht annähernd die Verluste auf, die Russland durch den Einbruch mit dem Europageschäft verkraften muss.
Dennoch rückt sich Russland immer wieder in eine Position der Stärke. Beim Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg im Juni tönte Gazprom-Chef Alexej Miller lautstark, wie Russland zukünftig die Weltwirtschaft dominieren werde: «Die Kontur der neuen Wirtschaftsstruktur wird von der Russischen Föderation bestimmt werden», sagte er.
Der Gazprom-Chef begründete seine These damit, dass sich der «Schwerpunkt in den Waren-Geld-Beziehungen auf die Seite der Waren verlagert» hätte und verwies auf die hohen Inflationsraten in Europa, die Russland durch die reduzierten Gasliefermengen anheizt.
Doch ganz so einfach ist es nicht: Denn nicht nur Europa hat es in den vergangenen Jahren verpasst, Abhängigkeiten von einem Handelspartner zu reduzieren. Auch Russland hat sich durch mangelnde Investitionen Handlungsspielraum genommen.
«Da Russland entgegen dem weltweiten Trend in den letzten Jahren nur zögerlich auf LNG gesetzt hat, ist es weiterhin stark von der bestehenden Pipeline-Infrastruktur abhängig. Und die ist ganz klar auf Europa ausgerichtet», erklärt IW-Experte Küper.
Heisst also: Russland hat allein logistisch nicht die Möglichkeit, China mit genügend Erdgas zu versorgen, um die Verluste mit dem Europageschäft auszugleichen – selbst, wenn die Nachfrage von Seiten Chinas gegeben wäre.
Aktuell verbindet gerade einmal eine Pipeline China und Russland. Die «Kraft Sibiriens 1» kann bis zu 38 Milliarden Kubikmeter Erdgas jährlich transportieren. Allerdings war sie nach Angaben des IW zuletzt zu weniger als 50 Prozent ausgelastet – und das, obwohl Russland China mit grossen Rabatten und Abschlägen auf den Gaspreis lockt.
Hinzu kommt: Selbst wenn die Pipeline komplett ausgelastet wäre, würde sie nicht einmal das Volumen von «Nord Stream 1» ersetzen. Die wichtige Ostsee-Pipeline zwischen Russland und Deutschland hat ein Volumen von bis zu 55 Milliarden Kubikmetern jährlich.
Doch der empfindlichste Punkt ist die geografische Lage der Pipelines. Europa bezieht sein Erdgas vorwiegend aus Gasfeldern in Sibirien. Von diesen Feldern verlaufen die Pipelines nur nach Europa. Russland hat also nicht die Möglichkeit, das Gas, das für den europäischen Markt bestimmt ist, einfach nach China oder Indien umzuleiten.
Zwar plant Russland seit Jahren eine neue Gasröhre. Die «Kraft Sibiriens 2» soll die Felder in Sibirien direkt mit China verbinden, doch es gibt viele Hindernisse. Seit 2006 ist Russland diesbezüglich bereits in Gesprächen mit China, bisher ergebnislos.
Das dürfte sich in Zukunft kaum ändern. «Nicht nur die Distanz von fast 3'000 km, sondern auch das herausfordernde Terrain und der wegen der Sanktionen fehlende Zugang zu Technik und Know-how westlicher Firmen erschweren den Bau», sagt Küper.
So bleibt Gazprom nur, das Gas abzufackeln – wie die Finnen an der Grenze zu Russland beobachten können. Luftaufnahmen der Nasa legen nahe, dass Russland bereits seit Juni Gas verbrennen muss.
Es ist daher fraglich, ob Russland die Lieferungen nach Europa noch weiter reduziert. Würde noch weniger Erdgas durch die «Nord Stream 1» nach Europa fliessen, würde sich Russland nicht nur dem Risiko von empfindlichen Vertragsstrafen aussetzen, es hat auch schlicht nicht die Kapazitäten, noch mehr Erdgas zwischenzuspeichern.
Ein Grund zur Freude ist das für den Westen aber nur bedingt. Denn das Abfackeln des Gases bläst grosse Mengen schwarzer Kohlenstoff in die Luft, der das Schmelzen von Schnee und Eis beschleunigt, wenn er auf diesem landet. Viele Finnen im Grenzgebiet berichteten staatlichen Medien bereits, wie sich schwarzer Staub in ihrer Nachbarschaft ansammelt.
Das Verbrennen des Gases treibt den Klimawandel so weiter an. Und solange sich die Handelsbeziehungen zwischen Russland und Europa nicht normalisieren, dürfte Gazprom überschüssiges Erdgas weiter abfackeln. Die Flammen werden an der Grenze zwischen Finnland und Russland wohl auch in Zukunft lodern.