Als Sabine Gisiger ihre kleine Tochter fragte, wie denn ihr erstes Haustier, ein Kanarienvogel, heissen solle, sagte die Tochter: «Jelmoli!» Wieso? Weil die Leuchtschriften über den Geschäften für Kinder früher etwas vom Einprägsamsten waren, schlage ich vor, schliesslich lernte ich dank der Leuchtschriften lesen. Damals, auf dem Aargauer Land. «Das muss es sein!», meint Gisiger, die immer schon in Zürich gelebt hat und leben wird, «das visuelle Gedächtnis, das durch unzählige Spaziergänge durch die Stadt gespiesen wurde.» Jelmoli, Globus, Manor, Franz Carl Weber, lauter Zauberhäuser und Warenpaläste im Stadtzentrum. Bei uns auf dem Aargauer Land waren das eher Volg, Migros und – ganz mondän – Bata.
Sowas wie Jelmoli gabs einzig als Katalog. Zusammen mit Spengler, Ackermann, Veillon. Ich blätterte sie so oft durch, bis alle Seiten einen Chrügel hatten, und irgendwann schrieb Mutter in ihrer schönsten Lehrerinnenschrift die langen Bestellnummern auf einen Talon, brachte ihn zur Post. Die Tage des Wartens begannen, dann die Aufregung, wenn endlich das Paket kam, die Freude, aber auch die Enttäuschung, wenn etwas nicht passte oder sich als billiger entpuppte als auf den Fotos voller Mädchen und Frauen, denen jedes Stück Jelmoli-Mode unendlich viel Lebensfreude und Selbstbewusstsein einzuflössen schien.
Was mir erst durch Sabine Gisigers Dokfilm «Jelmoli – Biografie eines Warenhauses» klar wird, ist, wie viel urbane Konzepte und wie viel Glamour wirklich in den Katalogen steckte. So viel nämlich, dass Gisiger sie im Gespräch einen «zivilisatorischen Motor» nennt. Die Strandlandschaften für die Sommer- und Bademode waren keine Fototapeten, nein, Jelmoli hatte dafür umfangreiche Teams in die Karibik geschickt.
Und hinter der Mode für Teens und junge Menschen steckte das «Fräulein Stierli», eine äusserst attraktive und aktive junge Frau, die in den 70er-Jahren in London und anderen Metropolen in den Clubs und auf den Strassen nach Trends suchte und diese in Hongkong zu Jelmoli-Kollektionen schneidern liess. Fräulein Stierli sorgte auch dafür, dass Jelmoli Popmusik und Jugendmagazine verkaufte. Doch zurück zum Anfang.
Als bekannt wurde, dass Jelmoli im Februar 2025 für immer schliessen wird, flanierte Sabine Gisiger mal wieder durch «ihr» Warenhaus. «Als ich Kind war, in den 1960er-Jahren, war der Jelmoli kein Luxuskaufhaus wie heute, sondern ein Warenhaus, wo es restlos alles zu kaufen gab, und wenn meine Mutter einkaufen ging, wollte ich unbedingt mit. Es gab dort nämlich eine Milchbar nach amerikanischem Vorbild mit einer Diner-Theke und Barhockern, wie wir sie in der Schweiz noch nie gesehen hatten. Man konnte Milk-Shakes mit Vanillegeschmack trinken und wir fanden das läässig.»
Dann erfuhr sie, dass das Stadtarchiv das ganze Jelmoli-Archiv erhalten hatte: «Ich ging vorbei und wusste: Das ist ein unwiderstehlicher Schatz.» Nur musste der Schatz schnell geborgen werden, denn die Idee, einen Dokfilm über Jelmoli zu machen, musste natürlich noch vor dessen Ende realisiert werden. Sie hatte knapp eineinhalb Jahre Zeit.
Der Beginn ihrer absolut fesselnden und vor Bildern, Zeitzeugen, alten Werbefilmen und brandneuen Information nur so platzenden Dokumentation ist schon fast von märchenhafter Schlichtheit. Es war einmal ein kleines italienisches Bergdorf nahe der Schweizer Grenze, in dem auch heute noch alle Leute Jelmoli heissen.
Einer dieser Jelmolis hatte die Tochter eines Textilhändlers geheiratet und reiste ab 1833 regelmässig nach Zürich auf den Markt. Schliesslich liess er sich in Zürich nieder, eröffnete einen Laden und betrieb von Anfang an im grossen Stil Versandhandel, damals eine absolute Novität. 1899 eröffnete sein Enkel Franz Anton den grossen Jelmoli neben der Bahnhofstrasse, ein Neubau, der zu einem innerstädtischen Gentrifizierungsschub führte, viele alte Wohnhäuser fielen dem Glaspalast nach Pariser Vorbild zum Opfer.
Franz Anton Jelmoli gestaltete sein Warenhaus dabei nicht nur nach der Wirklichkeit, sondern vor allem nach dem (gründlich recherchierten) Roman «Au bonheur des dames» («Paradies der Damen») von Émile Zola. Der Schriftsteller beschrieb darin ein fiktives Warenhaus als emanzipatorisches Zentrum der Pariser Frauenwelt. Einerseits bot es Dutzenden von unverheirateten Frauen Jobs als Verkäuferinnen und erlaubte ihnen die Selbstständigkeit. Andererseits war es ein rarer halböffentlicher Raum, in dem sich Frauen ohne männliche Begleitung treffen konnten.
Zola beschrieb einen Kinderhort, Jelmoli richtete einen Kinderhort ein. Zola beschrieb ein Restaurant und eine Bibliothek, Jelmoli ermöglichte beides. Die «Neue Zürcher Zeitung» zeigte sich alarmiert, Verkäuferin zu werden sei ein direkter Schritt in die Prostitution, fürchtete sie. Im Katalog gab es neben Kleidern auch multifunktionale Turngeräte, Mausefallen, Suppenwürfel, Apparaturen gegen das unbekömmliche Doppelkinn und Pistolen.
Ganz im Sinne Zolas war Franz Anton Jelmoli mit August Bebel befreundet, dem Gründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands. Nach dem Ersten Weltkrieg schloss er einen Sozialvertrag mit seinen Angestellten ab. Und dann zog er sich zurück und Jelmoli fand neue und jüdische Besitzer, W. Wolf und Söhne aus Deutschland.
Dass man nicht bei Juden einkaufen solle, war in den 30er-Jahren nicht nur in Deutschland ein populärer Slogan, auch Zürich machte mit, der Jelmoli-Konkurrent Globus schaltete in der NZZ ein Inserat, in dem stand, dass sein Verwaltungsrat und sein Direktorium ausnahmslos aus «bodenständigen» und «nicht-eingekauften» Schweizern bestehe. Die jüdischen Jelmoli-Besitzer und der ebenfalls jüdische Direktor emigrierten, Jelmoli wurde an Ringier verkauft, schliesslich hatte man seit Jahrzehnten eine gute Partnerschaft mit Ringier, alle Jelmoli-Kataloge wurden da gedruckt.
Die Kataloge hatten übrigens gut vierzig Jahre vor Gisigers Dokumentation schon einmal ihren Platz in der Schweizer Filmgeschichte: Im Bergler-Inzestdrama «Höhenfeuer» von Fredi Murer studieren Vater und Sohn auf ihrem abgelegenen Bauernhof obsessiv die Unterwäsche-Models im Jelmoli-Katalog. Neben den Seiten mit kuriosen Massageapparaten waren sie tatsächlich – auf ihre unschuldig-sonnige Art – das Suggestivste in den Katalogen. Gisiger hat die «Höhenfeuer»-Szene vergessen, was sie jetzt ärgert.
Die Regisseurin ist promovierte Historikerin, sie kennt die Schweiz und ihre Geschichte, trotzdem war sie erstaunt über das dichte Geflecht aus sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen, die sich bei der Betrachtung des Warenhauses kundtaten. «Wie stark die koloniale Prägung der Jelmoli-Geschichte war, hatte ich vorher nicht gewusst», sagt sie, «vom Umzug etwa hatte ich noch nie gehört.»
Der «Umzug» folgte schon früh, ab den 1920er-Jahren, der Route des Sechseläuten-Umzugs. Er bestand aus Jelmoli-Personal im Blackface und in exotischen Kostümen, das zu Fuss und auf Wagen importierte Jelmoli-Produkte präsentierte. Und im Sommer, wenn Verkaufsflaute herrschte, veranstaltete man nach französischem Vorbild die «Weissen Wochen»: Weisse Ware – zum Beispiel Textilien und Porzellan – wurde mit Kulissen kontrastiert, die schwarze Menschen zeigten. Bis zu Gisigers Film wurde dies nie thematisiert, wie auch, sie war die Erste, die sich für das Jelmoli-Archiv interessierte.
Die Besitzverhältnisse von Jelmoli waren fluide, auf Ringier folgten die Schweizerische Kreditanstalt, UTC International, Fust, Opel und Swiss Prime Site. Besonders spannend war für Gisiger dabei die UTC-Episode in den 70er-Jahren: Die United Trading Company war damals eine der grössten kolonialen Handelsgesellschaften der Welt und besonders in Afrika von grosser Bedeutung. Jelmoli befand sich nun in einem globalen Warentransfer, man importierte nicht nur, man exportierte jetzt auch, plötzlich wurden Hero-Konserven und Bernina-Nähmaschinen nach Ghana geliefert.
Eine UTC-Filiale in Accra schickte ihre hochbegabte Dekorateurin zur Weiterbildung nach Zürich, später wurde sie zur First Lady von Ghana. Jetzt erzählt sie im Film, wie absolut unvorstellbar für sie das Ende von Jelmoli sei, sie habe gedacht, dass das Kaufhaus ihre Kinder und Enkelkinder überleben werde.
1979, als Fräulein Stierli wahrscheinlich gerade mal wieder auf der Suche nach vermarktbarer Jugendkultur durch die Strassen von London oder New York streunte, sang das britische New-Wave-Duo The Buggles «Video Killed the Radio Star» und bei aller Zukunftseuphorie machte der Song doch auch ein bisschen traurig. Vielleicht gab es die Single damals sogar im Jelmoli zu kaufen.
Jetzt ist alles anders. Das Haus, das 125 Jahre lang die ganze Welt unter einem Dach anbot und Bedürfnisse nicht nur befriedigte, sondern schuf, das Haus, das seinen besten Verkäuferinnen goldene Namensnadeln mit kleinen Brillanten schenkte, liegt in seinen allerletzten Atemzügen. Online Killed the Warenhaus Star.
«Jelmoli – Biografie eines Warenhauses» läuft bis Februar 2025 in ausgewählten Kinos und am 9. Februar auf SRF. Das Zürcher Filmpodium zeigt jetzt gerade aus Anlass der bevorstehenden Jelmoli-Schliessung die Filmreihe «Treffpunkt Kaufhaus» u.a. mit «Dawn oft the Dead» von George A. Romero, «Carol» von Todd Haynes oder «You and Me» von Fritz Lang.
So interessant, dieses Stück Kulturgeschichte.
Dann gab es extra eine Abteilung für Jugendliche, mit entsprechender Musik und Klamotten, die hatte einen extra Namen, glaubs Spotlight.