Herr Straumann, Sie sind Wirtschaftshistoriker. Kam der Konkurs des Reformhauses Müller für Sie überraschend?
Tobias Straumann: Zugegebenermassen hat mich das schon überrascht, denn die Reformhäuser sind die Pioniere der Bioläden. Und Bioprodukte sind aktuell im Trend. Dass grosse Detailhändler wie Migros und Coop viele solche Produkte ins Sortiment aufgenommen haben, hatte sicherlich einen grossen Einfluss auf den Umsatz dieser Geschäfte.
Kommt es oft vor, dass kleinere Geschäfte verdrängt werden und sich so ganze Wirtschaftszweige verändern?
Ja. Das ist kein neues Phänomen. Solche Entwicklungen gibt es immer wieder. Heute gibt es zum Beispiel fast keine Schuhmacher mehr. Sie konnten nicht mehr mit den grösseren Geschäften mithalten. Dadurch, dass sie ihre Produkte noch vor Ort herstellten und lediglich die Materialien importierten, hatten sie hohe Produktionskosten. Der Ertrag stimmte nicht mehr, denn die Leute kauften lieber preiswertere Schuhe in grösseren Geschäften.
Gibt es noch andere Beispiele?
Auch Metzgereien gab es früher mehr. Die grossen Detailhändler haben jetzt Fleisch- und Fischabteilungen. Das machte es für die selbständigen Metzger sehr schwierig, konkurrenzfähig zu sein. Die Grossen haben ein vielfältigeres Angebot, das sie der Kundschaft billig zur Verfügung stellen können. Die grossen Detailhändler haben auch eine starke Verhandlungsmacht gegenüber ihren Lieferanten, sodass sie billiger einkaufen können als die selbständigen Kleinbetriebe. Es ist immer derselbe Mechanismus.
Wie haben die Menschen eingekauft, noch lange bevor es die grossen Detailhändler gab?
Es gab verschiedene kleine «Lädeli». Zum Beispiel Metzgereien und Bäckereien. Damals musste man alles selbst verarbeiten, erst danach konnte man die Produkte verkaufen. Die Materialien wurden bestellt, aber die Endverarbeitung fand immer im Laden selbst statt. Vollkommen dezentral und in kleinen Einheiten.
Ist man von «Lädeli» zu «Lädeli» spaziert und hat alles separat eingekauft?
Genau. Die waren häufig direkt nebeneinander. Das sehen wir heute noch in den grossen Schweizer Städten: die Marktgasse, der Rindermarkt, die Gerbergasse und noch viele andere solche Gassen. Bis vor zweihundert Jahren regulierten die Zünfte das Gewerbe. Sie vereinbarten untereinander Preise, damit es nicht zu viel Konkurrenz gab.
Weshalb waren die Preise geregelt?
Um die Einkommen zu garantieren. Die Leute lebten bis vor zweihundert Jahren immer knapp am Existenzminimum. Die Leute mussten immer schauen, dass man von allem genug hat. Schlechtes Wetter, eine Seuche oder ein Krieg konnten zu Knappheiten führen. Ein Einbrechen der Preise hätte dramatische Wirkungen gehabt.
Es hat also ein grosser Wandel stattgefunden. Seit wann gibt es die grossen Detailhändler?
Seit dem späten 19. Jahrhundert. Damals hatte man erstmals die Mittel, überhaupt so grosse Gebäude zu bauen und die Ware zu vernünftigen Preisen aus aller Welt zu beziehen. London, Paris und New York waren damals die ersten Städte, in denen man Warenhäuser betrieb.
Ab wann wurde in der Schweiz in diesen Dimensionen gebaut?
Jelmoli gründete das erste Warenhaus in der Schweiz im Jahr 1899. Die grossen Detailhändler kamen aber erst in der Zwischenkriegszeit. Migros war der Pionier. Der Gründer, Gottlieb Duttweiler, wollte die Produkte für weniger Geld anbieten als seine Konkurrenz. Der Widerstand der anderen Detailhändler war gross. Da gab es zwar keine Zünfte mehr, aber de facto waren das Kartelle. Die wollten gegen den Preiskampf vorgehen, der ihre Marge und ihre Existenz bedrohte.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt also, dass die aktuelle Entwicklung nicht so überraschend ist.
Volkswirtschaftlich gesehen ist es sogar ein riesiger Fortschritt. Alles wird billiger für alle. Das stärkt die Kaufkraft. Unser Wohlstand beruht schlussendlich darauf, dass wir mehr und effizienter herstellen können. Bedauerlich – nicht aus ökonomischer Sicht – ist aber, dass die Quartiere eintöniger werden. Da würde ich sogar von einer Verarmung des Alltagslebens sprechen.
Was bedeutet dieser Wandel für die Menschen, die im Detailhandel arbeiten?
Für sie ist die Entwicklung nichts Negatives. Die grossen Detailhändler zahlen nicht schlechter als kleinere Betriebe. Es gibt aber je länger je mehr weniger Selbstständige. Das ist natürlich bedauerlich, denn das schadet der Vielfalt. Volkswirtschaftlich ist das nicht problematisch, aber wenn die Zahl der Selbständigen abnimmt, wird auch die Eigenverantwortung geschwächt. Das ist gesellschaftlich und politisch problematisch.
Welche Rolle spielen die Konsumenten beim Verschwinden der kleinen «Lädeli»?
Sie tragen im Grunde die Hauptschuld. Sie unterstützen diese Entwicklungen mit ihrem Kaufverhalten. Aber es ist klar, dass die Leute lieber Produkte kaufen, die billiger sind. Ich möchte das niemandem vorwerfen.
Die Konsumenten bestellen auch immer mehr online. Was bedeutet die Digitalisierung für den Detailhandel?
Die Digitalisierung ist eine Bedrohung, aber nicht für alle im gleichen Mass. Die Schweizer Lebensmittelhändler können gut auf den digitalen Vertrieb umsteigen und den Marktanteil behalten, weil sie eine Art Monopolstellung im Binnenmarkt haben. Aber bei den Kleidern oder den Büchern ist es für kleine oder mittelgrosse Läden schwierig, den Marktanteil zu halten, auch wenn das Angebot digital verfügbar gemacht wird. Ausländische Anbieter sind besonders billig und haben ein grösseres Sortiment.
Welchen Einfluss hat die Digitalisierung auf Menschen, die im Detailhandel tätig sind?
Die Arbeitsplätze im Detailhandel verschwinden nicht, aber sie werden sich verlagern. Wenn es heute viele Arbeitskräfte in den Geschäften braucht, dann werden später mehr Mitarbeitende benötigt, die die Ware abpacken oder diese liefern.
Also gibt es keinen Grund zur Sorge?
So weit würde ich nicht gehen. Wenn ganze Berufszweige verschwinden, ist das immer mit Schmerzen verbunden. Es können nicht alle von heute auf morgen ihre Stelle wechseln. Aber es ist auch kein katastrophaler Vorgang. In der Geschichte gab es immer massiven Strukturwandel, und zwar in allen Bereichen. Die Beschäftigung insgesamt hat aber immer zugenommen. Unter dem Strich überwiegen die Vorteile des permanenten wirtschaftlichen Wandels.
Natürlich, die Konsumenten tragen immer die Hauptschuld... 🙄
Scheint halt auch ein Fünkchen Wahrheit zu stecken und mit der Inflation wird man preissensitiver.
Städte, welche Fussgängerzonen aufwerten und den mobilisierten Verkehr nicht privilegieren, helfen damit den kleinen Quartierläden.