ADHS – Mädchen (und Frauen) leiden anders
Wenn wir an AD(H)S denken, stellen wir uns vermutlich das typische Bild einer hyperaktiven Person vor, die nicht stillsitzen kann, die einem immer ins Wort fällt – und alle ablenkt.
Diese Verhaltensweisen, die von aussen wahrgenommen werden können und als störend erlebt werden, mögen bei einigen zutreffen, insbesondere bei Jungs.
Bei Mädchen kann sich AD(H)S allerdings völlig anders äussern. Vielfach leiden sie im Verborgenen – aber nicht weniger. «Mädchen werden seltener diagnostiziert, weil ihre Symptome oft nicht dem typischen AD(H)S-Bild entsprechen», sagt Julia Frey, Fachpsychologin für Neuropsychologie.
Mädchen (und Frauen) leiden anders
Im Gegensatz zu den externalisierenden Verhaltensweisen der Jungs sind ihre Symptome oft unauffälliger. Mädchen verlieren sich oft in Tagträumereien, sind vergesslich und unaufmerksam. Die Hyperaktivität richtet sich eher nach innen und äussert sich mehr durch innere Unruhe, emotionale Instabilität und ausgeprägte Stimmungsschwankungen. «Für einen Gefühlsausbruch braucht es nicht viel», so Frey. Die Unruhe kann sich aber auch durch Fingernägelkauen und Spielen an den Haaren zeigen.
«ADHS fällt bei Mädchen weniger auf», sagt die Psychologin Julia Frey. Das Geschlechterverhältnis liegt bei den Diagnosen in der Kindheit bei 3:1, im Erwachsenenalter bei 1,6:1. Im Alter von 40 gleicht sich das Verhältnis ungefähr aus. Mädchen und Frauen sind demnach bis ins Erwachsenenalter unterdiagnostiziert – mit weitreichenden Folgen.
Der Leidensdruck bleibt meist über Jahrzehnte bestehen. Oftmals kann das konstante Gefühl der Überforderung nicht begründet werden, was enorm auf die Psyche schlagen kann.
Nicht selten wird ADHS durch sekundäre psychische Erkrankungen überlagert wie Essstörungen, Suchterkrankungen, Depressionen oder Burnouts. Viele Betroffene, die nicht über ihre Diagnose Bescheid wissen, versuchen, ihre Defizite zu kompensieren oder zu überspielen, sagt Frey. «Das raubt unglaublich viel Energie.»
Im Erwachsenenalter sei es umso wichtiger festzustellen, ob eine Person Konzentrationsstörungen aufgrund einer Depression habe – oder infolge einer nicht entdeckten AD(H)S. Für eine erfolgreiche Behandlung sei eine sorgfältige Abklärung aber von enormer Relevanz, so Frey. In Bezug auf die Medikation gebe es keine Geschlechtsunterschiede, wobei bei Frauen gemäss klinischer Erfahrung aber kleinere Dosen oftmals ausreichen. Die Stimulanzien können sich auch positiv auf die Stimmungsschwankungen auswirken.
Nicht nur biologische Geschlechtsunterschiede bei ADHS
Die eher unauffälligeren und unbekannteren AD(H)S-Symptome bei Mädchen und Frauen sind nicht die einzigen Gründe für eine späte Diagnose. Eine Rolle spielt der Psychologin Julia Frey zufolge auch die Sozialisierung. Die gesellschaftlichen Erwartungen, die an Mädchen gestellt werden, sind nach wie vor nicht die gleichen wie jene, die an Jungen gestellt werden.
Aufgrund der gesellschaftlichen Normen neigen Mädchen und Frauen unbewusst eher zu einem dysfunktionalen Bewältigungsmechanismus, um den gesellschaftlichen Normen zu entsprechen. Zudem tendieren Mädchen und Frauen dazu, ihr Leiden zu verbergen und die Verantwortung für ihre Probleme erst bei sich selbst zu suchen – anstatt sich gleich Unterstützung zu holen, so Frey. Dafür bezahlen sie aber einen hohen Preis.