Mit 21 Jahren begann Jeanne Calment zu rauchen – und hörte erst 98 Jahre später damit auf. Genuss wog für die Französin schwerer als ärztlicher Rat. Doch das Leben gab ihr recht: Mit 122 Jahren und 164 Tagen hält sie bis heute den Weltrekord als ältester Mensch der Geschichte. Fälle wie diese mögen erstaunen – und sorgen für Diskussionen über die Frage, wie viel Einfluss Gene und Lebensstil auf ein hohes Alter haben.
«Wir alle kennen die eine Person, die ihr Leben lang geraucht und getrunken hat und trotzdem uralt geworden ist», sagt Björn Schumacher, Gerontologe und Professor für Genomstabilität in Alter und Krankheit an der Universität zu Köln. «Und das sogar bei erstaunlich guter Gesundheit.» Doch solche Menschen seien die grosse Ausnahme, er zumindest würde sich nicht darauf verlassen, zu dieser ausgewählten Gruppe zu gehören. Die Wissenschaft spricht in diesem Zusammenhang von «Survivorship Bias» – der Verzerrung durch die Überlebenden. Die Geschichten all jener, die mit ähnlich ungesundem Lebensstil früh starben, bleiben derweil aussen vor.
Dennoch sind Menschen wie Jeanne Calment für die Forschung von unschätzbarem Wert. Offenbar besitzen sie eine genetische Robustheit, die sie gegen viele der normalen Risikofaktoren des Alterns schützt. «Was aber genau zu solch aussergewöhnlicher Langlebigkeit beiträgt, versteht man noch schlecht», sagt Schumacher.
Sicher ist, dass es ein Zusammenspiel von Genetik und Lebensstil gibt. Daten der New England Centenarian Study (NECS), der weltweit grössten Langzeitstudie von Hundertjährigen und ihren Verwandten, legen nahe, dass die genetische Komponente mit zunehmendem Alter immer wichtiger wird. Ob man 90 Jahre alt wird, hängt demnach vor allem vom Lebensstil ab. Alles in Massen zu tun, scheint hier der Schlüssel zu sein: sich nicht überessen, nur wenig Alkohol trinken, Bewegung ja, aber nicht übertrieben viel. Auch Jeanne Calment befolgte diese Regel: Sie rauchte nie stark, meist weniger als zwei Zigaretten pro Tag.
Je näher man aber an die 100 Jahre rückt, desto dünner wird die Luft. Der Lebensstil wird unwichtiger, der Anteil der genetischen Komponente grösser.
Studien haben interessanterweise jedoch gezeigt, dass die meisten Hundertjährigen genauso viele genetische Varianten tragen, die mit einem erhöhten Risiko für altersbedingte Krankheiten wie Alzheimer, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs einhergehen, wie die Allgemeinbevölkerung. Der entscheidende Unterschied könnte in einem besseren Schutz vor den schädlichen Auswirkungen dieser Gene liegen, wie Tom Perls, Leiter der NEC-Studie, und sein Team in einer Studie im Fachblatt «Plos One» berichtet haben.
Klar ist, dass es nicht bloss das eine Langlebigkeits-Gen gibt. Vielmehr ist es ein komplexes Zusammenspiel von mindestens 130 Genen, die involviert sind. Die richtigen Gene zu haben, sagte Perls kürzlich zur «New York Times», sei wie ein Lottogewinn.
Ein zentraler Faktor des Alterns ist die Anfälligkeit für Schäden der DNA: «Jeden Tag entstehen in unseren Körperzellen Zehntausende von DNA-Schäden, die repariert werden müssen», erklärt Schumacher. Diese Schäden können durch Umwelteinflüsse wie UV-Strahlung, durch ungesunde Gewohnheiten wie Rauchen oder durch normale Stoffwechselprozesse ausgelöst werden. Bei jungen Menschen funktioniert die DNA-Reparatur noch gut. Doch mit zunehmendem Alter lassen diese Mechanismen nach, und die Schäden summieren sich zu den typischen Alterskrankheiten.
Schumachers Forschung hat einen Proteinkomplex namens DREAM ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt (die Buchstaben stehen für die Bestandteile des Komplexes): Dimerization Partner, RB-like, E2F und MuvB.) Der DREAM-Komplex wirkt wie eine Art Schalter, der die Zellteilung kontrolliert und in manchen Fällen verhindert, dass DNA-Schäden effektiv repariert werden.
In Experimenten mit menschlichen Zellen, Mäusen und Fadenwürmern zeigte Schumachers Team, dass der DREAM-Komplex eine zentrale Rolle dabei spielt, wie Zellen auf DNA-Schäden reagieren. Noch spannender: Es gelang den Forschenden, den Komplex mit zwei pharmakologischen Wirkstoffen ausser Kraft zu setzen. Das Ergebnis: Die Zellen wurden widerstandsfähiger gegen DNA-Schäden.
Schumacher kann sich durchaus vorstellen, dass Menschen wie Jeanne Calment womöglich genetische Varianten besitzen, die den DREAM-Komplex auf natürliche Weise hemmen. «Das wäre eine denkbare Erklärung dafür, warum sie so alt werden konnte, ohne schwer an altersbedingten Krankheiten zu leiden.»
Langfristig könnte das Wissen um den DREAM-Komplex zu ganz neuen Therapien führen. Schumachers Vision ist es, ein Molekül zu entwickeln, das den Komplex gezielt ausschalten und so altersbedingten Krankheiten vorbeugen kann. Eine Pille, die den Alterungsprozess verlangsamt oder sogar stoppt? «Noch stehen wir ganz am Anfang», betont er. «Aber ich glaube, dass wir damit auf dem Weg in die Zukunft der Präventionsmedizin sind.»
Daniela Jopp ist Professorin für Psychologie an der Universität Lausanne. Mit SWISS100 hat sie die erste landesweite Studie über die 100-Jährigen der Schweiz ins Leben gerufen – und mit Dutzenden von ihnen gesprochen. «Das sind Menschen mit einer aussergewöhnlich starken Persönlichkeit», sagt Jopp.
Man vermutet, dass bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, die gemäss Zwillingsstudien zwischen 30 und 60 Prozent vererbbar sind, ein langes und gesundes Leben begünstigen. Zum Beispiel geniessen extrovertierte Personen den sozialen Austausch, und gewissenhafte Personen kümmern sich eher um ihre Gesundheit. Das sind Verhaltensweisen, die gutes Altern unterstützen.
Jopp betont aber, dass es nicht nur die Gene, sondern unbestritten auch das Leben war, das den besonderen Charakter der Hundertjährigen formte. «Auffällig ist, dass sie alle ganz schön was zu knabbern hatten im Leben.» Schicksalsschläge wie schwierige Situationen im Elternhaus oder der Verlust eines Kindes hätten ihre Persönlichkeit geprägt.
Eine weitere Eigenschaft, die Hundertjährige teilen, ist, dass sie ihr Leben als sinnhaft empfinden: «Sie alle haben etwas, wofür sie brennen», sagt Jopp. Auf der japanischen Insel Okinawa, einer der sogenannten «Blauen Zonen», wo ungewöhnlich viele Menschen gesund 100 Jahre alt werden, nennt man dies Ikigai – frei übersetzt: das, wofür es sich zu leben lohnt.
Natürlich gebe es auch unter den Schweizer Hundertjährigen solche, die finden, sie hätten jetzt lange genug gelebt. Doch erstaunlich viele seien positiv gestimmt, schätzten ihre sozialen Beziehungen und freuten sich auf das, was noch komme – sei es der nächste Besuch der Enkel, ein Buch, das sie unbedingt lesen möchten, oder ein Pullover, den sie stricken wollen.
Ein weiterer Schlüssel zum Glück im Alter sei die Fähigkeit, Verluste zu akzeptieren. «Alle der Hundertjährigen haben jemanden verloren», so Jopp. «Doch sie beissen sich nicht daran fest und versuchen auch nicht verzweifelt, Ersatz zu finden.» Stattdessen zehrten sie dankbar von schönen Erinnerungen. Auch die Fähigkeit zur Umdeutung zähle zu ihren Stärken: «Statt zu klagen, dass sie an mehreren Krankheiten leiden, sagen sie: Mir geht es blendend, ich könnte längst tot sein.»
Schliesslich beobachtet Jopp ein hohes Mass an Selbstbestimmtheit und Selbstwirksamkeit – also die Überzeugung, das eigene Leben aus eigener Kraft gestalten zu können. «Dieses Gefühl, nicht von anderen abhängig sein zu wollen, ist besonders stark», sagt Jopp.
Besonders beeindruckt habe sie die Geschichte einer 104-jährigen Frau, die durch einen Sturz pflegebedürftig wurde und sich entschloss, mit Exit freiwillig aus dem Leben zu scheiden. «Zuerst dachte ich: Was sind wir für eine Gesellschaft, in der selbst eine 104-Jährige sich als Last empfindet», erzählt Jopp. Doch dann wurde ihr klar: Die Frau habe sich entschieden, so zu sterben, wie sie gelebt habe – selbstbestimmt und unabhängig.
Auch Jeanne Calment zeichnete sich durch einen starken Eigenwillen aus. Dass sie das Rauchen schliesslich aufgab, hatte nämlich rein praktische Gründe – keine gesundheitlichen: Ihre nachlassende Sehkraft machte sie abhängig von anderen, um die Zigarette anzuzünden. Doch Abhängigkeit war etwas, das sie nie akzeptieren konnte. (bzbasel.ch)