Eigentlich erkennt man die Zeuginnen und Zeugen Jehovas an ihrer Kleidung. Sie tragen zwar keine Uniform, befolgen aber gewisse Regeln. Nicht zu aufreizend, nicht zu viel Haut darf es sein. Trotzdem müssen sich «Frauen wie Frauen und Männer wie Männer» anziehen, wie die Zeugen Jehovas selbst auf ihrer Website schreiben.
In Zürich gelten ein bisschen andere Regeln. Der dreitägige Sonderkongress im Stadion Letzigrund, an dem zurzeit 15'000 Gläubige teilnehmen, gilt inoffiziell auch als «Partnerbörse». Ein Zeuge Jehovas darf schliesslich nur eine ebenfalls getaufte Zeugin Jehovas heiraten.
Die Zeuginnen Jehovas haben sich deshalb herausgeputzt. Pilgern am Freitagmorgen in hohen Schuhen ins Stadion. Tragen Lippenstift, Eyeliner, elegante Kleider, die nicht nur Fussknöchel und nackte Schultern zeigen, sondern auch Waden. In seltenen Fällen gar ein wenig Oberschenkel.
Auch die Männer zeigen sich von ihrer besten Seite. Sie tragen lange Hosen, nicht selten Anzugshosen, dazu säuberlich gebügelte Hemden, Krawatten, Fliegen, Hüte, manchmal auch ein Jackett. Trotz 30 Grad im Schatten.
An ihren Kleidern haben alle Zeuginnen und Zeugen Jehovas ein Schild geheftet. In grossen Buchstaben ist darauf das Motto des diesjährigen Kongresses abgedruckt: «Macht die gute Botschaft bekannt.» Darunter haben die Besucherinnen und Besucher mit Kugelschreiber ihren Namen sowie ihre Herkunft aufgeschrieben. Aarau, Biel, Zürich, Genf steht darauf. Aber auch: Deutschland, Österreich, Italien, England, Indien, Australien, USA, Kanada.
Es ist ein internationaler Kongress, der hier stattfindet. Der nur alle paar Jahre stattfindet. Und den die Zeugen Jehovas auf ihrer Website wie folgt beschreiben: «Ein grosser Gottesdienst von Jehovas Zeugen, bei dem man Gott anbetet und auf die Bibel gestützte Anleitung erhält.» Der Besuch sei kostenfrei. Und: «Es werden keine Geldsammlungen durchgeführt.»
Trotzdem ist etwas vom Ersten, das die Zeuginnen und Zeugen Jehovas beim Betreten des Stadions begrüsst, ein blaues Schild. «Donations», steht darauf. Spenden. Freiwillige Spenden, selbstverständlich.
Die Zeugen Jehovas grenzen sich bewusst von der grossen Kirche ab, indem sie darauf pochen, dass jede Spende freiwillig zu ihnen gelangt. Aussteigerinnen und Aussteiger haben aber bereits mehrfach berichtet, dass innerhalb der Glaubensgemeinschaft Druck aufgebaut wird, damit die Mitglieder häufig und viel spenden.
Um 9.20 Uhr eröffnet der Kongress mit einem Lied zu Ehren Jehovas. Das ganze Stadion steht auf, verschränkt Finger vor dem Bauch, singt Zeilen, die über die Leinwände ziehen, voller Inbrunst. Dann setzen sich alle wieder.
Der erste Redner tritt vor die Menge. Der Applaus der Zeuginnen und Zeugen Jehovas beginnt sicher und synchron und endet ebenso synchron. Fast schon abrupt. Das Klatschen wirkt wie sorgfältig einstudiert. Auswendig gelernt. Gehorsam.
«Habt ihr heute schon eine Zeitung gelesen?», fragt der erste Redner ins Publikum, ohne eine Antwort zu erwarten. Für die Antworten ist schliesslich nicht das Publikum zuständig, sondern er: «Ich kann es euch nicht empfehlen.»
Er liest allerlei schlechte Nachrichten aus einer gedruckten Zeitung vor: Unfälle, Krankheiten, Mord, Totschlag. Darum brauche es die gute Botschaft Jehovas:
In diesen drei Tagen würde es nur gute Botschaften geben. Das sei wie «Wellness für den Geist», sagt der Redner und gibt das erste praktische Beispiel, wie die Mitglieder nach dem Kongress das Motto der Veranstaltung in die Realität umsetzen können:
Blick ins Publikum. Viele haben ein Notizbuch, ein Tablet oder gar den Laptop auf dem Schoss und machen sich Notizen. Oder sind damit beschäftigt, ihre unruhigen, gelangweilten Kinder zu besänftigen.
Es folgt «das Highlight des ganzen Kongresses», kündigt der Redner an. Was er meint: Die Premiere der ersten Folge der mehrteiligen Verfilmung des Lebens Jesus’. Produziert von den Zeugen Jehovas. 1000 Minuten soll die gesamte Serie dauern.
Sie beginnt – natürlich – mit Adam und Eva. Einem sexy Adam. Er sieht aus, als wäre er direkt einer «Head & Shoulders»-Werbung entsprungen. Volles, braunes Haar, markantes Kinn, ein gut gestutzter Bart, ein geheimnisvoller, dunkler Blick.
Fast schon anzüglich beisst er in den Apfel, den ihm die – ebenfalls konventionell schöne – Eva übergibt. Dramatische Musik. Dunkelheit. Dann erscheint wie in einem Hollywood-Streifen in goldener Schrift der Titel der Serie: «Die gute Botschaft von Jesus»
Eines wird beim Schauen klar: Hier wurde ordentlich Geld reingesteckt. Technisch ist die Serie auf demselben Niveau wie grosse Netflix-Produktionen. Inhaltlich … nicht.
Die Charaktere sprechen langsam und nur in kurzen, klaren Sätzen. Maria etwa sagt: «Hier bin ich. Jehovas’ Sklavin.» Oder: «Glücklich ist die Frau, die geglaubt hat. Denn es wird sich ausnahmslos alles erfüllen, was Jehova gesagt hat.»
Der Bildfokus liegt durchgehend auf den erstaunten, glücklichen und ehrfürchtigen Gesichtern der Protagonistinnen und Protagonisten. Etwa, als diese Jehovas’ Engel begegnen, Gabriel. Auch er ist konventionell attraktiv. In einer weissen Robe, umgeben von goldenem Licht, erscheint auf der Leinwand ein Mann mit schneeweissen, vollem Haar und Bart, eisblauen Augen, gesund gebräunter Haut, sympathischen Fältchen im Gesicht.
Begleitet wird das Ganze durchgehend von dramatischer Musik und einer ruhigen, langsam sprechenden Männerstimme. Sie erklärt alles, was man ohnehin schon auf der Leinwand sieht. Sagt etwa: «Als Maria in den Raum trat, machte das Baby in Elisabeths Bauch vor Freude einen Sprung.» Nur damit wenige Sekunden später die Protagonistin nochmals selbst zu Maria sagen kann: «Als du in den Raum tratst, machte das Baby in meinem Bauch vor Freude einen Sprung.»
Eine geschlagene halbe Stunde dauert die Vorführung. Es ist erst die Hälfte der ersten Folge der Serie. Die zweite Hälfte folgt am Nachmittag.
Nach der Vorstellung wollen verschiedene Redner «Beweise» liefern. Dafür, dass die Botschaft Jehovas stimmt. Dass ihre Evangelien «die Wahrheit» verkünden. Diese Beweise klingen dann so:
Zum Glück ist es heiss und grell. So können sich einige Mitglieder auf der Tribüne hinter Sonnenbrille und Hut verstecken und einschlafen. Den Rücken behalten sie dabei gestreckt. Als hätten sie bereits Übung.
Die Uhr hat längst zwölf geschlagen. Mittagszeit. Doch die Reden gehen weiter. Ohne Pause. Bis ein Redner mit einem kleinen Holzhammer in der Luft herumfuchtelt und ruft: «Wir können Jehova vertrauen!» Dann haut er mit dem Hammer auf das Rednerpult. «Case closed!»
Als Nicht-Gläubige meint man, das wäre ein Witz gewesen und will lachen. Aber niemand lacht. Stattdessen klatschen die Zeuginnen und Zeugen Jehovas im Publikum ihren gehorsamen Applaus und erheben sie sich zum abschliessenden, gemeinsamen Lied über ihren Gott, Jehova. Dann ist Mittag. Endlich.
Wurden die anderen 5000 von Raumschiffen abgeholt?