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Sexuelle und körperliche Übergriffe in den Familien der Zeugen Jehovas

Unter dem Motto "Bleibt Jehova nahe" nehmen gegen 8000 Glaeubige, unter ihnen zahlreiche Familien mit Kindern, am Sommerkongress teil, am Samstag, 24. Juli 2010, im Zuercher Hallenstadion. ( ...
Die Befragten gehörten vor ihrem Ausstieg oder Ausschluss im Durchschnitt 30 Jahre lang zu den Zeugen Jehovas. Bild: KEYSTONE
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Sexuelle Übergriffe und körperliche Misshandlungen in den Familien der Zeugen Jehovas

Eine Studie der Universität Zürich zeichnet ein düsteres Bild von der Endzeitsekte und zeigt, dass Ausgestiegene und Ausgeschlossene noch jahrelang unter dem Stigma leiden.
29.06.2024, 08:1229.06.2024, 17:01

Die Zeugen Jehovas gehören zu den radikalsten christlichen Freikirchen oder Gemeinschaften. Trotzdem nimmt die Öffentlichkeit sie meist anders wahr. Früher ärgerten sich viele Leute, weil die superfrommen und bieder gekleideten Gläubigen oft an die Türe klopften und von Gott und der Bibel predigten.

Insgesamt wurden sie aber meist als harmlose Stündeler mit einem missionarischen Eifer betrachtet. Den vergleichsweise guten Ruf verdanken die Zeugen Jehovas ihrer christlichen DNA. Frei nach dem Motto: Wenn christlich draufsteht, ist auch Nächstenliebe und Barmherzigkeit drin. Von wegen!

In den letzten Jahren wagten sich immer mehr Aussteiger und Ausgeschlossene an die Öffentlichkeit und gaben einen Einblick in das Innenleben der Zeugen Jehovas. Sie erzählten Horrorgeschichten, die unter die Haut gingen. Die Gläubigen verteidigten sich jeweils mit dem Argument, die Aussteiger würden aus Enttäuschung ihre Kritik zuspitzen und ein verzerrtes Bild vermitteln.

Einmal mehr: Von wegen!

Denn eine wissenschaftliche Studie der Universität Zürich bestätigt die Schilderungen der Aussteiger. Sie hält den Zeugen Jehovas einen Spiegel vor, der das Fundament der Freikirche erschüttern müsste. Doch das wird kaum geschehen, denn es gehört zum Merkmal von sektenhaften Gemeinschaften, Kritik zu verdrängen und als Werk des Satans zu interpretieren. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Die Studie stützt sich auf die Erfahrungen von 424 ehemaligen Zeugen Jehovas vorwiegend aus Österreich, Deutschland und der Schweiz ab. Allein schon diese grosse Zahl muss hellhörig machen. Denn nur eine kleine Minderheit wagt sich, öffentlich Kritik zu üben.

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Die Befragten gehörten vor ihrem Ausstieg oder Ausschluss im Durchschnitt 30 Jahre lang zu den Zeugen Jehovas. Die Hälfte verliess die Freikirche freiwillig, 21 Prozent wurden ausgeschlossen und 31 Prozent kehrten ihr den Rücken, weil sie von Kindesmisshandlung im Rahmen der Zeugen Jehovas erfahren hatten.

Laut der Studie erlebten 34 Prozent der Befragten als Kinder in ihrer Familie körperliche und 65 Prozent emotionale Misshandlungen. 18 Prozent berichteten von sexuellem Missbrauch. Das ist dreimal so viel wie im Durchschnitt in der Bevölkerung.

Kind Missbrauch
Auch bei den Zeugen Jehovas wurden viele Missbräuche unter den Teppich gekehrt.Bild: Shutterstock

Eine Untersuchung staatlicher Stellen in Australien, die zu mehreren Prozessen führte, dokumentierte das tragische Ausmass der sexuellen Übergriffe ebenfalls. Wie in der katholischen Kirche wurden auch bei den Zeugen Jehovas viele Missbräuche unter den Teppich gekehrt.

Es hatte auch mit dem Umstand zu tun, dass zumindest damals die Opfer sexueller Übergriffe Zeugen für die Vergewaltigung oder Übergriffe aufbringen mussten. Nur dann gab es Sanktionen. Ein Hohn, machen die Täter doch alles, um das Verbrechen im Geheimen durchführen zu können. Die Führungskräfte der Zeugen Jehovas behaupten heute, diese Zwei-Zeugen-Regel gelte nicht mehr. Aussteiger widersprechen allerdings.

Nach dem Ausstieg geächtet

Viele Zeugen Jehovas werden nach ihrem Ausstieg geächtet. Nicht nur von den Glaubensschwestern und -brüdern, sondern auch von den eigenen Familien. 77 Prozent der Befragten gaben an, sie seien von einem verordneten Kontaktabbruch betroffen worden. Das heisst: Enge Angehörige wie Eltern oder Kinder wollten nichts mehr wissen von den Aussteigern. Sie werden denn auch angehalten, sich von den Abtrünnigen zu distanzieren. Deshalb überrascht es nicht, dass ein Drittel der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer von Suizidgedanken verfolgt wurden und zehn Prozent einen Suizidversuch unternahmen.

Bei den radikalen Dogmen und Verhaltensweisen überrascht es nicht, dass die Zeugen Jehovas ihr Leben auf ihren Glauben und ihre Gemeinschaft ausrichten. 75 Prozent der Aussteiger gaben an, während der Mitgliedschaft kaum oder keinen Kontakt zu Aussenstehenden gepflegt zu haben. Es hatte auch damit zu tun, dass sie durchschnittlich 15,8 Stunden pro Woche für ihr religiöses Engagement aufwendeten, vor allem für den Predigerdienst, wie die Freikirche die Missionstätigkeit bezeichnet. 70 Prozent der Befragten gaben an, nicht genügend Zeit für Arbeit, Familie oder Freizeit gehabt zu haben.

Die Führungsgremien der Zeugen Jehovas verfahren oft gnadenlos mit Gläubigen, die die strengen Verhaltensnormen verletzen. Wenn sie nicht Reue zeigen, droht ihnen der Ausschluss. Für viele ist dies ein Drama, denn die Endzeitgemeinschaft verkündet, dass nur stramme Zeugen Jehovas am Jüngsten Tag zu den Erretteten gehören werden. Da die Glaubensgemeinschaft schon mehrfach das Ende der Welt vorausgesagt hat, sind die Gläubigen überzeugt, dass Jesus bald wiederkehren wird. Viele Ausgestossene befürchten deshalb, in der Verdammnis zu enden.

In Deutschland wehrte sich ein Betroffener durch mehrere Gerichtsinstanzen gegen seinen Ausschluss. Dies war möglich, weil die Zeugen Jehovas in Deutschland seit 2017 als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt und die örtlichen Versammlungen als Vereine organisiert sind. Die Gerichte kamen zum Schluss, dass Vereine einzelne Mitglieder ausschliessen dürfen. Seither leidet der Ausgeschlossene erst recht unter Endzeitängsten.

Doch zurück zur Studie. Die Aussteigerinnen und Ausgeschlossenen leiden meist noch jahrelang unter dem Stigma. Viele kämpfen mit chronischen Krankheiten, nämlich 40 Prozent häufiger als der Durchschnitt der Bevölkerung. Ähnlich verhält es sich bei den psychischen Erkrankungen.

Der Verein JZ Help, der Sektenopfer unterstützt und Aufklärungsarbeit betreibt, schreibt zur Studie: «Die alarmierenden Ergebnisse der Studie decken sich mit den Berichten von Ausgestiegenen. Diese zeigen, dass verordneter Kontaktabbruch Beziehungen und Familien zerstört und Menschen krank macht. Die Studie macht ausserdem deutlich, welch extremer Gewalt Kinder und Jugendliche bei den Zeugen Jehovas ausgesetzt sind. Die Studienergebnisse sind ein Appell an Gesellschaft und Politik, gegen verordneten Kontaktabbruch vorzugehen und Kinder in vereinnahmenden Gemeinschaften besser zu schützen.»

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Hugo Stamm
Glaube, Gott oder Gesundbeter – nichts ist ihm heilig: Religions-Blogger und Sekten-Kenner Hugo Stamm befasst sich seit den Siebzigerjahren mit neureligiösen Bewegungen, Sekten, Esoterik, Okkultismus und Scharlatanerie. Er hält Vorträge, schreibt Bücher und berät Betroffene.
Mit seinem Blog bedient Hugo Stamm seit Jahren eine treue Leserschaft mit seinen kritischen Gedanken zu Religion und Seelenfängerei.

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530 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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CISG
29.06.2024 09:49registriert Oktober 2023
PS: Dieser tief verankerte Teufelsglaube kann man sich natürlich zu Nutze machen, wenn man sie loswerden will.

Zwei biedere ältere Damen mit ihren grünen Bibeln klingeln mehrmals. Es nervte. Ich Fiesling liess sie mal rein. An der Wand unser Hochzeitsfoto von zwei Männern. Ich stellte ihn kurz vor und küsste ihn darauf innig. Die beiden schrien plötzlich laut der Teufel möge von ihnen weichen und stürmten aus der Wohnung…
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mMn
29.06.2024 09:44registriert September 2020
Es gibt in der Welt KEINE gute Sekte. Ideologien sind unmöglich so auszugestalten, dass sie in jeder Situation gut sind. Dementsprechend sind Gruppen, die blind einer Ideologie nacheifern entsprechend in in diesen Teilen auf dem Holzweg. Das gilt für die FDP bei der Marktwirtschaft wie bei den ZJ mit der Bibel bzw. deren Interpretation.
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MALUS
29.06.2024 10:40registriert Januar 2021
Ich finde der Staat sollte wenigstens grosszügig in die Religionsprävention, Opferberatung, Kinderschutz, Infosekta, etc. investieren. Dann müssen sich Politiker und Behörden nicht selber gegen die Sekten exponieren. Ihrer Furcht vor Unannehmlichkeiten, durch die Sekten verursacht, wäre damit Rechnung getragen.

Eine Möglichkeit zur Finanzierung wäre zum Beispiel gegeben, wenn juristische Personen auswählen könnten ob ihre Kirchensteuern den Religionsspreadern oder den Opfern von Religion zugute kommen soll.
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Blinddate mit Gen-Z-Girl
Meine Freunde haben mich schon mehrmals verkuppeln wollen. Diesmal habe ich zu ihrem Vorschlag Ja gesagt.
Eine Freundin von Hanna fand, ich müsse ihre Freundin kennenlernen. Sie schickte mir ihr Insta-Profil, ich hoffte auf ein paar gute Fotos, aber nein, darin waren nur Sprüche und Tarot-Karten und Bilder mit ewig langen Captions darunter, in denen die Generation nach mir, die Gen Z, erklärt wurde. Irgendwie dachte ich, Gen-Z-Kids seien viel jünger, aber die ältesten sind dreissig, auch das Girl, das ich treffen sollte, war dreissig und dreissig ist okay.
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