Am Dienstagabend werden in der Champions League die ersten beiden Viertelfinalisten dieser Saison ermittelt. Sehr gute Karten hat Atalanta Bergamo. Die Norditaliener steigen mit einem 4:1-Polster ins Rückspiel gegen Valencia.
Sollte es Atalanta tatsächlich in den Viertelfinal schaffen, wäre dies der neue Höhepunkt einer erstaunlichen Geschichte. Die «Dea» – die «Göttin», hat einen erstaunlichen Steigerungslauf in den letzten Jahren hinter sich. In der Saison 14/15 entgingen die Lombarden nur knapp dem Abstieg, fünf Jahre später gehören sie womöglich zu den besten acht Teams in Europa.
Wie konnte aus einem höchstens mittelmässigen Serie-A-Team ohne besonderes viel Geld plötzlich ein italienisches Spitzenteam werden? Vor allem die folgenden drei Faktoren sind dabei entscheidend.
Das Klischee des «Catenaccio» – des ultra-defensiven Spielstils – ist bei vielen Fans, die sich wenig mit dem italienischen Fussball auseinandersetzen, noch immer präsent. Früher spielten Serie-A-Mannschaften und auch die Nationalmannschaft meist äusserst defensiv, auch heute gilt für viele italienische Trainer noch «safety first».
Nicht so Atalanta Bergamo. Die Norditaliener spielen einen schnellen und dynamischen Offensivfussball, der nicht nur attraktiv anzusehen, sondern auch äusserst erfolgreich ist. In dieser Saison hat Atalanta in 25 Liga-Partien schon 70 Tore erzielt, damit stellt man die mit Abstand stärkste Offensive der Serie A.
Noch beeindruckender ist die Auswärts-Bilanz: Mit 37 Treffern in 13 Spielen hat Atalanta die beste Ausbeute aller Teams in den europäischen Top-Ligen. Damit ist die «Dea» auch für Topteams ein unangenehmer Gegner geworden. Oder wie City-Trainer Pep Guardiola vor dem Spiel gegen die Italiener sagte: «Zu Atalanta zu kommen, ist wie ein Besuch beim Zahnarzt.»
37 - #Atalanta have netted the most goals on the road (37) in the Top-5 European Leagues this season. Dea. pic.twitter.com/WU8hJM0y3L
— OptaPaolo (@OptaPaolo) March 2, 2020
Bei Atalanta fällt sofort auf, wie offensiv das gesamte Team ausgerichtet ist. Besonders beeindruckend ist in dieser Saison die Bilanz von Robin Gosens. Der gelernte Aussenverteidiger, der im Mittelfeld von Atalantas 3-4-1-2 links aussen spielt und auch defensiv folglich viel arbeiten muss, hat in dieser Saison schon sieben Tore erzielt – ein Spitzenwert für einen Verteidiger in einer europäischen Top-Liga.
Dass Gosens und sein Pendant auf rechts, Hans Hateboer, immer wieder vor dem gegnerischen Tor für Gefahr sorgen, ist fest ins Spielsystem eingeplant. So lassen sich die Mittelstürmer gerne mal auf den Flügel fallen, um die Verteidiger mitzuziehen und Gosens oder Hateboer so den Weg für eine Offensivaktion zu eröffnen.
Absolute Schlüsselrollen in der Atalanta-Offensive nehmen zudem das Duo Alejandro Gomez und Josip Ilicic ein. Der Argentinier und der Slowene sind auf dem Papier normalerweise als Zehner und Stürmer aufgestellt, geniessen aber im System von Trainer Gian Piero Gasperini viel künstlerische Freiheit.
So mögen es die beiden Edeltechniker, sich bis auf die Sechser-Position zurückfallen zu lassen und von dort aus Offensiv-Aktionen zu starten. Der jeweils andere des Duos läuft dann in die Spitze, um seinem Teamkollegen gleich eine Anspielmöglichkeit zu bieten. Durch diese Rochaden bekommt Atalanta nicht nur einen technisch starken Playmaker, auch die gegnerischen Defensiven werden zusätzlich gefordert, da der direkte Gegenspieler von Aktion zu Aktion wechselt.
In der heutigen Zeit werfen die meisten Topteams nur so mit Geld um sich, um sich einen Superstar oder ein mögliches Juwel zu sichern. Nicht so Atalanta. Obwohl die Lombarden immer wieder Spieler zu relativen hohen Preisen verkaufen können, verzichten sie auf kostspielige Neuzugänge.
Der bisher teuerste Spieler der Vereinsgeschichte ist Luis Muriel, der in diesem Sommer für 15 Millionen aus Sevilla verpflichtet wurde. Überhaupt hat Atalanta erst sechs Mal Ablösesummen im zweistelligen Bereich bezahlt. Stattdessen haben die Bergamasken einen geschickten Weg gefunden, um möglichst günstig geeignete Spieler zu verpflichten.
Dafür setzt Atalanta auf eine in Italien äusserst beliebte Transfer-Methode: die Leihe mit Kaufoption. Spieler werden vorerst leihweise, also äusserst günstig, nach Bergamo geholt. Wenn die Leistung dann stimmt, kann man sie fest verpflichten. Prominenteste Beispiele derzeit sind Mattia Caldara (von Milan) und Mario Pasalic (von Chelsea), welche sich für eine langfristige Verpflichtung aufdringen wollen. Aber auch etwa Duvan Zapata oder Pierluigi Gollini, welche mittlerweile fest übernommen wurden, wechselten einst mit dieser Formel zu Atalanta.
Und was, wenn ein Spieler nicht überzeugt? Dann kann dieser den Verein fast ohne finanziellen Verlust wieder verlassen, wie etwa in dieser Saison Simon Kjaer oder Guilherme Arana.
Zusätzlich verfügt Atalanta offensichtlich über ein ausgezeichnetes Scouting-Netzwek. Immer wieder werden Spieler zu absoluten Low-Cost-Preisen verpflichtet, welche sind dann oft als Glücksgriff entpuppen. Für die Stamm-Innenverteidigung um Rafael Toloi, José Palomino und
der ehemaligen FCZ-Spieler Berat Djimsiti gab man nicht mal 10 Millionen Euro aus. Die beiden heutigen Offensiv-Stars Josip Ilicic und Alejandro «Papu» Gomez kosteten etwas mehr als 10 Millionen.
Eine der berühmtesten altgriechischen Sagen ist diejenige des König Midas. Ihm wurde die Gabe gewährt, dass alles, was er berührt, zu Gold wird.
Ähnliches scheint Atalanta-Trainer Gian Piero Gasperini derzeit zu gelingen. Immer wieder schafft er es, aus jungen oder formschwachen Spielern Leistungsträger für seine Mannschaft zu fertigen. In den italienischen Medien hat sich deswegen mittlerweile der Begriff «Cura Gasperini», also «Gasperini-Kur», etabliert.
Bekanntestes Beispiel dafür aus Schweizer Sicht ist Remo Freuler. Der Ex-Luzerner wechselte vor gut vier Jahren als solider Super-League-Spieler nach Bergamo, wo er zum Nationalspieler gereift ist – auch dank «Gasp», wie der Mittelfeldspieler gegenüber «nau.ch» erklärte: «Er fordert uns im Training alles ab. Seine Einheiten sind hart, aber er bringt jeden weiter.»
Die Liste kann aber noch lange weitergeführt werden: Der heutige Stamm-Verteidiger Berat Djimsiti wurde einst vom FC Zürich abgeschoben und spielte lange in der Serie B. Mario Pasalic schaffte bei Chelsea nie den Sprung ins Team. Und Josip Ilicic, momentan mit 15 Toren und acht Assists zusammen mit Cristiano Ronaldo zweitbester Skorer der Serie A, schaffte es zwischen 2013 und 2017 nie ganz, sich bei der Fiorentina einen Stammplatz zu sichern.
Die Midas-Sage hat allerdings auch eine Schattenseite: Auch Essen und Trinken wurden zu Gold, weshalb der König riskierte, zu verdursten. Deshalb bat er die Götter wieder, die Gabe zurückzunehmen.
Und auch die Gabe der «Cura Gasperini» scheint nicht dauerhaft zu sein. Immer wieder scheiterten einstige Atalanta-Shootingstars, nachdem sie Gasperini verlassen hatten. Roberto Gagliardini setzte sich bei Inter nie richtig durch, Franck Kessié und Bryan Cristante bauten bei Milan und Roma etwas ab und liegen mit ihrem Team in dieser Saison beide hinter Atalanta.
Am heftigsten erwischte es Mattia Caldara, einst Abwehrchef bei den Norditalienern. Der Innenverteidiger galt als grösstes italienisches Defensiv-Talent und wechselte via Juventus Turin zur AC Milan. Dort hatte er aber derartiges Verletzungspech, dass er in eineinhalb Saisons nur auf zwei Pflichtspiel-Einsätze kam. In diesem Winter kehrte Caldara wieder nach Bergamo zurück. Wohl in der Hoffnung, noch ein zweites Mal die «Cura Gasperini» zu erleben.
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Erbärmlich...