FC Liverpool gegen Real Madrid – der Champions-League-Final am Samstagabend in Paris (21.00 Uhr, live auf 3+) verspricht Spannung. Wenn der englische Vizemeister auf den spanischen Meister trifft, begegnen sich wohl zwei Teams auf Augenhöhe. Für die Buchmacher ist Liverpool der Favorit.
Wie Jürgen Klopp Liverpool spielen und angreifen lässt, ist kein Geheimnis. Der 54-jährige Deutsche prägt das Gegenpressing, bei dem der Gegner schon in dessen eigener Hälfte unter Druck gesetzt wird.
Weniger bekannt ist ein Detail in Liverpools Defensivarbeit. Es wird interessant zu sehen sein, ob Klopp seine Abwehrspieler auch im Final anweisen wird, Gegner von ausserhalb des Strafraums ruhig einmal schiessen zu lassen. Schliesslich verfügt Real Madrids gefährlichster Mann, Karim Benzema, über einen sehr guten Schuss. Auch einem Luka Modric oder einem Toni Kroos sollte man wohl eher keine freie Schussbahn anbieten.
Oder ist es das Risiko etwa doch wert? Klopp scheint es regelmässig einzugehen. Denn Chris Summersell, einem Trainer, Analytiker und Blogger, ist kürzlich eine Liverpooler Eigenheit aufgefallen: Das Verhalten bei gegnerischen Distanzschüssen.
Der FC Liverpool, so scheint es beim Blick auf die Daten, versucht oft gar nicht, diese Abschlüsse zu blockieren. Jedenfalls teils deutlich weniger als der Rest der Teams in der Premier League. Lieber lässt man den Gegner schiessen und vertraut auf zwei Dinge: Einerseits darauf, dass der xG-Wert eines Distanzschusses nicht sehr hoch ist, andererseits auf die Klasse von Goalie Alisson.
Liverpool stellt dem Gegner mit diesem vermeintlich passivem Verhalten eine Falle. Denn indem einem Spieler aus 20 Metern freie Schussbahn gewährt wird, wird er dazu verleitet, diese Gelegenheit zu nutzen. Liverpool hofft, dass der Gegner «vergisst», dass die Aussicht auf Erfolg von dieser Stelle des Spielfelds aus eher gering ist.
Ein anderer Grund dafür, den Schiessenden nicht anzugreifen: Rückt der Verteidiger vor, öffnet er Räume, die der Gegenspieler vielleicht nutzen kann – durch ein Dribbling oder einen Pass zu einem aufgerückten Mitspieler in den Strafraum. Und dort steigt die Wahrscheinlichkeit, ein Tor zu erzielen. Also lieber den Gegner dazu drängen, sein Glück von ausserhalb zu versuchen.
Dass Virgil van Dijk und Co. sich tendenziell weniger als Verteidiger anderer Teams in einen Schuss werfen oder sich ihm in den Weg stellen, liegt in der Gefahr eines Abfälschers. So gibt man dem Goalie die Chance, den Ball besser zu sehen und nicht durch eine von einer Ferse oder einem Wadenbein veränderte Flugbahn erwischt zu werden. Der ballführende Gegenspieler wird von Liverpools Akteuren eher von hinten oder von der Seite gestört, so dass der eigene Torhüter eine möglichst gute Sicht hat.
Jürgen Klopp versucht durch diese Taktiken, den Zufall ein Stück weit aus dem Spiel zu nehmen. Eine Unvorhersehbarkeit kann nicht nur durch einen Abfälscher, sondern auch durch einen geblockten Schuss entstehen: Niemand kann vor dem Block mit Sicherheit sagen, wo der Ball danach hinspringt. Und hat sich ein Verteidiger in den Schuss geworfen, liegt er womöglich noch auf dem Rasen, wenn der Angreifer zur zweiten Chance gelangt. Besser ist es, auf den Beinen zu bleiben.
Es gibt also eine Menge guter Gründe dafür, dass Liverpool bewusst Abschlüsse zulässt. Falls dann doch einmal ein Distanzschuss im Netz landet, haben die «Reds» die Gewissheit, dass sie im Gegenzug über viel Offensivpower verfügen. 94:26 lautete das Torverhältnis in der abgelaufenen Premier-League-Saison, im Schnitt erzielte Liverpool 2,47 Tore pro Partie. Mohamed Salah, Sadio Mané, Diogo Jota und Co. blieben in der Liga nur ein einziges Mal ohne Treffer, beim 0:1 in Leicester kurz vor Silvester. In 30 der 38 Saisonspielen schoss Liverpool zwei Tore oder mehr.
In der Champions League kam das Team auf den praktisch identischen Wert von 2,5 Toren pro Spiel. Nur ein Mal in zwölf Spielen in der «Königsklasse» haben die Reds weniger als zwei Tore erzielt: Bei der 0:1-Niederlage im Achtelfinal-Rückspiel gegen Inter Mailand. Jener Treffer war ein Distanzschuss von Lautaro Martinez – an einem Abend, an dem Liverpool keine Antwort darauf fand.
Es war wie so oft im Leben: Dass ein Plan jedes Mal funktioniert, gibt es nur beim «A-Team» im Fernsehen.
Klopp muss man einfach mögen. Schon nur wegen der Tasse auf dem Titelbild 😁