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Warum Liverpool unter Klopp den Gegner oft ungehindert schiessen lässt

epa09974774 Liverpool's manager Juergen Klopp drinks from a mug during a press conference held in the Axa Training Centre, Liverpool, Britain, 25 May 2022. Liverpool FC will face Real Madrid CF i ...
Liverpools Trainer Jürgen Klopp an einer Medienkonferenz vor wenigen Tagen.Bild: keystone
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Darum lässt der FC Liverpool den Gegner oft ungehindert schiessen

Im Fussball werden mehr und mehr Daten erhoben. Aus dieser Zahlenflut die richtigen Erkenntnisse zu ziehen, ist die grosse Kunst. Der FC Liverpool hat dabei offenbar etwas entdeckt, was bei näherer Betrachtung sinnvoll scheint.
27.05.2022, 15:41
Ralf Meile
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FC Liverpool gegen Real Madrid – der Champions-League-Final am Samstagabend in Paris (21.00 Uhr, live auf 3+) verspricht Spannung. Wenn der englische Vizemeister auf den spanischen Meister trifft, begegnen sich wohl zwei Teams auf Augenhöhe. Für die Buchmacher ist Liverpool der Favorit.

Wie Jürgen Klopp Liverpool spielen und angreifen lässt, ist kein Geheimnis. Der 54-jährige Deutsche prägt das Gegenpressing, bei dem der Gegner schon in dessen eigener Hälfte unter Druck gesetzt wird.

Weniger bekannt ist ein Detail in Liverpools Defensivarbeit. Es wird interessant zu sehen sein, ob Klopp seine Abwehrspieler auch im Final anweisen wird, Gegner von ausserhalb des Strafraums ruhig einmal schiessen zu lassen. Schliesslich verfügt Real Madrids gefährlichster Mann, Karim Benzema, über einen sehr guten Schuss. Auch einem Luka Modric oder einem Toni Kroos sollte man wohl eher keine freie Schussbahn anbieten.

epa09813728 Real Madrid's Karim Benzema celebrates after winning the UEFA Champions League round of 16, second leg soccer match between Real Madrid and Paris Saint-Germain (PSG) in Madrid, Spain, ...
Benzema traf in dieser Champions-League-Saison in 11 Spielen 15 Mal und jubelte in der Liga in 32 Spielen über 27 Treffer. Bild: keystone

Dem Gegner eine Falle stellen

Oder ist es das Risiko etwa doch wert? Klopp scheint es regelmässig einzugehen. Denn Chris Summersell, einem Trainer, Analytiker und Blogger, ist kürzlich eine Liverpooler Eigenheit aufgefallen: Das Verhalten bei gegnerischen Distanzschüssen.

Der FC Liverpool, so scheint es beim Blick auf die Daten, versucht oft gar nicht, diese Abschlüsse zu blockieren. Jedenfalls teils deutlich weniger als der Rest der Teams in der Premier League. Lieber lässt man den Gegner schiessen und vertraut auf zwei Dinge: Einerseits darauf, dass der xG-Wert eines Distanzschusses nicht sehr hoch ist, andererseits auf die Klasse von Goalie Alisson.

xG-Wert
Der Ausdruck steht für «Expected Goals». Er gibt an, wie erfolgversprechend ein Abschlussversuch statistisch ist. In die Bewertung fliessen Faktoren wie etwa die Distanz zum Tor ein, der Winkel zum Tor, oder ob und, wenn ja, wie viele Spieler sich zwischen Schütze und Tor befinden.

Liverpool stellt dem Gegner mit diesem vermeintlich passivem Verhalten eine Falle. Denn indem einem Spieler aus 20 Metern freie Schussbahn gewährt wird, wird er dazu verleitet, diese Gelegenheit zu nutzen. Liverpool hofft, dass der Gegner «vergisst», dass die Aussicht auf Erfolg von dieser Stelle des Spielfelds aus eher gering ist.

Den Faktor «Zufall» reduzieren

Ein anderer Grund dafür, den Schiessenden nicht anzugreifen: Rückt der Verteidiger vor, öffnet er Räume, die der Gegenspieler vielleicht nutzen kann – durch ein Dribbling oder einen Pass zu einem aufgerückten Mitspieler in den Strafraum. Und dort steigt die Wahrscheinlichkeit, ein Tor zu erzielen. Also lieber den Gegner dazu drängen, sein Glück von ausserhalb zu versuchen.

Dass Virgil van Dijk und Co. sich tendenziell weniger als Verteidiger anderer Teams in einen Schuss werfen oder sich ihm in den Weg stellen, liegt in der Gefahr eines Abfälschers. So gibt man dem Goalie die Chance, den Ball besser zu sehen und nicht durch eine von einer Ferse oder einem Wadenbein veränderte Flugbahn erwischt zu werden. Der ballführende Gegenspieler wird von Liverpools Akteuren eher von hinten oder von der Seite gestört, so dass der eigene Torhüter eine möglichst gute Sicht hat.

Jürgen Klopp versucht durch diese Taktiken, den Zufall ein Stück weit aus dem Spiel zu nehmen. Eine Unvorhersehbarkeit kann nicht nur durch einen Abfälscher, sondern auch durch einen geblockten Schuss entstehen: Niemand kann vor dem Block mit Sicherheit sagen, wo der Ball danach hinspringt. Und hat sich ein Verteidiger in den Schuss geworfen, liegt er womöglich noch auf dem Rasen, wenn der Angreifer zur zweiten Chance gelangt. Besser ist es, auf den Beinen zu bleiben.

Liverpool's Virgil van Dijk, left, and Liverpool's Joel Matip celebrate at the end of the English FA Cup final soccer match between Chelsea and Liverpool, at Wembley stadium, in London, Satu ...
Den FA Cup (im Bild) und den League Cup haben Virgil van Dijk (links) und Abwehrkollege Joel Matip in dieser Saison schon gewonnen.Bild: keystone

Salah und Co. treffen fast immer

Es gibt also eine Menge guter Gründe dafür, dass Liverpool bewusst Abschlüsse zulässt. Falls dann doch einmal ein Distanzschuss im Netz landet, haben die «Reds» die Gewissheit, dass sie im Gegenzug über viel Offensivpower verfügen. 94:26 lautete das Torverhältnis in der abgelaufenen Premier-League-Saison, im Schnitt erzielte Liverpool 2,47 Tore pro Partie. Mohamed Salah, Sadio Mané, Diogo Jota und Co. blieben in der Liga nur ein einziges Mal ohne Treffer, beim 0:1 in Leicester kurz vor Silvester. In 30 der 38 Saisonspielen schoss Liverpool zwei Tore oder mehr.

In der Champions League kam das Team auf den praktisch identischen Wert von 2,5 Toren pro Spiel. Nur ein Mal in zwölf Spielen in der «Königsklasse» haben die Reds weniger als zwei Tore erzielt: Bei der 0:1-Niederlage im Achtelfinal-Rückspiel gegen Inter Mailand. Jener Treffer war ein Distanzschuss von Lautaro Martinez – an einem Abend, an dem Liverpool keine Antwort darauf fand.

Es war wie so oft im Leben: Dass ein Plan jedes Mal funktioniert, gibt es nur beim «A-Team» im Fernsehen.

Die Werte von Real Madrid
Die Torausbeute der «Königlichen» kommt nicht ganz an jene von Liverpool heran. In der spanischen Liga erzielte Real Madrid im Schnitt 2,10 Tore pro Spiel, in der Champions League 2,33 Tore pro Spiel.

In 14 der 38 Liga-Spiele gelang Real keines oder nur ein Tor. In der Champions League war dies in 3 von 12 Partien der Fall.
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13 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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RASL
27.05.2022 16:17registriert Juni 2017
Sehr interessant und auch der Schlusssatz mit dem A-Team hat gefallen. 😁
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Pat the Rat (das Original)
27.05.2022 16:39registriert Februar 2017
Sehr interessante Analyse und auch Taktik.
Klopp muss man einfach mögen. Schon nur wegen der Tasse auf dem Titelbild 😁
337
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Zum Kommentar
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tr3
27.05.2022 18:51registriert April 2019
Ja gut, das sag ich seit 20 Jahren. Klopp muss irgendwann mal unerkannt an meinem Stammtisch gesessen haben.
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