Im Stadion singen die Fans noch 20 Minuten nach Spielschluss. Trainer Thierry Paterlini lauscht und sagt: «Es ist ein Märchen, was hier passiert.» Wo er recht hat, da hat er recht. Seit dem 0:8 gegen Lugano hat Langnau dreimal hintereinander gepunktet: 4:5 n.V gegen den SCB, 3:4 n.V in Genf und nun ein «Rekordsieg» gegen Lausanne (4:3). Lausanne hatte sein letztes Spiel am Freitag vor einer Woche in Ajoie bestritten und seither geruht. Für Langnau war die Partie gegen Lausanne das vierte Spiel im gleichen Zeitraum. Logisch also, dass die Emmentaler mit einer Steinzeit-Statistik dominiert worden sind: 22:57 Torschüsse, 4:28 im letzten Drittel. Aber sie gewinnen 4:3.
Thierry Paterlini sagt: «Dieser Sieg kann der Mannschaft gar nicht hoch genug angerechnet werden.» Die Auferstehung nach dem 0:8 gegen Lugano gelingt ohne Hokuspokus. Ohne Voodoo. Ohne Motivationstricks. Verblüffend einfach. Thierry Paterlini: «Wir hatten nach dem 0:8 gar keine Zeit. Wir haben einfach kurz besprochen, was besser werden muss und uns darauf konzentriert, alle unsere Energien in die Spiele zu investieren.» Es sei tief beeindruckend, wie sich die Mannschaft zusammengerauft habe. Krisenbewältigung nach einem ur-emmentalischen Motto: «Nid lafere, lifere.»
Die Auferstehung der SCL Tigers personifiziert Torhüter Stéphane Charlin. 85,71 Prozent Fangquote gegen den SCB, 93,33 Prozent in Genf und nun gegen Lausanne 94,83 Prozent. Eigentlich hätte er in Genf gar nicht spielen sollen. Langnaus Trainer: «Unser Plan war es, dass Luca Boltshauser in Genf spielt und dass wir dann entscheiden, wer die Partie gegen Lausanne bestreitet.»
Die Hockey-Trainer denken, die Hockey-Götter lenken: Luca Boltshauser (30) muss nach 4:33 Minuten und einem Gegentreffer in Genf verletzungsbedingt aufgeben. Seither spielt Stéphane Charlin. Luca Boltshauser hat einen Hexenschuss erwischt. Da Massagen nicht geholfen haben, wird nun noch ein MRI gemacht. Vorerst ist die Verpflichtung eines zusätzlichen Goalies kein Thema. Und Luca Boltshauser wird froh sein, dass er soeben seinen Vertrag bis 2026 verlängert hat.
Stéphane Charlin hat nur drei Tage nach dem missglückten Auftritt gegen den SCB seine vielleicht beste Partie für Langnau gespielt. Seit diese Statistik offiziell von der Liga geführt wird, hat noch nie ein Goalie der SCL Tigers in einem Spiel 54 Schüsse gehalten. Mit der verrücktesten Parade verhinderte er Anschlusstreffer zum 4:3 zu einem früheren Zeitpunkt. Er sagte hinterher, er habe die Parade dann gleich in der Wiederholung oben auf dem grossen Video-Würfel gesehen.
Stéphane Charlin ist ein Goalie-Experiment, basierend auf gutem Scouting. Bereits Sportchef Pascal Müllers Vorgänger Marc Eichmann (heute Goalie-Coach bei den Lakers) hatte sich um den Transfer des Servette-Talentes bemüht. Auch aufgrund der Einschätzung von Alfred Bohren (67). Der Defensiv-Stürmer aus Langnaus Meisterteam von 1976 arbeitet seit Jahrzehnten mit nationalen Junioren-Auswahlmannschaften und assistierte Bill Gilligan 1998 zur sensationellen U20-Bronzemedaille. Seit 2012 ist er mit den U16- und U17-Nationalteams unterwegs. Dabei hatte er über mehrere Saisons drei Torhüter mit gleichem Jahrgang (2000) im Kader: Zugs Luca Hollenstein, Langnaus Akira Schmid (heute in der NHL bei New Jersey) und eben Stéphane Charlin. Während der ganzen Zeit schätzte er Stéphane Charlin höher ein als Akira Schmid und Luca Hollenstein. Warum? «Er war auf dieser Altersstufe der Beste dieses Trios. Akira Schmids Potenzial war offensichtlich, aber er war zu diesem Zeitpunkt noch zu schmächtig.»
Während Akira Schmid 2018 nach Nordamerika «auswanderte» und dort zum Manne und zum NHL-Goalie gereift ist, stagnierte Stéphane Charlin. Bei Servette kam er nicht zum Zuge. Die Genfer, die ihn ausgebildet hatten, schoben ihn ab 2019 leihweise mal nach Sierre, La Chaux-de-Fonds oder Langenthal ab. Er war in dieser Phase im Training zu sich selbst zu gnädig, daher nicht fit und oft verletzt.
In Genf reifte die Einsicht, dass er sich nicht durchsetzen wird. Deshalb liess man ihn nach Langnau ziehen und die Emmentaler setzen seit 2022 auf das Duo Luca Boltshauser / Stéphane Charlin. Was noch im Herbst 2022 dazu führte, dass Langnaus Goalie-Duo als das schwächste der Liga eingeschätzt und im Falle einer Verletzung von Luca Boltshauser das Schlimmste befürchtet wurde. Ein enormes Risiko. Aber eines mit Verstand: Sowohl Alfred Bohren als auch Martin Gerber (der Stanley Cup-Sieger arbeitet in Langnaus Nachwuchsabteilung) sahen mehr Chancen als Risiken und rieten zum Wagnis.
Nun ist Stéphane Charlin die Goalie-Entdeckung der letzten zwei Jahre und sein Vertrag läuft noch bis 2025. Der sanfte Riese (191 cm / 84 kg) hat die perfekte Postur, ist endlich fit und flink und hat die Gabe, das Spiel lesen zu können. Und was ist eigentlich mit Luca Hollenstein, dem Dritten im Bunde mit Jahrgang 2000? Er ist die chancenlose Nummer 2 hinter Leonardo Genoni und überlegt sich, ob er Ende Saison die Komfortzone Zug Richtung Ambri, Kloten oder evtl. Biel oder Davos verlassen soll oder nicht. Sein Nachteil: Mehr als zehn Zentimeter kleiner als seine beiden Jahrgangskollegen und seit 2016 hat er die Nase nie ausserhalb von Zug in den Wind gehalten.
Was noch auffällt: Captain Harri Pesonen (35) und der nach Saisonstart verpflichtete und gleich mit einem schönen Dreijahresvertrag ausgestattete Saku Mäenalanen (29) waren bei der wundersamen Wende seit dem 0:8 gegen Lugano nur Statisten: Sie waren lediglich an einem einzigen der insgesamt 11 Treffer gegen den SCB, Servette und Lausanne beteiligt: Saku Mäenalanen verkürzte auf Pass von Harri Pesonen gegen den SCB auf 2:3.
Die beiden gehören zur inzwischen sechsköpfigen finnischen Hockeyfamilie in Langnau (dazu zählen auch Vili Saarijärvi, Aleksi Saarela und Juuso Riikola sowie Assistent Jukka Varmanen). Kritik aus dem Umfeld (das von den ausländischen Spielern traditionell sehr viel verlangt) ist ausnahmsweise nicht zu hören und eigentlich tabu. Nach dem Motto: Sind wir gegen unsere braven Finnen, dann können wir gar nichts mehr gewinnen.
Ist Harri Pesonen zu alt und Saku Mäenalanen womöglich ein Fehleinkauf? Für ein so hartes Urteil ist es noch zu früh. Beide hatten eine Grippe erwischt, die sich als Corona-Erkrankung herausgestellt hat. Beide sind also noch nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte und Künste.
Wenn beide wieder fit sind, ihr bestes Hockey zelebrieren und auch sonst alles in geordneten Bahnen läuft, können sich die Langnauer ein geradezu verwegenes, ja schier unerhörtes Ziel setzen: die Playoffs!
Von den letzten 30 Artikeln auf Watson, hatten mind. 20 Stück entweder Bern, Langnau oder Biel im Teaserbild und/oder im Titel.
😅
Danke Watson, dass ihr da wohl mit dem Zaunpfahl gewirbelt habt und den Eismeister für etwas mehr Themenvielfalt begeistern konntet!