Manchmal reibt man sich erstaunt die Augen. Und muss zwei Mal hinsehen, es wird ja auch fast jeden Tag gespielt, so dass sich die Tabelle so häufig ändert wie das Wetter an einem gewöhnlichen April-Tag. Aber ja, da steht es, nach 27 von 36 Runden ist auf Rang 1 immer noch ... der FC St.Gallen.
Wobei man statt «immer noch» auch «wieder» schreiben könnte. Kurzzeitig, für eine Runde, mussten die Ostschweizer die Führung an YB abgeben. Aber seit gestern Abend sind sie zurück auf dem Leaderthron. Nach einem nervenaufreibenden Arbeitssieg bei Neuchâtel Xamax. Verrückte Super League: Die Neuenburger spielten gegen St.Gallen gross auf, und dennoch rutschten sie nach der 1:2-Niederlage auf den letzten Platz ab.
Es war ein Abend, an dem sich Bemerkenswertes ereignete. Der FCSG, dieses grün-weisse Offensivfeuerwerk von Trainer Peter Zeidler, überzeugte für einmal nicht restlos – gewann aber trotzdem. Es gilt die Aussage: Wer auch solche Spiele gewinnt, hat das Zeug zum Meister.
Und mindestens so bemerkenswert: Der FC Basel hatte sich zwei Stunden zuvor gleich selber zerlegt. Nach einer haarsträubenden Wechsel-Panne verlor er 1:2 in Lugano, was den Rückstand auf St.Gallen wieder auf acht Punkte wachsen liess.
Der FCB hat sich damit fürs Erste vom Titelrennen verabschiedet. Und auch Meister YB zeigt Nerven. Der im Torschützenklassement überlegen führende Jean-Pierre Nsame flog am Dienstag gegen Servette nach einer Tätlichkeit vom Platz, YB holte beim Aufsteiger in Genf bloss ein 1:1. Damit liegen die Berner zwei Punkte hinter St.Gallen und müssen nun in drei Partien auf Nsame verzichten, sofern das Urteil nicht reduziert wird.
Kein Mensch kann nach der Corona-Pause eine seriöse Prognose wagen. Ausrutscher scheinen dazu zu gehören, wenn alle drei, vier Tage ein Spiel ansteht. Die Young Boys tauchten beim damaligen Schlusslicht Thun, der FCSG ging gegen den FC Zürich 0:4 unter.
Fakt ist: Es dauert immer weniger lang, bis der Meistertitel vergeben wird. Bedeutet: Weniger Gelegenheiten für die Konkurrenz, den Leader abzufangen. Noch neun Runden hat YB Zeit, darauf zu hoffen, dass der FC St.Gallen sich mehr Ausrutscher leisten wird als die Berner selber. Neun Spiele sind eine Menge, dem muss man sich bewusst sein, es gibt 27 Punkte zu holen.
Aber mit jeder Runde, welche die Aussenseiter aus der Ostschweiz dem Titel näher kommen, steigt deren Selbstvertrauen. Und jeder Spieler kann im entscheidenden Moment noch einmal Kräfte frei machen, von denen er selber bis dahin nichts wusste. Denn es ist jedem klar, welch grosse Chance er besitzt: Diese Mannschaft aus Akteuren, die anderswo gescheitert, übersehen oder aussortiert worden sind, kann tatsächlich wider aller Erwartungen Schweizer Meister werden.
Noch ist der Weg weit, noch einmal trifft jedes Team auf die neun anderen. Es ist bereits ein Erfolg, dass Mannschaft und Fans des FC St.Gallen nach drei Vierteln der Meisterschaft vom Titel träumen dürfen. Schon jetzt ist klar, dass der FCSG kommende Saison europäisch spielen wird. Das nimmt allfälligen Druck. Alles was kommt, ist ein Bonus. Doch natürlich träumen sie alle vom Fussballwunder. So wie es St.Gallen selber 1999/2000 oder Leicester City 2015/16 vorgemacht haben, als die krassen Underdogs sensationell Meister wurden.
Einen Tag nach dem Schweizer Nationalfeiertag wird ein Meister-Feuerwerk gezündet werden. Die Frage ist nur noch wo. Am 2. August erwartet YB den FC St.Gallen bei sich im Wankdorf. Gut möglich, dass die Meisterschaft erst in dieser Finalissima entschieden wird. Ein einziges, letztes, entscheidendes Spiel, wie ein Cupfinal: The Winner Takes It All.
Oder muss der Titelverteidiger beim Einmarsch ins Stadion bereits dem neuen Meister Spalier stehen? Dem Schweizer Fussball steht ein heisser Juli bevor.