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Henchoz über die unvergessliche Barrage 2019 zwischen Aarau und Xamax

Neuenburgs Trainer Stephane Henchoz, Mitte, jubelt nach dem Barrage Rueckspiel zwischen dem FC Aarau und Neuchatel Xamax FCS, am Sonntag, 2. Juni 2019, im Stadion Bruegglifeld in Aarau. (KEYSTONE/Chri ...
Stéphane Henchoz und Xamax machten das Unmögliche möglich.Bild: KEYSTONE

Wieder ein Barrage-Wunder? «Wer nichts zu verlieren hat, der hat keine Angst vor dem Tod»

Nach dem 0:4 des FC Aarau im Barrage-Hinspiel gegen GC liegt die Barrage 2019 auf dem Tisch – und die Frage: Wie gelingt es, ein 0:4 aufzuholen? Der Trainer des damaligen Aarauer Gegners Xamax weiss Bescheid. Und verrät, wie das damals wirklich lief auf dem Weg von der Hölle in den Himmel.
30.05.2025, 06:00
Sebastian Wendel / ch media
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0:4 verliert der FC Aarau das Barrage-Hinspiel gegen GC. Aufgeben? Oder vor dem Rückspiel heute Abend (20.30 Uhr) an das Wunder glauben?

So oder so: Nach diesem Hinspiel-Ergebnis lässt sich die gedankliche Zeitreise ins Jahr 2019 nicht verhindern. 4:0 steht es auch damals bei Halbzeit der Barrage – mit dem Unterschied, dass es der FC Aarau ist, der mit allen Vorteilen auf seiner Seite ins Rückspiel gegen Xamax geht. Und dann – oh Wunder, oh Schreck – den Aufstieg doch nicht schafft.

Einige Wochen nach der grössten Wende der Fussballgeschichte wollte es die «Aargauer Zeitung» nochmals genau wissen: Wie hat Xamax-Trainer Stéphane Henchoz seine tot wirkenden Spieler nach dem 0:4 wiederbelebt? Herausgekommen sind Einblicke in die Gedanken eines Trainers, der wie alle Beteiligten und Beobachter der Barrage 2019 diese Tage nie mehr vergessen wird.

Ich setze mich mit Henchoz auf eine klapprige Holzbank, zeige ihm drei Bilder dieses historischen 2. Juni 2019 und nach einem tiefen Seufzer sind Henchoz erste Worte: «Ich war mit der Schweiz an zwei Europameisterschaften, habe mit Liverpool den UEFA-Cup gewonnen – aber die Emotionen in diesen Barrage-Tagen toppen alles. Sehen Sie, ich bekomme Hühnerhaut, wenn ich die Bilder sehe.» Und dann taucht Henchoz ab:

«An der Pressekonferenz nach dem 0:4 im Hinspiel musste ich mich zusammenreissen, um nichts Falsches zu sagen. Obwohl eine winzige Piepsstimme in mir drin meinte, dass die Barrage noch nicht verloren ist, konnte ich das doch nicht den Journalisten sagen – ich hätte mich lächerlich gemacht!

Danach ging ich in mein Trainerbüro, von den Spielern wollte ich keinen mehr sehen. Es war das erste Mal in meiner Zeit bei Xamax, dass meine Mannschaft nicht alles gegeben hat. Einige Spieler waren mit ihren Gedanken in den Ferien oder bei ihren neuen Klubs – das Schicksal von Xamax hat sie im Hinspiel nicht interessiert.»

Auch eine kleine Gruppe Spieler um Captain Raphael Nuzzolo, der zuvor wegen angeblichen Spuckens gegen den Schiedsrichter vom Platz flog, bleibt noch lange in der Maladière. Die Gedanken der Spieler drehen sich um ein Thema: «Wenn Aarau bei uns vier Tore schiesst, können wir das im Brügglifeld auch.» Trainer Henchoz steigt weit nach Mitternacht ins Auto, aufgewühlt und hellwach. Einschlafen kann er in dieser Nacht nur mithilfe von Tabletten:

«Der Morgen danach war der schwierigste meines Fussballerlebens – und ich habe wirklich schon viel durchgemacht! Ich hatte keine Lust aufzustehen, keine Motivation und keine Kraft, wieder zum Stadion zu fahren und ein Training zu leiten. Aber ich war der Trainer, irgendwie musste ich mich aufrappeln und vorangehen.

Zur Mannschaft habe ich nur wenige Worte gesagt – etwa so: ‹Es ist noch ein Spiel, noch zwei Tage, dann seid ihr mich und Xamax los! Auch wenn wir uns in Aarau wahrscheinlich aus der Super League verabschieden werden, dann wenigstens mit Stolz. Jeder von Euch, der dazu nicht mehr bereit ist, kann jetzt seine Sachen abgeben und in die Ferien fliegen. Ich verstehe jeden, der nicht mehr will. Aber von den Spielern, die am Samstag in den Bus nach Aarau steigen, verlange ich die Bereitschaft, mit den Waffen in der Hand zu sterben. Ich bin noch nie vor einem Gegner geflüchtet, habe ihm immer ins Gesicht geschaut, auch wenn er noch so übermächtig war – das Gleiche verlange ich jetzt von Euch!»​

Motivation vor der Abfahrt

Am Samstag sitzen alle Xamax-Spieler im Bus. «Damit habe ich nicht gerechnet», sagt Henchoz. Vor der Abfahrt nach Aarau zeigt er der Mannschaft einen siebenminütigen Film. Bilder aus dem Champions-League-Halbfinal zwischen Liverpool und Barcelona ein paar Wochen zuvor, in dem die Engländer nach der 0:3-Schlappe im Hinspiel das Rückspiel mit 4:0 gewannen.

Liverpool's Xherdan Shaqiri and Alisson Becker celebrate after the Champions League Semi Final, second leg soccer match between Liverpool and Barcelona at Anfield, Liverpool, England, Tuesday, Ma ...
Xherdan Shaqiri und Co. gelingt eine legendäre Wende.Bild: AP

Untermalt mit pathetischer Musik und den Worten: «Wenn niemand mehr an dich glaubt, glaube wenigstens du selber an dich!» Die Stimmung im Hotel, so Henchoz, sei angenehm gewesen. Abends schauen alle den Champions-League-Final zwischen Liverpool und Tottenham, einen Zapfenstreich gibt's nicht. Am Morgen vor dem Spiel macht Henchoz etwas, das er noch nie getan hat:

«In der Mannschaftssitzung habe ich kein Wort über die Taktik verloren, zum ersten und wohl letzten Mal in meiner Trainerkarriere. Warum auch? Was hätte das gebracht? Taktik war an diesem Tag die unwichtigste Sache der Welt! Ich habe nur an den Stolz der Spieler appelliert, ich wollte sie emotional berühren und ihnen einen Grund geben, an diesem Tag auf dem Platz zu sterben, sie brauchten das.

An der Wand hing ein Blatt mit allen Namen in der Startelf – ich habe im Vergleich zum Hinspiel fünf Mal gewechselt und nur Spieler aufgestellt, von denen ich wusste, dass sie mit Herz dabei sind. Ob jeder von ihnen auf seiner besten Position steht, war sekundär. Charles Pickel musste zum ersten Mal in seiner Karriere am Flügel ran.​
In der Kabine war es ruhig, aber ich habe in die Augen der Spieler geschaut und gespürt, dass sie denken wie Menschen, die alles verloren haben in ihrem Leben. Schauen sie: Wenn sie ein Haus bauen, schützen sie es vor Einbrechern. Wenn sie ein neues Auto kaufen, ist ihre grosse Sorge, dass es einen Kratzer bekommt. Wenn Sie neue Schuhe tragen, gehen sie jeder Pfütze aus dem Weg. Warum? Weil sie etwas zu verlieren haben. Aber wer nichts zu verlieren hat, der hat keine Angst vor dem Tod. Genauso haben wir dann auch gespielt.

Die paar Hundert Fans, die noch nach Aarau gekommen sind, haben das gespürt und die Mannschaft trotz der aussichtslosen Situation von der ersten Sekunde an angefeuert. Dass der Gästesektor im Brügglifeld halb leer blieb, war doch klar: Ich als Fan hätte mir auch gut überlegt, für 40 Franken an diesem heissen Tag nach Aarau zu fahren oder doch lieber im Garten den Grill anzumachen.»

In der 20. Minute geht Xamax 1:0 in Führung, Torschütze ist Geoffroy Serey Dié. «Das war der Moment, in dem der ganze Glaube an die Wende zurückgekehrt ist», so Henchoz. Fortan tigert er wie ein Aufziehmännchen der Seitenlinie entlang, peitscht seine Spieler an und sieht, wie mit jedem weiteren Tor das Selbstbewusstsein aus den Körpern der Aarauer entweicht:

«Drei Tage haben die Spieler von Aarau von allen Seiten gehört, dass sie praktisch in der Super League sind, in der Stadt war alles vorbereitet für die Aufstiegsparty. Auf der Fahrt vom Hotel ins Brügglifeld habe ich unseren Chaffeur angewiesen, durch die Aarauer Stadt zu fahren. Dort standen die Fesetzelte und Bierstände bereit für die grosse Party. Als wir daran vorbeifuhren, habe ich mir im Bus das Mikrofon geschnappt und den Spielern gesagt: Schaut euch das an! Ihr seid die einzigen, die diese Party noch verhindern können!

Der eine oder andere Aarauer war mit dem Kopf vielleicht schon beim Köpfen der Champagner-Flaschen. Nicht falsch verstehen: Das wäre bei mir genauso gewesen, nach einem 4:0 im Hinspiel ist dieses Denken absolut normal. Ich habe von Anfang an gespürt: Die Aarauer spielten mit der Angst im Bauch, alles zu verlieren. Das pure Gegenteil von meinen Spielern, sie rannten einfach um ihr Leben.»​

Als kurz vor 19 Uhr das Wunder Tatsache wird, Xamax den Ligaerhalt geschafft hat und tout Aarau ins Tal der Tränen stösst, gibt es auch für Henchoz kein Halten mehr. Er umarmt alle, die ihm in die Quere kommen.

L’entraineur neuchatelois Stephane Henchoz fete le maintien en Super League avec les supporters apres la rencontre de football Super League - Challenge League de barrage match aller entre FC Aarau et  ...
Zurück in Neuenburg wird der Klassenerhalt gefeiert.Bild: KEYSTONE

«Ich wusste nicht, wohin mit meinen Gefühlen, wusste nicht, ob ich weinen oder lachen soll. Es war so intensiv, kaum auszuhalten und einfach nicht zu glauben.» Erst auf der Fahrt nach Neuenburg kommt Henchoz zur Ruhe und reflektiert ein erstes Mal, was an diesem 2. Juni vor sich ging:

«Wenn Patrick Rahmen, mein Trainerkollege damals beim FC Aarau, bis heute sagt, er könne nichts erkennen, was seine Mannschaft an diesem Tag falsch gemacht habe: Ja, ich gebe ihm recht. Die Fussballgötter haben das so gewollt. Fussball ist irrational, nicht zu erklären. Taktik, Pech, Schiedsrichter – alles Blablabla an diesem Tag – es musste einfach so kommen.

Das Stadion Brügglifeld wird mein Leben lang ein besonderer Ort bleiben, dieser Tag war ein Lehrstück für den Fussball, nein, mehr noch: ein Lehrstück für das Leben.»
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8 Kommentare
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Jekyll & Hyde
30.05.2025 09:06registriert Januar 2017
Es gibt aber ein gewaltigen unterschied:
Der Challenge League Klub (Aarau) müsste Aufholen nicht wie 2019 der Super League Klub.....und bei allem Respekt: Der Niveau-unterschied ist doch ziemlich gross. Daher ist eine Wiederholung nicht unmöglich aber sehr unwahrscheinlich.
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Maria Cardinale Lopez
30.05.2025 06:43registriert August 2017
Schöne Geschichte welche sich jedoch heute nicht wiederholen wird. (Hoffentlich🙈)
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