Wieder ein Barrage-Wunder? «Wer nichts zu verlieren hat, der hat keine Angst vor dem Tod»
0:4 verliert der FC Aarau das Barrage-Hinspiel gegen GC. Aufgeben? Oder vor dem Rückspiel heute Abend (20.30 Uhr) an das Wunder glauben?
So oder so: Nach diesem Hinspiel-Ergebnis lässt sich die gedankliche Zeitreise ins Jahr 2019 nicht verhindern. 4:0 steht es auch damals bei Halbzeit der Barrage – mit dem Unterschied, dass es der FC Aarau ist, der mit allen Vorteilen auf seiner Seite ins Rückspiel gegen Xamax geht. Und dann – oh Wunder, oh Schreck – den Aufstieg doch nicht schafft.
Einige Wochen nach der grössten Wende der Fussballgeschichte wollte es die «Aargauer Zeitung» nochmals genau wissen: Wie hat Xamax-Trainer Stéphane Henchoz seine tot wirkenden Spieler nach dem 0:4 wiederbelebt? Herausgekommen sind Einblicke in die Gedanken eines Trainers, der wie alle Beteiligten und Beobachter der Barrage 2019 diese Tage nie mehr vergessen wird.
Ich setze mich mit Henchoz auf eine klapprige Holzbank, zeige ihm drei Bilder dieses historischen 2. Juni 2019 und nach einem tiefen Seufzer sind Henchoz erste Worte: «Ich war mit der Schweiz an zwei Europameisterschaften, habe mit Liverpool den UEFA-Cup gewonnen – aber die Emotionen in diesen Barrage-Tagen toppen alles. Sehen Sie, ich bekomme Hühnerhaut, wenn ich die Bilder sehe.» Und dann taucht Henchoz ab:
Danach ging ich in mein Trainerbüro, von den Spielern wollte ich keinen mehr sehen. Es war das erste Mal in meiner Zeit bei Xamax, dass meine Mannschaft nicht alles gegeben hat. Einige Spieler waren mit ihren Gedanken in den Ferien oder bei ihren neuen Klubs – das Schicksal von Xamax hat sie im Hinspiel nicht interessiert.»
Auch eine kleine Gruppe Spieler um Captain Raphael Nuzzolo, der zuvor wegen angeblichen Spuckens gegen den Schiedsrichter vom Platz flog, bleibt noch lange in der Maladière. Die Gedanken der Spieler drehen sich um ein Thema: «Wenn Aarau bei uns vier Tore schiesst, können wir das im Brügglifeld auch.» Trainer Henchoz steigt weit nach Mitternacht ins Auto, aufgewühlt und hellwach. Einschlafen kann er in dieser Nacht nur mithilfe von Tabletten:
Zur Mannschaft habe ich nur wenige Worte gesagt – etwa so: ‹Es ist noch ein Spiel, noch zwei Tage, dann seid ihr mich und Xamax los! Auch wenn wir uns in Aarau wahrscheinlich aus der Super League verabschieden werden, dann wenigstens mit Stolz. Jeder von Euch, der dazu nicht mehr bereit ist, kann jetzt seine Sachen abgeben und in die Ferien fliegen. Ich verstehe jeden, der nicht mehr will. Aber von den Spielern, die am Samstag in den Bus nach Aarau steigen, verlange ich die Bereitschaft, mit den Waffen in der Hand zu sterben. Ich bin noch nie vor einem Gegner geflüchtet, habe ihm immer ins Gesicht geschaut, auch wenn er noch so übermächtig war – das Gleiche verlange ich jetzt von Euch!»
Motivation vor der Abfahrt
Am Samstag sitzen alle Xamax-Spieler im Bus. «Damit habe ich nicht gerechnet», sagt Henchoz. Vor der Abfahrt nach Aarau zeigt er der Mannschaft einen siebenminütigen Film. Bilder aus dem Champions-League-Halbfinal zwischen Liverpool und Barcelona ein paar Wochen zuvor, in dem die Engländer nach der 0:3-Schlappe im Hinspiel das Rückspiel mit 4:0 gewannen.
Untermalt mit pathetischer Musik und den Worten: «Wenn niemand mehr an dich glaubt, glaube wenigstens du selber an dich!» Die Stimmung im Hotel, so Henchoz, sei angenehm gewesen. Abends schauen alle den Champions-League-Final zwischen Liverpool und Tottenham, einen Zapfenstreich gibt's nicht. Am Morgen vor dem Spiel macht Henchoz etwas, das er noch nie getan hat:
An der Wand hing ein Blatt mit allen Namen in der Startelf – ich habe im Vergleich zum Hinspiel fünf Mal gewechselt und nur Spieler aufgestellt, von denen ich wusste, dass sie mit Herz dabei sind. Ob jeder von ihnen auf seiner besten Position steht, war sekundär. Charles Pickel musste zum ersten Mal in seiner Karriere am Flügel ran.
Die paar Hundert Fans, die noch nach Aarau gekommen sind, haben das gespürt und die Mannschaft trotz der aussichtslosen Situation von der ersten Sekunde an angefeuert. Dass der Gästesektor im Brügglifeld halb leer blieb, war doch klar: Ich als Fan hätte mir auch gut überlegt, für 40 Franken an diesem heissen Tag nach Aarau zu fahren oder doch lieber im Garten den Grill anzumachen.»
In der 20. Minute geht Xamax 1:0 in Führung, Torschütze ist Geoffroy Serey Dié. «Das war der Moment, in dem der ganze Glaube an die Wende zurückgekehrt ist», so Henchoz. Fortan tigert er wie ein Aufziehmännchen der Seitenlinie entlang, peitscht seine Spieler an und sieht, wie mit jedem weiteren Tor das Selbstbewusstsein aus den Körpern der Aarauer entweicht:
Der eine oder andere Aarauer war mit dem Kopf vielleicht schon beim Köpfen der Champagner-Flaschen. Nicht falsch verstehen: Das wäre bei mir genauso gewesen, nach einem 4:0 im Hinspiel ist dieses Denken absolut normal. Ich habe von Anfang an gespürt: Die Aarauer spielten mit der Angst im Bauch, alles zu verlieren. Das pure Gegenteil von meinen Spielern, sie rannten einfach um ihr Leben.»
Als kurz vor 19 Uhr das Wunder Tatsache wird, Xamax den Ligaerhalt geschafft hat und tout Aarau ins Tal der Tränen stösst, gibt es auch für Henchoz kein Halten mehr. Er umarmt alle, die ihm in die Quere kommen.
«Ich wusste nicht, wohin mit meinen Gefühlen, wusste nicht, ob ich weinen oder lachen soll. Es war so intensiv, kaum auszuhalten und einfach nicht zu glauben.» Erst auf der Fahrt nach Neuenburg kommt Henchoz zur Ruhe und reflektiert ein erstes Mal, was an diesem 2. Juni vor sich ging:
Das Stadion Brügglifeld wird mein Leben lang ein besonderer Ort bleiben, dieser Tag war ein Lehrstück für den Fussball, nein, mehr noch: ein Lehrstück für das Leben.»


