Der Start der Zusammenarbeit von Trainer René Weiler und Servette verlief erdenklich schlecht. Schon vor Saisonbeginn war Weiler kurz davor, wieder hinzuschmeissen. Während des Trainingslagers in Crans-Montana sagte er Thierry Regenass, Präsident beim Servette FC, den Weiler erst wenige Wochen zuvor übernommen hatte, dass die Anstellung ein Missverständnis gewesen sei. Weiler wollte den Vertrag sofort zurückgeben, wie die Neue Zürcher Zeitung berichtet.
Der Grund dafür sei gewesen, dass Weiler in sportlichen Belangen nicht so frei entscheiden durfte, wie es ihm zunächst versprochen wurde. Der 50-Jährige ist keiner, der sich das so einfach bieten lässt. «Man muss mich auch ein Stück weit machen lassen und mir das Vertrauen schenken», sagte er zu Beginn der Saison darüber, weshalb er es an den meisten seiner früheren Stationen nicht besonders lange aushielt, zum Tages-Anzeiger. Deshalb versuche er sich mit seiner Direktheit mittlerweile auch etwas stärker zurückzuhalten, was ihm mal besser und mal schlechter gelingt – wie auch die Unterredung mit seinem Präsidenten zeigt.
Dann folgte der schwache Saisonstart mit nur sieben Punkten aus den ersten acht Super-League-Spielen. Servette stand auf Platz 9, der einzige Sieg gelang am 1. Spieltag. Immerhin qualifizierte sich Servette aber für die Europa League. Dennoch schien es tatsächlich ein Missverständnis gewesen zu sein, den auf Harmonie bedachten Alain Geiger durch den Konflikten nicht abgeneigten Weiler zu ersetzen, obwohl der 63-jährige Geiger Servette gerade auf Platz 2 geführt hatte.
Doch dann machte es plötzlich Klick. Die Genfer starteten einen Lauf, verloren in der Super League seither nur noch einmal – in Unterzahl und nach 1:0-Führung in Yverdon –, überwinterten europäisch und überstanden auch die erste K.o.-Runde der Conference League. Am Mittwoch trifft Servette im Cup-Viertelfinal auf Promotion-League-Klub Delémont. Die Entwicklung der Genfer unter Weiler fand am Sonntag mit dem 1:0-Sieg in Bern einen vorläufigen Höhepunkt. Servette ist der einzige ernsthafte Konkurrent für YB im Meisterkampf. Der Rückstand beträgt 13 Runden vor Schluss nun nur noch vier Punkte.
Mittlerweile ist klar, dass sich der Kulturwechsel, den Weiler als Nachfolger Geigers mit sich brachte, gelohnt hat. Es ist genau das, was Servette wollte. Durch den Trainer, der zwar gerne einmal aneckt, aber bereits mit Anderlecht in Belgien und al Ahly in Ägypten Meister wurde, soll das grosse Ziel, das Präsident Regenass vor der Saison ausgegeben hat, erreicht werden. «In den nächsten drei bis fünf Jahren wollen wir den Titel anstreben», sagte Regenass vor der Saison zum Tribune de Genève.
Es scheint derzeit nicht unrealistisch, dass diese Vorgabe erfüllt wird. Ein anderes Ziel, das sich Weiler selbst gesetzt hat, ist hingegen bereits erreicht. Sein Team solle attraktiven Fussball spielen und den Weg nach vorne schnell und direkt suchen, nahm sich der 50-Jährige vor. Der Siegtreffer durch Alexis Antunes gegen YB ist ein Paradebeispiel dafür.
In der Super League schiesst kein Team so häufig aufs Tor wie Servette. Zwar leidet die Effizienz dabei etwas, doch hat Servette mit 43 Treffern trotzdem den viertbesten Wert der Liga. Defensiv hilft das starke Goalie-Gespann aus Joël Mall und Jérémy Frick, das prozentual die zweitbeste Quote an abgewehrten Torschüssen aufweist. Auch deshalb stellt Servette mit 29 Gegentoren die drittbeste Defensive der Liga.
Mall kam im Sommer ablösefrei von Omonia Nikosia und überzeugte auch im Spitzenkampf im Wankdorf. Damit ist der im Aargau aufgewachsene zypriotische Nationalgoalie ebenso ein Beispiel für die gute Transferpolitik der Genfer wie der Japaner Keigo Tsunemoto. Der 25-jährige Aussenverteidiger spielte schon bei den Kashima Antlers unter Weiler. Dieser machte sich dann auch für seinen ehemaligen Schützling stark und setzte sich gegen das anfängliche Zögern der Verantwortlichen durch. Mittlerweile ist Tsunemoto, der einen tiefen sechsstelligen Betrag gekostet haben soll, einer der Dauerbrenner bei den Grenats und Publikumsliebling.
Ergänzt werden die schlauen Verpflichtungen wie Miroslav Stevanovic (kam 2017), Dereck Kutesa und Enzo Crivelli (kamen beide 2022), die alle ablösefrei nach Genf wechselten, durch eine gute Jugendarbeit. Sowohl Antunes als auch Jérémy Guillemenot, der im Sommer aus St.Gallen zurückgeholt wurde, stammen aus der eigenen Jugend. Eigengewächse wie Kastriot Imeri oder auch Nicolas Vouilloz sorgen zudem dafür, dass die Kassen regelmässig gefüllt werden.
Aufgrund dieser Transferpolitik kann Servette trotz eines für Super-League-Verhältnisse mittelmässigen Budgets stets oben mitspielen. Seit dem letzten Aufstieg vor der Saison 2019/20 standen die Genfer mit einer Ausnahme immer in den Top 4. Das reicht aber weder Präsident Regenass noch dem ambitionierten Weiler, dem in der Schweiz auch schon mal Überheblichkeit nachgesagt wurde. Der Winterthurer, der schon als Kind Fan der Genfer war und während seiner Karriere zwei Jahre für die Grenats spielte, würde Servette wohl nur zu gerne zum ersten Titel seit dem Cupsieg in der Saison 2000/01 führen.