Natürlich spielte der Zufall auch ein Rolle. Oder das Glück. So nannte es Fabio Capello, der mit Milan in den Neunzigerjahren viermal Meister und einmal Champions-League-Sieger wurde. «Der andere Halbfinal (Real Madrid - Manchester City) ist der wahre Final. Die Italiener brauchten Losglück, um so weit zu kommen.» Ganz falsch liegt Capello mit seiner Aussage nicht. Milan setzte sich in den K.-o.-Runden gegen Tottenham Hotspur und Napoli durch, Inter gegen Porto und Benfica Lissabon. Der Weg hätte steiniger sein können.
Doch einem geschenkten Gaul schaut man auch in Mailand nicht ins Maul. Die Sportzeitung «Gazzetta dello Sport» füllte schon letzte Woche täglich fünf bis acht Seiten zum Euroderby – oder zum «Derbissimo», wie sie nach Feststehen der Affiche titelte. Am Montag waren es bereits elf Seiten. Tendenz für heute, für den Spieltag: stark steigend.
Auf der Piazza del Duomo, in den Trattorien des Brera-Quartiers oder am Ufer der Navigli diskutieren die Tifosi in diesen Tagen, was wohl schwerer wiegen wird. Dass Milan den Ausfall Rafael Leãos, seines besten Spielers, zu verkraften hat. Oder dass Inter mit Francesco Acerbi, Matteo Darmian und Alessandro Bastoni eine Abwehr aufs Feld schickt, der internationales Top-Format abgeht.
Das Bild ist übrigens durchaus bewusst gewählt. «Milanisti» und «Interisti» diskutieren am gleichen Tisch, laut ja, aber nie gehässig oder handgreiflich. In Mailand gehen sie auch nicht getrennt zum Stadion. Rot-Schwarz und Schwarz-Blau sitzen im Derby Schulter an Schulter auf den engen Schalensitzen des Giuseppe-Meazza-Stadions.
«Das ist Zivilisation, der Stil der Mailänder», pflegte Milans früherer Geschäftsführer Adriano Galliani jeweils zu sagen. Das wurde immer auch als Seitenhieb an die ungeliebten Römer verstanden. In Rom wurde in den Tagen nach Derbys zwischen der AS Roma und Lazio nicht selten mehr über die (Kampf-)Taktik der Polizei und der Ultras debattiert als über 4-4-2 und Gegenpressing, wenn mal wieder Wasserwerfer und Tränengas zum Einsatz gekommen waren.
In Mailand ist die Rivalität zwischen Milan und Inter weniger radikal und rein sportlicher Natur, weil sich abseits des Fussballs keine tieferen Gräben auftun zwischen den Klubs. Keine gesellschaftlichen wie in Madrid, keine religiösen wie in Glasgow und keine geografischen wie in Istanbul.
Rivalen ja, Feinde nein. Gegenüber Juventus Turin empfinden die Fans mehr Abneigung als gegenüber dem Stadtrivalen. Vielleicht auch deshalb bewegen sich Milan und Inter in erstaunlichem Gleichschritt durch die Jahrzehnte. Die Parallelen sind frappant – im Erfolg, im Misserfolg, in der Wirtschaftskraft und in den Besitzverhältnissen.
2003 und 2005 standen sich Milan und Inter bereits in K.-o.-Spielen der Champions League gegenüber. Damals waren die beiden Klubs dominant in Italien und in Europa. Alimentiert durch den Mailänder Geldadel, der Medien-Mogul und Rechtspolitiker Silvio Berlusconi bei Milan und der Erdöl-Industrielle Massimo Moratti bei Inter.
Es war die Zeit, als Milan und Inter finanziell noch mithalten konnten mit der Konkurrenz aus Madrid, Barcelona oder England. 2005 setzte Milan 234 Millionen Euro um und lag damit auf Platz drei Europas. Inter folgte nur unwesentlich dahinter. Noch ein paar Jahre ging das in ähnlichem Stil weiter. Dann, nach dem Champions-League-Triumph von Inter, im 2010, stürzten die Mailänder nach und nach ab. Berlusconi und Moratti drehten erst den Geldhahn zu und verkauften später ihre Vereine.
Ihr Mäzenatentum war längst nicht mehr zeitgemäss. Familiäre und verkrustete Strukturen, sowie veraltete Infrastruktur: 2015, zehn Jahre nach dem letzten Euroderby, setzten Milan und Inter keine 200 Millionen Euro mehr um, während die Topklubs aus England oder auch Bayern München ihre Umsätze innerhalb eines Jahrzehnts mehr als verdoppelten oder sogar verdreifachten.
In dieser Phase darbten Milan und Inter auch national. Zwischen 2013/14 und 2016/17 schaffte es vier Saisons am Stück keiner der beiden, sich für die Champions League zu qualifizieren. Als 2015 in der Serie A die Ränge acht und zehn herausschauten, war dies das schlechteste Ergebnis der Mailänder seit mehr als einem halben Jahrhundert.
Die Basis für einen zögerlichen Aufwärtstrend wurde gelegt, als ausländische Investoren die Klubs übernahmen. Auch dies geschah fast im Gleichschritt. Moratti verkaufte Inter 2013 an den Indonesier Erick Thohir, seit 2016 gehört der Klub dem chinesischen Einzelhandel-Grosskonzern Suning. Berlusconi leitete 2015 den Prozess des Verkaufs von Milan ein, ebenfalls an einen Chinesen, mittlerweile ist der Verein im Besitz der amerikanischen Investmentfirma Redbird Capitals.
Das ausländische Geld brachte nach und nach Ruhe in die operative Führung. Und Schritt für Schritt kam der Erfolg zurück. Bei Inter baute der langjährige Juventus-Manager Beppe Marotta in drei Jahren ein Team auf, das 2021 den Titel gewann. Bei Milan tat es ihm Sport-Direktor Paolo Maldini gleich. Seit der frühere Linksverteidiger das alleinige Sagen hat, steigerte sich Milan von Platz sechs (2020) über Platz zwei (2021) zum Scudetto im letzten Jahr.
Den Meistertitel verloren Milan und Inter zwar eben an Napoli. Doch das internationale Interesse richtet sich dieser Tage auf Mailand, auf die einzige Stadt mit zwei Klubs, die schon die Champions League gewannen. Das «San Siro», wie das Stadion am westlichen Stadtrand vom Volk genannt wird, wurde für den Champions-League-Final 2016 sanft modernisiert. Gespielt wurde in diesem Final dann das Madrider Derby zwischen Real und Atlético. Sieben Jahre später sind auch die Mailänder Rivalen zurück im europäischen Scheinwerferlicht. (aargauerzeitung.ch)