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Olympia 2024: Schützin Nina Christen spricht über Hochs und Tiefs

HANDOUT - This handout picture taken and released by Swiss Shooting shows the Swiss athlete in shooting sports Nina Christen with the Swiss flag, prior to the 2024 Paris Summer Olympics in Chateauroux ...
Nina Christen tritt in Paris als Titelverteidigerin an.Bild: keystone
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Olympia-Gold stürzte Nina Christen ins Loch – «Ich mochte nicht heile Welt spielen»

Nina Christen, 30, durfte bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 2024 die Schweizer Fahne tragen. Vor drei Jahren gewann die Schützin Gold und Bronze – und war zu erschöpft, um sich darüber zu freuen. Sie spricht im Interview darüber, wie die Medaillen ihr Leben verändert haben.
28.07.2024, 08:12
Etienne Wuillemin / ch media
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Sie haben als erste Schweizer Frau an Olympischen Sommerspielen im Einzel zwei Medaillen gewonnen. Nach Gold und Bronze 2021 in Tokio – wie viele Medaillen gewinnen Sie in Paris?
Nina Christen: Da versuchen Sie, mich gleich ziemlich aus der Reserve zu locken (lacht). Im Vorfeld schon grosse Ankündigungen zu machen, fände ich nicht clever.

Sie wurden bei der Eröffnungsfeier zusammen mit Nino Schurter zur Fahnenträgerin der Schweiz auserkoren. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie angefragt wurden?
Eigentlich habe ich gar nicht gedacht, dass ich infrage komme, weil wir unsere Wettkämpfe drei Stunden südlich von Paris austragen und ich schon am Sonntag im Einsatz stehe. Umso schöner war die Überraschung. Für mich war sofort klar: Das kann ich nicht ausschlagen – schliesslich kommen nur ganz wenige zu dieser riesigen Ehre. Auch für den Schiesssport ist das eine grosse Sache. Vor 60 Jahren durfte das erste und einzige Mal bis anhin ein Schütze die Fahne tragen.

Switzerland's Nina Christen and Nino Schurter wave their country's flag in Paris, France, during the opening ceremony of the 2024 Summer Olympics, Friday, July 26, 2024. (Martin Meissner/Poo ...
Nina Christen trägt zusammen mit Nino Schurter bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 2024 die Schweizer Fahne.Bild: AP

Seit wann sind die Olympischen Spiele im Fokus Ihrer Planung?
Eigentlich schwingt Olympia seit letztem Sommer immer mit. Seither spüre ich Vorfreude. Anspannung und Nervosität natürlich auch, je näher die Wettkämpfe kommen, desto mehr. Auch die mentale Vorbereitung auf diesen Höhepunkt hat schon im letzten Herbst begonnen.

Wie kann man sich das vorstellen?
Ich hatte immer wieder Termine mit meinem Sportpsychologen. Was ich inhaltlich mit ihm mache, ist seit langem auf Olympia ausgerichtet. Ich gehe als doppelte Medaillengewinnerin an den Start. Das ist eine ganz andere Ausgangslage als vor drei Jahren. Ich wollte mich vorbereiten auf das, was auf mich zukommen könnte. Ein Beispiel: Wie kommuniziere ich meine Ziele und Erwartungen, damit ich mir möglichst wenig Druck mache?

«Leistung am Tag X zu bringen, ist schon genug schwierig. Aber Leistung am Tag X an Olympia, das ist ein riesiges Ding!»

Wie können Sie den Druck von sich fernhalten? Die hohe Messlatte birgt die Gefahr, dass ein Resultat ohne Medaille als Enttäuschung gewertet würde.
Absolut. Die Frage nach dem Gewinnen ist so omnipräsent, beispielsweise auch in meinem Umfeld, wobei ich nicht explizit die Familie meine, sondern aus dem Schiessen allgemein, dass ich Strategien entwickeln musste, um damit umzugehen.

Wie sehen diese aus?
Die offizielle Antwort ist: Ich möchte einen Platz im Final. Und dann werde ich ganz alleine für mich am Tag X (die Finals finden am Montag und Freitag jeweils um 9.30 Uhr statt, Anm. d. Red) entscheiden, ob ich eine gute Leistung gezeigt habe. Ich bin mir sehr bewusst, dass ich unter Umständen keine Medaille hole – aber das bedeutet nicht automatisch, dass ich schlecht war. Leistung am Tag X zu bringen, ist schon genug schwierig. Aber Leistung am Tag X an Olympia, das ist ein riesiges Ding!

Ihr Name wurde mit den Olympiamedaillen quasi von einem Tag auf den anderen in die Öffentlichkeit katapultiert. Wie war das für Sie im Rückblick?
Das war hauptsächlich so, weil der Schiesssport nicht wirklich gross in den Medien ist. Mir wurde erst im Nachhinein bewusst, wie gross Olympia wirklich ist. Dieser unglaubliche Stellenwert. Diese Reichweite. Ich musste mich auch daran gewöhnen, dass viele Leute plötzlich mein Gesicht kennen.

Wie ist das mittlerweile? Hat die Bekanntheit wieder abgeflacht?
Ja, schon. Die Aufmerksamkeit auf den Schiesssport ist wieder kleiner geworden. Trotzdem finde ich, es ist ein bisschen besser als früher. Man denkt an uns. Man schaut, was wir auf Social Media machen. Das ist cool. Mein Gesicht verbindet man mit dem Schiesssport. So wie früher jenes von Heidi Diethelm Gerber.

Bronze medalist of the shooting women's 25m Pistol competition Heidi Diethelm Gerber of Switzerland poses with the bronze medal during a medal celebration at the House of Switzerland, in Rio de J ...
Heidi Diethelm Gerber gewann Bronze an den Olympischen Spielen 2016 von Rio de Janeiro.Bild: KEYSTONE

Wie steht es denn um den Schiesssport aktuell?
Ich bin vermutlich zu sehr mit dem Innenblick vernebelt, als dass mir ein gutes, objektives Urteil gelingen würde. Aber die Schützinnen und Schützen werden wahrgenommen, das ist schön. Es gibt keinen anderen Sport, der in der Schweiz eine so lange Tradition hat. Der Schweizer Schiesssportverband feiert in diesem Jahr das 200-Jahre-Jubiläum. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass wir 1824 – und damit vor dem Schweizer Bundesstaat – gegründet wurden, ist das schon beeindruckend.

Die Zeit nach Ihrem Olympiasieg war sehr schwierig für Sie. Sie waren erschöpft, sind in ein mentales Loch gefallen. Sie erklärten öffentlich: «Ich konnte mich nicht über die Medaillen freuen.» Mögen Sie noch einmal auf diese zurückblicken? Oder wird das Thema zu oft wieder hervorgeholt?
Es gibt beide Seiten. Wenn ich zurückschaue, sehe ich, was ich alles aus dieser Zeit lernen konnte. Das bringt mir jetzt auch wirklich viel, weil ich viele Dinge anders mache. Weil ich vieles über mich selbst gelernt habe. Aber es stimmt schon, das ist natürlich überhaupt nicht das, worüber ich definiert werden möchte.

«Ich hatte gar keine Energie mehr, um mich zu freuen. Weil ich so tot war.»

Was haben Sie über sich gelernt?
Dass ich auf mich aufpassen muss. Es gibt so viele Dinge, oh mein Gott (lacht). Ich muss auf mich hören, wenn es um Essen, Schlafen oder meine Bedürfnisse geht. Wann brauche ich Freizeit? Wann ist der Moment, sich voll ins Training reinzuhängen? Es gibt manchmal Zeiten, in denen es nicht einfach ist.

Und das gilt es dann zu akzeptieren?
Genau! Wenn ich jetzt zurückschaue, denke ich so: Gott, ich war wie ein anderer Mensch. Es ist voll komisch. Aber es gehört jetzt halt dazu. Was mir lustigerweise in den schwierigen Zeiten geholfen hat, war das Wissen, dass es vielen Sportlerinnen und Sportlern so geht. Wenn man sich über eine lange Zeit so sehr auf ein Ziel fokussiert – dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass irgendetwas in dieser Art passiert. Es spricht einfach niemand darüber.

Mir blieb besonders in Erinnerung, wie Sie erzählt haben, dass Sie nach dem Gewinn der Olympiamedaillen darauf warteten, wie die grosse Freude kommt – und einfach nichts passiert ist.
Das war meine eigene Erwartung. Und weil meine Gefühle nicht dieser Erwartung entsprochen haben, fühlte ich mich noch schlimmer. Vielleicht kann man das mit dem Absolvieren einer grossen Prüfung vergleichen. Gewisse Frauen, mit denen ich darüber gesprochen habe, haben mir erzählt, dass sie sich ähnlich fühlten, als sie ein Kind bekamen. Manchmal war da auch die Erwartung der riesigen Freude – und dann ist da am Anfang nur Müdigkeit. Bei mir war es ähnlich. Ich hatte gar keine Energie mehr, um mich zu freuen. Weil ich so tot war. Es war alles so streng. Auch wegen Corona und allen Einschränkungen. Die stetige Unsicherheit, nicht einmal Ferienplanen war möglich.

«Eine Sportlerin oder ein Sportler wird nicht mehr nur als jemand gesehen, der eine körperlich Leistung erbringt, sondern auch eine mentale.»

Ging es so weit, dass Sie dachten: «Ich hasse euch, ihr Medaillen»?
Nein, nein, das nicht. Auch wenn es am Anfang schwierig war. Ich war immer stolz auf das, was ich erreicht habe. Ich wusste immer, ich habe gerade etwas Historisches geschafft. Für meinen Sport. Aber auch generell im Schweizer Sport. Zwei Medaillen im Einzel an Olympischen Sommerspielen, das hat noch keine andere Schweizerin geschafft. Das wusste ich immer, aber es hat Zeit gebraucht, bis es auch emotional angekommen ist und nicht nur als Fakt.

Olympiasiegerin Nina Christen wird bei ihrer Heimkehr aus Tokio gefeiert, in Immensee, am Montag, 2. August 2021. Die Sportschuetzin wurde in Tokio Olympiasiegerin im Dreistellungsmatch mit dem Kleink ...
Olympiasiegerin Nina Christen wird in Immensee bei ihrer Heimkehr aus Tokio gefeiert. Sie gewinnt Gold und Bronze.Bild: keystone

Kam die Freude später zurück?
Ja. Jetzt ist es ganz anders. Die Zeit hat vieles gutgemacht. Zeit und Erholung. Wenn ich heute beispielsweise einen Vortrag halte, mich jemandem vorstellen möchte in wenigen Sekunden, das Video abspielt mit dem letzten Schuss, wo ich Gold gewinne – ich könnte gleich losheulen. Die Emotionen kommen einfach jetzt.

Das muss ein schönes Gefühl sein!
Voll. Es war wirklich so, dass durch die Energie, die weg war, gar nichts mehr ging. Dadurch, dass sie zurückkam, ging es mir schon viel besser. Ich würde im Nachhinein auch nicht mehr von einer «Depression» reden. Es war einfach ein Loch, ein Tief. Ich war ausgelaugt, nicht psychisch krank.

Indem Sie über dieses Tief gesprochen haben, brachen Sie mit einem Tabu. Haben Sie das realisiert?
Im ersten Moment habe ich nicht realisiert, was für eine Welle es schlagen wird. Ich mochte einfach nicht «heile Welt» spielen. Ich kann doch nicht allen erzählen, dass es mir supergut geht, dass ich mich mega freue, wenn es nicht stimmt. Das wäre gelogen. Im Nachhinein finde ich es sehr cool, dass auch andere manchmal so kommuniziert haben. Ich erinnere mich an Marlen Reusser, wie sie an der WM das Zeitfahren aufgegeben hat, weil sie keine Energie mehr hatte. Wenn ich so etwas lese – sehr toll. Einfach die Tatsache, dass man darüber schreibt und spricht – ganz egal, ob wegen mir oder nicht. Ich finde, es hat in den letzten zwei, drei Jahren eine Entwicklung stattgefunden. Eine Sportlerin oder ein Sportler wird nicht mehr nur als jemand gesehen, der eine körperlich Leistung erbringt, sondern auch eine mentale.

Marlen Reusser wird nach der Aufgabe im WM-Zeitfahren von Nationaltrainer Edi Telser getröstet.
Marlen Reusser gab das WM-Zeitfahren freiwillig auf.Bild: Dario Belingheri/Velo

Was haben Sie geändert im Vergleich zu früher?
Ich habe meine Trainingsstruktur angepasst. Wenn ich zurückschaue, dann hat die Erschöpfung ja schon vor den Olympischen Spielen 2021 angefangen. Corona. Viele Wettkämpfe. Viel Training. Immer mehr, mehr, mehr. Ich kann viel besser darauf hören, was ich brauche. Ich habe noch einmal mehr Leute um mich herum, die mich unterstützen. Und dass ich über gewisse Dinge sehr ehrlich sein kann. Ich muss dazu stehen, was gerade ist. Das gehört zu mir.

Wie sieht das aus bei einem konkreten Beispiel? Dass Sie sagen: «Heute kann ich nicht trainieren, das lassen wir weg – und ich stehe dazu»?
Genau. Vielleicht hätte ich mich nicht getraut, das auszusprechen. Oder ich wäre trotzdem ins Training gegangen, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. Vielleicht. Ich denke, das kennt jeder Sportler und jede Sportlerin. Aber das ist dann manchmal auch ein Balance-Akt. Man kann auch nicht jedes Mal sagen: Jetzt habe ich keine Lust, ich gehe nicht.

Dann besteht die Kunst darin, keine Abkürzungen zu nehmen, aber den Abgrund zu vermeiden.
Das ist ein megagutes Bild, genau. Ein kleines Beispiel: Wenn ich weiss, dass ich einen Wettkampf habe oder irgendwohin fliege, dann plane ich mir vorher zwei oder drei Tage zu Hause ein und habe frei. Dann kann ich selbst planen, worauf ich Lust habe. Ich weiss, ich muss noch einkaufen, ich muss noch packen. So kann ich mich mental auf die kommenden Tage vorbereiten. Und muss nicht am letzten Tag vor der Abreise noch rumstressen. Wenn ich dann an diesen Tagen Lust habe, noch schiessen zu gehen, dann mache ich es. Sonst nicht. Es ist keine Pflicht. Dasselbe, wenn ich von einem Wettkampf nach Hause komme. Ich bin dann meist sehr müde. Also muss es nicht sein, schon am nächsten Tag wieder trainieren zu gehen.

Sie haben mehrfach erzählt, wie wichtig Ihnen viel Schlaf ist …
Eigentlich weiss ich das schon sehr lange. Es ist ja längst bekannt, wie wichtig genügend Schlaf ist – für alle Menschen. Ich brauche offensichtlich besonders viel. Und mittlerweile ist es mir sehr wichtig, diese Stunden auch zu bekommen, am liebsten neun pro Nacht. Manchmal klappt es noch immer nicht – aber es ist schon viel besser als vor ein paar Jahren.

Schützin Nina Christen im Gespräch mit Reporter Etienne Wuillemin.
Schützin Nina Christen im Gespräch mit Reporter Etienne Wuillemin.Bild: Manuela Jans-Koch

Neben dem Sport haben Sie ein besonderes Hobby: Helikopterfliegen. Wie kamen Sie dazu?
Während des ersten Lockdowns wegen Corona war es mir zeitweise ziemlich langweilig. Ich habe manchmal die halbe Nacht Fernsehen geschaut. So bin ich auf einen Dokumentarfilm der Air Zermatt gestossen. Als ich ihn sah, dachte ich: Wie cool ist das denn bitte?

Worauf Sie dachten: Das muss ich auch tun!
Die Fliegerei hat mich schon immer fasziniert. Ich bin als Kind schon immer gerne geflogen. Ich war viel in den Bergen. Meine Eltern waren oft auf Skitouren, erzählten mir viele Geschichten. Als ich dann diesen Helikopter sah, fasste ich den Entschluss: Ich versuche es einmal mit Schnupperfliegen. Das hat mich so gepackt, dass ich sofort wusste, ich will die Privatpilotenlizenz machen. Dann habe ich mir mein Bankkonto angeschaut, weil so ganz billig ist das ja nicht. Sagen wir es mal so: Die Prämien der Olympiamedaillen haben meine Entscheidung erleichtert.

Können Sie sich vorstellen, später beruflich zu fliegen?
Das habe ich mir schon überlegt. Die Vorstellung davon ist mega. Aber ich bin mir bewusst, dass dies auch wieder eine riesige Verpflichtung nach sich zieht. Aber das ist noch weit weg. Zunächst einmal bleibe ich bei meiner Karriere als Sportlerin. Wenn diese einmal vorbei ist, gibt es eine Pause. Und erst dann entscheide ich, wie es weitergeht. Sagen wir es so: Helikopterpilotin zu werden, wäre ein Traum – aber es ist noch kein Ziel.

Aber der Weg zur Privatpilotenlizenz ist aufgegleist?
Genau. Die neun Theorieprüfungen habe ich absolviert und bestanden. Jetzt fehlt noch die praktische Prüfung. Vielleicht nehme ich mir irgendwann im Herbst die Zeit dafür. (aargauerzeitung.ch)

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quelle: keystone / mosa'ab elshamy)
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