Rennsport-Dramatik pur: Unmittelbar nach dem Start zum Supersport-WM-Lauf in Most (Tschechien) provoziert Can Öncü einen Sturz mehrerer Fahrer. Er wird dafür mit einer Boxendurchfahrt bestraft.
Auch Titelverteidiger Dominique Aegerter gehört zu den fünf Piloten, die aus dem Sattel purzeln. Er kann das Rennen nicht mehr fortsetzen.
Was nun? Der Rohrbacher taumelt, fällt hin und bleibt liegen. Eigentlich wäre jetzt die rote Flagge – Rennabbruch, Neustart – logisch: Ein Fahrer liegt noch schwer angeschlagen in der Gefahrenzone, womöglich muss ein Rettungsfahrzeug über die Piste hinfahren. Aber statt der roten Flagge gibt es die rote Karte für Dominique Aegerter.
Der Titelverteidiger hat nämlich nur simuliert, um einen Rennabbruch und Neustart herbeizuführen. Wie ein Stürmer, der im Strafraum mit einer Schwalbe einen Penalty herausholt.
Das Rennen geht weiter, Aegerters Rivale Lorenzo Baldassarri gewinnt und der Schlaumeier aus Rohrbach sitzt in der Falle: In der Supersport-WM werden am Wochenende zwei Rennen ausgetragen. Eines am Samstag, eines am Sonntag.
Besteht Dominique Aegerter nun auf eine Gehirnerschütterung, dann wird er für den nächsten Tag als «unfit» erklärt und darf nicht an den Start. Also überzeugt er die zuständigen Medizinmänner am Sonntagmorgen davon, dass er fit ist und alles nur Show war, um einen Rennabbruch zu erwirken. Und tatsächlich: Er wird für «fit» erklärt. Er kann fahren.
Aber der Fall landet bei der Rennjury mit Antonio Lima, Arjan van Eekelen und Matej Smrz. Eine gute Stunde vor dem Rennen am Sonntag bekommt Aegerter von den drei Herren die rote Karte: Er hat ja selbst zugegeben, dass er simuliert hat. Sein unsportliches Verhalten ist also zweifelsfrei erwiesen und er wird mit Startverbot fürs Rennen – der Höchststrafe – belegt.
Ein einmaliger Fall, den es so noch nie gegeben hat. Ist Dominique Aegerter nun einer Verschwörung zum Opfer gefallen? Wie im letzten Jahr, als ihm nach einem waghalsigen, aber korrekten Überholmanöver in der letzten Runde des letzten Rennens im Batterie-Titelkampf (Moto E) Sieg und Titel gestohlen worden sind? Oder wie damals, als ihm 2017 wegen eines angeblich illegalen Getriebeöl-Zusatzes während des Trainings (!) der GP-Sieg in Misano (vor Tom Lüthi) aberkannt wurde?
Natürlich: Die Versuchung für die Jury war gross: Aegerter hatte neun Rennen in Serie gewonnen und die Supersport-WM drohte langweilig zu werden. Mit einer Sperre konnte sie seinen zweiten «Nuller» herbeiführen und die Spannung zurückbringen. Und tatsächlich hat Verfolger Baldassarri beide Rennen gewonnen und den Rückstand auf den Schweizer im Gesamtklassement von 64 auf lediglich noch 14 Punkte reduziert. Die Spannung ist zurück.
Aber es ist keine Verschwörung und kein Skandal. Es ist die gerechte Strafe für «Schummel-Domi». Denn: Im Fussball mag eine Penalty-Schwalbe eine lässliche Sünde sein. Aber im Motorsport ist das, was Dominique Aegerter getan hat, eine Todsünde. Es gehört zu den ersten Dingen, die ein Rennfahrer lernt: Nach einem Crash sofort die Sturzzone verlassen. Sofern das gesundheitlich noch möglich ist. Simulieren und Liegenbleiben bringen auch Gegner, Streckenposten und medizinisches Personal in Gefahr. Die Sturzzone ist eine Todeszone. Nachsicht für Sünder in dieser Zone darf sich eine Jury nicht leisten. Es geht um Leben und Tod. Dominique Aegerter hat sich in der Todeszone einen Lausbubenstreich geleistet.
Eigentlich erklärt uns dieses Drama seine Karriere: Er hat vom Dorf Rohrbach aus die Töffwelt erobert und behauptet sich dort seit Jahren, weil er alles gibt, alles versucht, nie kapituliert. Mutig, schlau – aber manchmal nicht smart genug.
Das sieht er inzwischen ähnlich, was ihn sympathisch macht. Aber er bittet um Verständnis: «Du hast neun Rennen hintereinander gewonnen und kannst mit zehn Siegen einen neuen Rekord aufstellen und du kämpfst um den Titel. Du bist am Start voller Adrenalin und dann kommt ein Sturz und du musst tatenlos zusehen, wie die anderen davonfahren. Dann versucht man eben alles, was möglich ist. Ja, ich bin liegen geblieben, obwohl ich nichts hatte, und das war falsch. Es tut mir leid, dass ich andere in Gefahr gebracht habe.»
"I did not act correctly & made mistakes" 🎙
— WorldSBK (@WorldSBK) August 1, 2022
Following his #WorldSSP Race 1️⃣ crash & subsequent Race 2️⃣ ban, @DomiAegerter77 issued an apology for the events at Autodrom Most 📃
📰 | #CZEWorldSBK https://t.co/Wrn9jZJ3vZ
Er akzeptiere die Strafe und weder er noch sein Team hätten dagegen rekurriert. Wofür die Zeit wohl ohnehin nicht mehr gereicht hätte. «Aber nicht fahren zu dürfen, obwohl man könnte, ist die härteste Strafe für einen Rennfahrer. Ich brauche schon noch ein paar Tage, bis ich das alles verarbeitet habe.»
Dominique Aegerter war mutig und schlau, aber nicht smart. Nicht smart, weil Yamaha in den nächsten Tagen entscheidet, welche vier Piloten in der Superbike-WM 2023 eingesetzt werden, und der Rohrbacher aspiriert auf einen dieser vier Plätze. Die Superbike-WM ist die Königsklasse dieser Szene, die Supersport-WM «nur» die zweithöchste Kategorie.
Aegerter hat nun in 31 Rennen in der Supersport-WM 26 Podestplätze (davon 19 Siege) herausgefahren. Eigentlich wäre sein Aufstieg in die Superbike-WM aus sportlicher Sicht trotz seines Alters (er wird im September 32 Jahre alt) zwingend. Aber als Schweizer kommt er aus einem unbedeutenden Markt. Und nun hat er mit seiner Schlaumeierei Yamaha ein weiteres Argument geliefert, ihn nicht zu berücksichtigen.
Aber eigentlich wäre es besser, wenn er in der Supersport-WM bleibt: Ein Aufstieg in die Superbike-WM wäre zwar gut fürs Ego und für das Ansehen in der Biker-Szene. Aber nicht smart: Dominique Aegerter kann seine Medienpräsenz und seinen Werbewert ausserhalb der GP-Szene nur als Sieger und Weltmeister aufrechterhalten. Fährt er in der Superbike-WM auf Platz 5 oder 6, ist das ausserhalb der Töffszene noch so interessant wie ein umgefallenes Töffli am Hauptbahnhof von Peking.
So oder so: Dominique Aegerter hat wieder einmal für Gesprächsstoff gesorgt, seinen unbedingten Siegeswillen demonstriert und seinen Kultstatus gepflegt. Das ist so viel wert wie ein Sieg in einem Supersport-Rennen.
ich finde simulieren sowas von unsportlich - auch im Fussball müssten Schwalben rigoros sanktioniert werden!
bei der ultimativen Gentlemen-Sportart (Snooker) ist das Gegenteil der Fall: da meldet der fehlbare Spieler ggf selbst (!) ein begangenes Foul! und selbst wenn er deswegen den WM-Final verliert!!
da kann ich ab Simulanten echt nur den Kopf schütteln - Adrenalin hin oder her! 🤦🏼♂️