Die USA sind der klare Favorit beim olympischen Basketball-Turnier der Männer, daran gibt es keine Zweifel. Schliesslich haben sie ein Team voller NBA-Superstars. Ebenso klar ist, dass alles andere als die Goldmedaille eine Enttäuschung für die US-Amerikaner wäre. Seit sie 1992 erstmals mit NBA-Profis – Stichwort Dream-Team – angetreten sind, haben sie bei Olympischen Spielen bis auf das Jahr 2004 immer triumphiert.
In Paris droht den US-Basketballern, die mit ihren hervorragenden Einzelspielern eigentlich das Prädikat «Dream-Team 2.0» verdient haben, aber ein Albtraum. Zumindest erscheint ein Verpassen der Goldmedaille in den bevorstehenden zwei Wochen so wahrscheinlich wie wohl noch nie. ESPN-Experte Zach Lowe sprach in seinem Podcast davon, dass er sich in der Frage «USA gegen den Rest» zwar immer noch für seine Landsleute entscheiden würde, ihm der Entscheid aber sehr schwerfalle. «Ich sehe die Chancen in etwa bei 51 zu 49 Prozent für die USA», so der Fachmann.
Nach den schwachen Auftritten mit einem knappen 101:100-Sieg gegen Aussenseiter Südsudan und einem 92:88-Erfolg gegen Weltmeister Deutschland äusserten auch andere Experten und Fans Zweifel und Kritik. Mit solchen Leistungen werde es gegen andere Titelkandidaten wie Frankreich oder Serbien schwierig, so der Tenor.
In den von NBA-Stars wie Victor Wembanyama oder Nikola Jokic angeführten Konkurrenten liegt auch einer der Gründe dafür, dass die USA es in diesem Jahr möglicherweise so schwer wie noch nie haben werden, Gold zu holen. Insgesamt 61 Profis aus der besten Basketball-Liga der Welt treten bei den Olympischen Spielen 2024 für andere Länder als die USA an, 1992 waren es noch ganze neun. Ausserdem befinden sich diese Spieler heute auf einem ganz anderen Niveau.
Mit Serbiens Jokic und Griechenlands Giannis Antetokounmpo spielen zwei NBA-MVPs bei europäischen Teams, Kanada kann in Shai-Gilgeous Alexander ebenfalls auf einen der besten Spieler der Welt zählen. Ganz einfach: Der Rest der Welt hat aufgeholt – und zwar stark.
Spieler wie Anthony Edwards (22 Jahre), Jayson Tatum (26), Devin Booker (27) oder auch der gebürtige Kameruner Joel Embiid (30) sind Teil des US-Kaders. In der NBA sind sie alle Stars ihres Teams, im Nationalteam schauen sie in den entscheidenden Phasen aber immer noch alle zu LeBron James, wie Fred Katz von «The Athletic» besorgt bekundet. «Wenn sie ihn am meisten brauchen, wenden sich die Spieler immer noch alle an LeBron James, obwohl er fast 40 Jahre alt ist», so Katz. Es sei immer noch James' Team «und das ist unglaublich».
LEBRON JAMES WINS IT FOR #USABMNT ‼️ pic.twitter.com/IHdQBZVB87
— NBA (@NBA) July 20, 2024
Dies wurde in der Schlussphase sowohl gegen Südsudan als auch gegen Deutschland offensichtlich. In beiden Tests erzielte er die entscheidenden Punkte, spielte seine Rolle danach aber herunter. «Wir haben eine grossartige Truppe, jeder wird seinen Moment haben», so der 39-Jährige.
Sein Mitspieler Embiid sieht das jedoch etwas kritisch. So sagte er, dass die Fans sich von den Namen blenden lassen würden. Viele der US-Stars seien nicht mehr in ihrer Blütezeit. «So dominant LeBron vor einigen Jahren war, er ist nicht mehr ganz derselbe», so der Center der Philadelphia 76ers. Auch Stephen Curry (36), Kevin Durant (35) und Jrue Holiday (34) haben den Zenit überschritten.
Ein weiteres Problem liegt darin, dass die USA, anders als viele andere Nationen, nur zu Olympischen Spielen ihr bestmögliches Team stellen. So hat das aktuelle 12-Mann-Kader vor dem ersten Testspiel vor gut zwei Wochen noch nie in dieser Konstellation zusammengespielt. Deutschland, Serbien – abgesehen von Nikola Jokic – oder auch Kanada holten hingegen schon im letzten Jahr an der WM mit den grösstenteils gleichen Teams die Medaillenplätze.
Tim Legler, Ex-Profi und heutiger Experte, glaubt deshalb: «Wir können nicht mehr einfach davon ausgehen, dass unser Team nur aufgrund des höheren Talentlevels leichtes Spiel haben wird.» Basketball benötige Rhythmus und Kontinuität, was in solch kurzer Zeit sehr schwierig zu finden sei. Dies unterscheide die USA in Leglers Augen von den anderen Nationen: «Diese spielen Basketball wie ein echtes Team und nicht wie eine Ansammlung von All-Stars.»
Obwohl die USA in Stephen Curry den besten Schützen der Geschichte in ihren Reihen hat, hat das Team von Trainer Steve Kerr ein echtes Wurfproblem. Gegen Deutschland nahmen die Amerikaner nur 17 Würfe von hinter der Dreierlinie – obwohl diese an Olympischen Spielen knapp einen halben Meter näher am Korb ist. Gegen den Südsudan waren es zwar 28, doch fanden nur miserable 25 Prozent ihr Ziel. Das ist bisher eine grosse Schwäche der USA, die nicht nur offensiv Probleme mit Distanzwürfen aufweist.
Denn auch in der Defensive offenbarte die USA in den letzten beiden Spielen Schwächen bei Distanzwürfen. Gerade Deutschlands Andreas Obst, der von Curry nach dem Spiel ein Sonderlob erhielt, kam immer wieder zu freien Würfen und traf fünf seiner elf Dreier. Während die Verteidigung am Korb hervorragend ist, ist die USA gegen starke Schützen also angreifbar.
Trotz all dieser potenziellen Stolpersteine ist es immer noch die USA. Wenn es «klickt» – wie beim 105:79-Erfolg gegen Serbien vor gut einer Woche –, sind James, Curry und Co. unaufhaltsam. Ausserdem ist zu erwarten, dass die US-Stars sich während der Spiele in Paris je länger, desto besser einspielen und dann das erwartet starke Team sind. Die Chemie zwischen James und Curry stimmt schon jetzt, obwohl sie noch nie in einem Ernstkampf zusammengespielt haben.
Mit Kevin Durant hat der Trainer-Staff um Kerr und Erik Spoelstra noch eine weitere Waffe in der Hinterhand, die bisher nicht zum Einsatz kam. Der offensiv wie defensiv herausragende 2,11-Meter-Mann laboriert noch an einer Verletzung, könnte aber bald zurückkehren. Er ist der Rekordskorer von Team USA.
Mit oder ohne ihn gilt weiterhin: Die USA ist der klare Favorit. So sagt nun auch ESPN-Experte Lowe trotz der zuletzt schwächeren Auftritte: «Ich sehe die Wahrscheinlichkeit für einen US-Triumph nun bei über 60 Prozent.» «Ausserdem», pflichtet ihm Katz von «The Athletic» bei, «werden wir die Probleme aus den Spielen gegen Südsudan und Deutschland in den wichtigen Partien nicht mehr sehen.»
Weiterhin kommt den USA, die am Sonntag gegen Serbien (17.15 Uhr) ins olympische Turnier starten, die ansonsten eher einfache Gruppe entgegen. Die weiteren Gegner sind Testspiel-Gegner Südsudan (Mittwoch, 21 Uhr) und Puerto Rico (Samstag, 17.15 Uhr). Die ersten beiden kommen sicher weiter, ausserdem qualifizieren sich auch die zwei besten Dritten der drei Gruppen für die Viertelfinals.
Bis es also richtig ernst gilt, haben die USA noch Zeit. Ein einfaches Unterfangen wird die Mission Gold aber trotzdem nicht.